Nachricht | Parteien / Wahlanalysen - Afrika - Nordafrika - Algerien Algerien: Wahlen gegen Legitimität

Vieles deutet darauf hin, dass die Präsidentschaftswahlen in Algerien nur dazu dienen sollten, das alte System zu retten.

Information

Autor

Werner Ruf,

Wahlboykott-Aufruf am Wahltag in Algerien
Trotz der anhaltenden Proteste und Aufrufe zur Wahlenthaltung ließ die Militärführung am 12. Dezember wählen. Weit über die Hälfte der Bevölkerung ging nicht zu den Urnen. Algerien, 12. Dezember 2019, REUTERS/Ramzi Boudina

Am 12. Dezember 2019 fanden in Algerien Präsidentschaftswahlen statt. Davor gab es in diesem Jahr schon zwei Anläufe, einen Präsidenten zu wählen: Am 18. April sollte der seit 2013 durch mehrere Schlaganfälle im Jahre 2013 schwerstbehinderte und des Sprechens unfähige Abdelaziz Bouteflika zum fünften Mal wiedergewählt werden. Die Ankündigung seiner abermaligen Kandidatur führte am 22. Februar zu Massenprotesten von Millionen Algerierinnen und Algeriern. Aufgrund der Massenproteste, aber auch unter dem Druck der Armee, die sich vordergründig mit der Volksbewegung zu solidarisieren schien, ließ Bouteflika schließlich seinen Verzicht auf die Wiederwahl erklären. Am 2. April trat er zudem vorzeitig von seinem Amt zurück, das am 28. April formal geendet hätte. Seit diesem 22. Februar protestieren jeden Freitag Hunderttausende, wenn nicht Millionen im ganzen Land gegen das System.

Der Politwissenschaftler und Soziologe Werner Ruf war bis 2003 Professor für Internationale und intergesellschaftliche Beziehungen und Außenpolitik an der Universität Kassel. Er ist Mitglied der AG Friedensforschung an der Universität Kassel sowie Vertrauensdozent der Rosa-Luxemburg-Stiftung. 

Macht und Korruption

Nahezu die gesamten Staatseinkünfte des Landes stammen aus dem Export von Erdöl und Erdgas. Rd. 90 Prozent der Grundnahrungsmittel und fast die Gesamtheit der Pharmazeutika und Gebrauchsgüter müssen importiert werden. Eine an den Bedürfnissen der Bevölkerung orientierte oder auf Autarkie zielende Industrialisierung hat nicht stattgefunden. Die Staatseinnahmen – und damit die Fähigkeit zur Subventionierung von Grundbedürfnissen (Grundnahrungsmittel, Wohnungsbau, Infrastruktur) – sind seit 2014 aufgrund des sinkenden Öl- und Gaspreises drastisch zurückgegangen.

Die – notwendigen – Importe laufen über wenige vom Staat lizensierte Agenten, oft Familien hoher Militärs, die die Preise nach Gutdünken festsetzen. Die Vergabe von Großprojekten in der Erdöl- und Erdgasförderung (Bau von Pipelines und Raffinerien) an ausländische Konzerne ist begleitet von der Zahlung gewaltiger Schmiergelder, ebenso der Bau von Großprojekten wie Autobahnen und der projektierten U-Bahn in Algier. Korruption ist auch ein wesentliches Element  beim Kauf von Rüstungsgütern, wobei Deutschland ein wichtiger Lieferant ist.

Da im Lande selbst kaum etwas produziert wird, liegt die Arbeitslosigkeit bei 17 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit bei 50 Prozent. Um die großen Städte haben sich Slums mit vielen Millionen Bewohnern gebildet. Die mit schweren Strafen belegte Flucht über das Mittelmeer in Richtung Europa hat schon vor drei Jahrzehnten begonnen und wächst weiter.

Die Nationale Volksarmee war schon immer Rückgrat des Staates. Seit der Unabhängigkeit (1962) kamen sämtliche Präsidenten aus der Armee oder wurden mit deren Zustimmung gewählt. Doch erhebt sich die Frage, ob die Armee noch immer ein monolithischer Block ist. Schon Ende Januar 2019, lange vor den Massendemonstrationen, waren 13 führende Offiziere verhaftet worden. Das Organ der Armee, el djeisch, veröffentlichte Ende Februar einen sehr ambivalenten Leitartikel über die Verantwortung der Armee gegenüber dem Volkswillen. Als die großen Massendemonstrationen begannen, schoss die Armee nicht (wie 1988), die Demonstranten riefen in Sprechchören «el djeisch wa esh-shaab – khawa, khawa» («die Armee und das Volk sind Brüder!»).

Doch diese scheinbare Solidarität hatte schnell ein Ende. So ernannte der Präsident, zweifelsohne im Konsens mit dem Militär, unmittelbar vor seine Abdankung ein neues Kabinett – aus den alten Kadern. Der Oberkommandierende der Armee und stellvertretenden Verteidigungsminister Gaid Salah setzte für den 4. Juli neue Präsidentschaftswahlen an. Es ging also offenbar um die Wahrung der Kontinuität des alten Systems, das reduziert war um einige Clans der alten ausbeuterischen Herrschaft. Vor allem sollte die alte Verfassung bleiben, die die juristische Grundlage für das alte System bildet. Der Aufstand des Volkes (Hirak, von arab. Haraka «sich bewegen») blieb unerschütterlich und bewirkte, dass auch dieser Wahltermin abgesagt werden musste.

