Nachricht | Arbeit / Gewerkschaften - Digitaler Wandel - Digitalisierung der Arbeit «Wir brauchen keine Datenanhäufung, sondern Datenkollektivierung!»

Wir sprachen mit dem Digitalisierungsforscher Jathan Sadowski über die Politik der Plattformen und den Widerstand gegen «allzu smarte» Technologien.

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Was sind «biopolitische Plattformen»? Was kann ein biopolitischer Ansatz zur Analyse digitaler Arbeit beitragen?

In unserer Arbeit zu den Bedingungen der Plattformarbeit und den Funktionsweisen des Plattformkapitalismus versuchen meine Mitarbeiterin Karen Gregory und ich nachzuzeichnen, wie Plattformen – in unserem Beispiel Deliveroo, doch es geht auch um Plattformen im Allgemeinen – eine Form von biopolitischer Macht über Plattformarbeiter*innen ausüben. Damit meinen wir, dass Plattformen einen Mechanismus entwickeln und verwalten, um das Leben der Arbeiter*innen zu beherrschen und dadurch bestimmte Formen von Human-/Datenkapital zu erzeugen und zu akkumulieren. Bevor ich näher auf diese verschiedenen Kapitalformen eingehe, kommen wir zunächst zur Frage: Was ist Biopolitik? Kurz gesagt ist Biopolitik, so wie Michel Foucault sie definiert, die Anwendung von Macht, um das Leben als solches zu beherrschen, sowohl auf der Ebene einzelner Körper als auch von Bevölkerungen. Biopolitik dreht sich also darum, individuelle Menschen in eine abstrakte, kollektive Bevölkerung zu transformieren, die mittels berechnender Verfahren überwacht und gesteuert werden kann. Wir argumentieren, dass das biopolitische Potenzial in unserem digitalen, datengesteuerten, vernetzten Zeitalter fortbesteht, wenn nicht gar gestiegen ist. Biopolitik findet heutzutage materiellen und symbolischen Ausdruck in den Datenbanken und Algorithmen, die eingesetzt werden, um Informationen über Menschen zu sammeln, um Profile über sie zu erstellen, sie zu kategorisieren und Entscheidungen über ihr Leben zu treffen. Plattformen stellen daher einen besonders wichtigen und einflussreichen Mechanismus zur Ausübung von Biomacht dar.

Jathan Sadowski ist Research Fellow am Emerging Technologies Research Lab der Fakultät für Informationstechnologie an der Monash University (Melbourne, Australien). In seiner Forschung beschäftigt er sich kritisch mit der Technopolitik datengesteuerter, vernetzter und automatisierter Systeme und Räume. Sein neues Buch – Too Smart: How Digital Capitalism is Extracting Data, Controlling Our Lives, and Taking Over the World – erscheint im März 2020 bei MIT Press.

Auf portugiesisch erschien das Interview auf der Webseite DigiLabourÜbersetzung: Utku Mogultay & Tabea Magyar für Gegensatz Translation Collective.

Erst mit einem biopolitischen Ansatz können wir kritisch nachvollziehen, wie Plattformen ihre Beschäftigten nicht bloß ausbeuten, etwa indem sie sie unterbezahlen und als prekäre «Auftragnehmende» behandeln. Wir können damit auch sehen, auf welche Art und Weise Plattformen Leute dazu drängen, bestimmte Typen von Menschen mit bestimmten Eigenschaften zu sein, die dann wiederum noch vorteilhafter für das technoökonomische Modell und das Leitbild der Plattformen sind. Anders gesagt stehen Plattformen nicht bloß für eine Form der Arbeitsorganisation, sondern auch für eine Regulierung des Lebens.
 

Ihr sprecht von den drei «perversen Tugenden» Flexibilität, Vitalität und Lesbarkeit. Kannst du uns das näher erklären?

In unserer Skizze zur Biopolitik der Plattformen beschreiben Karen und ich drei «perverse Tugenden», zu denen die Plattformen ihre Beschäftigten anspornen. Dieser Begriff hat sich aus den Interviews heraus entwickelt, die Karen mit Deliveroo-Fahrer*innen in Edinburgh geführt hat. Statt von Wissen oder Fähigkeiten sprechen wir von Tugenden, da sie mehr mit persönlichen Eigenschaften und Verhaltensweisen und zwischenmenschlichen Beziehungen zu tun haben. Die ethische Komponente des Begriffs betont zudem, dass es bei der Verwirklichung dieser Tugenden nicht nur um Produktivitätssteigerung geht, sondern auch darum, ein «besserer» Mensch im Sinne des Leitbilds der Plattform zu sein. Wir nennen sie aber auch pervers, weil diese Eigenschaften, Verhaltensweisen und Beziehungen aus Sicht der Plattformen tugendhaft sind. Man nimmt Tugenden, die an sich erstrebenswert klingen, wie zum Beispiel körperliche Leistungsfähigkeit oder Selbstverantwortung, und verdreht sie dann so, dass sie der Plattform nutzen und zulasten des Wohlergehens der Arbeiter*innen gehen.

Die erste Tugend, die wir untersuchen, ist «Flexibilität». Plattformen wie Deliveroo werben oft mit dem Versprechen von Flexibilität – d.h. der Möglichkeit, «der eigene Boss sein zu können» und Arbeitszeiten frei zu wählen –, um die Leute so zu ködern. Es klingt dann, als sei diese Arbeit ein einfacher Weg, schnell Geld zu verdienen, während man anderen Dingen nachgehen kann, z.B. einem Studium oder der Kindererziehung. Doch das Streben nach Flexibilität kann schnell zur Terminfalle werden, die einen psychisch und körperlich auslaugt. Die Fahrer*innen machten die Erfahrung, dass sie immer verfügbar sein mussten, um genug Geld zu verdienen oder die für sie passenden Schichten zu bekommen. Obwohl Flexibilität natürlich auch ein Schritt hin zu erhöhter Handlungsfähigkeit sein kann, erscheint sie – wenn die Leute von der Plattformarbeit als Einkommensquelle abhängig sind – weniger als Wahlfreiheit, sondern eher als Bereitschaft, ununterbrochen zu den Bedingungen der Plattformen arbeiten zu können.

Die zweite Tugend ist «Vitalität». Neben Flexibilität betonen Plattformen wie Deliveroo, für die Leute auf Fahrrädern in Städten Essen ausliefern, auch den Aspekt der Fitness, den sie quasi als Arbeitsbonus darstellen. Man wird «dafür bezahlt, Sport zu treiben», wie es in den Marketingkampagnen heißt. Und für viele Radfahrer*innen ist dieser potenzielle Nutzen auch etwas, das sie sehr schätzen, manchmal fast so sehr wie die Selbstbestimmung durch flexible Arbeit. Doch diese Arbeit erfordert auch, dass die Radfahrer*innen in die Instandhaltung sowohl ihrer Fährräder als auch ihrer Körper investieren. Oft stellen die Fahrer*innen fest, dass der Job körperlich belastender ist, als sie es erwartet hätten. Plattformarbeit verlangt, dass du körperlich und geistig einsatzbereit bist, sobald der Algorithmus deine Aufmerksamkeit und Kraft benötigt.  

Drittens haben wir die «Lesbarkeit», was ganz einfach heißt, dass die Fahrer*innen «maschinenlesbar» sein müssen. Sie haben sich einem algorithmischen Management zu unterwerfen, das sie ständig überwacht, bewertet und einstuft. Sie müssen einen kontinuierlichen Datenfluss über ihre Bewegungen im städtischen Raum generieren, während sie Abholungen und Auslieferungen erledigen. Und sie müssen konstant hohe Performance-Werte liefern, um den Anforderungen der Plattform zu genügen – anderenfalls droht ihnen der Ausschluss von der Plattform. Die von den Fahrer*innen generierten Daten – die eine Art Karte der logistischen Komplexitätsfaktoren hinsichtlich Navigation und Warentransport im städtischen Raum darstellen – sind dabei vielleicht sogar wertvoller als die eigentliche Arbeit der Essensauslieferung.
 

Inwiefern kann man «Daten als eine Form von Kapital» verstehen?

Daten sind eine Kernkomponente des heutigen Kapitalismus. Die Datafizierung der Welt – und die Art und Weise, wie diese Entwicklung den Handel und die Gesellschaft umwälzt – kann man durchaus als Schlüsselmerkmal unserer Gegenwart betrachten. Was die politische Ökonomie der Daten anbelangt, komme ich zu dem Schluss, dass Daten heute eine Form von Kapital sind, so wie Geld oder Produktionsmaschinen. Wenn wir davon ausgehen, dass Konzerne profitgesteuert sind, dann sind sie heute folglich datengesteuert. Eine wichtige Triebfeder ist für sie also, möglichst viele Daten zu sammeln und über diese zu verfügen. Deliveroo und seine riesige Sammlung von Fahrer*innen-Daten ist daher nur ein Beispiel unter vielen. Jeder Wirtschaftssektor, jede gesellschaftliche Institution ist mit Datenkapital zumindest in Berührung gekommen – wenn nicht schon der Schritt unternommen wurde, die Arbeitsabläufe dahingehend zu gestalten, dass man die Vorteile der Datensteuerung nutzen kann. Daten sind von zentraler Bedeutung für die Bereitstellung neuer Systeme und Dienstleistungen. Sie spielen für Unternehmen eine entscheidende Rolle, wenn es darum geht, aus Menschen, Orten und Prozessen mehr Profit zu schlagen – und um mehr Macht über sie auszuüben. Den Anforderungen dieses Daten-Imperativs nachzukommen, ist also eine treibende Kraft dahinter, wie das Kapital Technologien entwickelt und einsetzt.
 