Die Militärführung nutzte die Gunst der Stunde, um sich gegenüber dem Volk als Saubermann zu präsentieren und zugleich jene Teile des alten Clans auszuschalten, die die Auseinandersetzung um die Macht verloren hatten: Verhaftet wurden Bouteflikas Bruder Said, der allgemein als führender Kopf des Clans galt, Dutzende führende Unternehmer und Politiker, hohe pensionierte Militärs, die am Tag der Jahreswende 1991/92 die freien Wahlen abgebrochen und mit ihrem Putsch den zehnjährigen Bürgerkrieg ausgelöst hatten, in dessen Verlauf etwa 200 000 Menschen umgebracht wurden. Mittlerweise hat die algerische Justiz Verfahren wegen Korruption und Devisenvergehen eingeleitet, der algerische Luftraum wurde für Privatflüge innerhalb des Landes und ins Ausland geschlossen, 150 Personen wurden mit einem Ausreiseverbot belegt, die beiden Brüder Bouteflikas stehen unter Hausarrest. Das Volk aber demonstriert weiter gegen «das System», dessen Teil die Armee zumindest war. Das rigorose Vorgehen der Justiz mag auf den ersten Blick als endlicher Akt der Rechtsstaatlichkeit erscheinen und soll es wohl auch. In Wirklichkeit zeigt dies allerdings, wie sehr die Justiz gleichgeschaltet ist und nun dem Kommando des Militärs untersteht.

All diese Maßnahmen ließen den Hirak unbeeindruckt, der seine Protestaktionen mit Hunderttausenden, ja Millionen Teilnehmern und Teilnehmerinnen jeweils am Freitag landesweit fortsetzte, der Protest weitete sich sogar immer mehr aus: Zunehmend beteiligten sich Gewerkschaften, Anwälte, Richter. Nach einer willkürlichen Versetzungswelle von Richtern, traten diese in einen Streik. Zahlreiche Bürgermeister weigerten sich, die technischen Vorbereitungen für die Wahlen am 12. Dezember zu treffen. In den Tagen vor der Wahl nahm die Repression drastisch zu: Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen wurden mehr als tausend Personen verhaftet, mindestens 200 verurteilt.

Neben dieser wachsenden Repression demonstrierte das vom Militär beherrschte System seinen Willen zum Kampf gegen die Korruption: Pünktlich zwei Tage vor der Präsidentenwahl wurden mehrere hohe Funktionäre und Günstlinge des Bouteflika-Clans, darunter zwei ehemalige Ministerpräsidenten, zu vieljährigen Haftstrafen verurteilt.

Trotz der anhaltenden Proteste und Aufrufe zur Wahlenthaltung ließ die Militärführung am 12. Dezember wählen. Die Wahlbeteiligung lag laut der offiziellen Wahlkommission bei knapp 40 Prozent – 10 Prozent weniger als bei der vorhergehenden 4. Wiederwahl Bouteflikas. Neutrale oder internationale Wahlbeobachter gab es nicht. Daher scheint die Wahlbeteiligung hoch gegriffen, andererseits dürfte bei ihrer Festsetzung das Regime durchaus auf die Stimmung der Bevölkerung eingegangen sein, um dem Ergebnis eine gewisse Glaubwürdigkeit zu verschaffen. Welche Legitimität besitzt aber der gewählte Präsident, wenn – selbst nach offiziellen Angaben – bei Weitem nicht einmal die Hälfte der Bevölkerung zu den Urnen ging?

Zur Wahl standen insgesamt fünf Kandidaten: Zwei ehemalige Ministerpräsidenten, zwei ehemalige Minister und der Führer einer als gemäßigt geltenden islamistischen Partei. Sieger war mit 58 Prozent der Stimmen der ehemalige Ministerpräsident Abdelmajid Tebboun. Der ehemalige Ministerpräsident Ali Benflis, der es in der vorangegangenen Präsidentschaftswahl gewagt hatte, Bouteflika herauszufordern, und der deshalb allgemein als Favorit galt, erhielt ganze 10,5 Prozent.

Diese Wahl wurde durchgeführt gegen den Willen der überwiegenden Mehrheit des Volkes.

Formal hat der neue Präsident durchaus eine gewisse Legitimität. Politisch ist diese Wahl jedoch alles andere als eine Lösung des Konflikts. Diese Wahl wurde durchgeführt gegen den Willen der überwiegenden Mehrheit des Volkes. Selbstverständlich hat der neue Präsident versichert, dass er dem Hirak die Hand reichen wolle – jedoch: Ist es seine Hand? Wo ist die Hand des Oberkommandierenden? Der neue Präsident muss sich an seinen (oder den von ihm tolerierten) Taten messen lassen. Schon am Tag nach der Wahl ging das System in Oran, der zweitgrößten Stadt des Landes, mit ungeheurer Brutalität gegen die Freitagsdemonstration vor: Augenzeugen berichten von mehr als hundert Verhaftungen, einer Vielzahl von Verletzten. Dies deutet darauf hin, dass die «neue Legitimität» nur dazu dienen soll, das alte System zu retten und die vom Hirak geforderte politische Lösung, den Abschied vom alten System, zu verhindern.

Die algerischen Proteste reihen sich ein in die Aufstände, die im Sudan zum Sturz von Omar Bachir führten, im Irak mit größter Brutalität bekämpft werden, im Libanon die Abschaffung des alten konfessionellen Systems fordern, selbst im ultrarepressiven Ägypten zu Aufständen geführt haben. Der Herbst 2019 erscheint so als neue Welle des «arabischen Frühlings» von 2011, der es, außer in Ansätzen in Tunesien, nicht vermochte, die korrupten autoritären Strukturen zu beseitigen. Ohne wirkliche Demokratisierung wird die arabische Welt nicht zur Ruhe kommen. Der friedliche Aufstand der Massen in Algerien könnte hier eine zusätzliche Fanalwirkung haben.