Wie kann man sich «allzu smarten» Technologien widersetzen oder Alternativen dazu entwickeln?

Der erste Schritt dahin, etwas an diesen Technologien zu ändern oder ihre Auswirkungen abzumildern, ist im Grunde nicht besonders radikal – oder sollte zumindest nicht als radikal betrachtet werden. Wir müssen einfach die bereits bestehenden Gesetze, politischen Maßnahmen und Richtlinien auf die Tech-Unternehmen anwenden. Es ist mittlerweile glasklar, dass viele digitale Plattformen wie Uber und Airbnb permanent gesetzwidrig agieren. Ihr Geschäftsmodell basiert darauf, Richtlinien zu ignorieren, aufzuweichen und auszuhöhlen. Ihnen geht es einzig und allein um schnelle Expansion und Vergrößerung. Ihr Argument lautet dann: Wenn sie sich an die Regeln halten müssten, würde das ihr Wachstum bremsen oder gar ihre Existenz aufs Spiel setzen. Sie behaupten, diese Gesetze würden wie ein Hemmschuh auf Wirtschaft und Innovation wirken und würden Wachstum und Fortschritt verlangsamen. Doch Politik und Öffentlichkeit sollten sich von dieser eigennützigen Rhetorik nicht blenden lassen. Wir sollten dem ungezügelten Treiben dieser Tech-Unternehmen einen Riegel vorschieben. Sie sind dermaßen auf schnelles Wachstum und Disruption fixiert, dass es nun in unserer Verantwortung liegt, die Handbremse zu ziehen, bevor sie uns die Klippe hinunterstürzen.

Neben der Einhaltung bestehender Gesetze plädiere ich auch für radikalere Ansätze, um den politischen Rahmen smarter Technologien umzugestalten und eine bessere Welt zu schaffen. In meinem Buch gebe ich eine ausführliche Erklärung drei solcher Taktiken: die Demontage des Kapitals; die Demokratisierung von Innovation; und die Einforderung von Daten.    

Kurz gesagt ist die erste Taktik vom traditionellen Luddismus inspiriert. Es gibt heute einen zwanghaften Impuls, immer neue Geräte bauen zu müssen und auf den technologischen Entwicklungstand immer weitere Ebenen technischer Komponenten und Systeme zu stapeln. Natürlich brauchen wir alternative Technologien, aber wir müssen auch viele bereits existierende wieder abschaffen. Zahlreiche Technologien, die etwa dazu gedient haben, Überwachungs- und Kontrollregimes durchzusetzen, hätte man niemals entwickeln sollen – wir haben also eine Pflicht, sie aus der Welt zu schaffen. Die zweite Taktik beruht darauf, den Leuten mehr Macht zu geben, damit sie dabei mitreden können, wie, warum und für welchen Zweck neue Technologien entwickelt werden. Daher sollten wir Innovation auch nicht weiter als mystische Kraft betrachten, zu der nur eine Eliteklasse Zugang hat, sondern als zutiefst menschliches Streben, das allen zugutekommen sollte. Ein wirklich inklusiver Innovationsprozess würde bessere soziale und ökologische Ergebnisse liefern. Drittens brauchen wir Veränderungen am Eigentumsregime der Daten. Wie bereits gesagt gelten Daten als Form von Kapital, als Privateigentum, das von wenigen Großkonzernen angezapft, in Besitz genommen und eingesetzt werden kann, um Macht und Profit zu steigern. Wenn wir den digitalen Kapitalismus herausfordern wollen, müssen wir seine Substanz angreifen, und zwar, indem wir Daten entkommodifizieren und sie eine kollektive Ressource verwandeln, die im Interesse des Gemeinwohls verwaltet wird. Wir brauchen keine Datenanhäufung, sondern Datenkollektivierung! Das sind nicht die einzigen Taktiken, die wir beherzigen sollten, doch kombiniert bieten sie eine Möglichkeit, dem bestehenden System Widerstand zu leisten und alternative Pfade für die Gestaltung und den Einsatz von Technologien einzuschlagen – und uns schließlich der Smartness zu bemächtigen, um eine bessere Welt aufzubauen.