Nachricht | Geschlechterverhältnisse - Andenregion «Schuld war nicht ich oder was ich anhatte»

Eine Performance chilenischer Frauen gegen sexuelle Gewalt wird weltweit aufgegriffen.

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Cometa, Sibila, Lea, Dafne sind das Kollektiv LasTesis. Foto: Victoria Pinto

Videos, Nachrichten und Memes eines Rhythmus, der aufrüttelt. «Un violador en tu camino» (dt. Ein Vergewaltiger in deinem Weg) verbreitet sich wie ein Lauffeuer in den sozialen Netzwerken und macht sexuelle Gewalt erneut zu einem Gesprächsthema in der breiten Öffentlichkeit. Eine Begegung mit LasTesis, den vier Frauen, die das Stück geschaffen haben.

Nach dem Internationalen Tag zur Beseitigung der Gewalt gegen Frauen (25. November) klang es aus allen sozialen Netzwerken: «…y la culpa no era mía, ni dónde estaba ni cómo vestía» (…und schuld war nicht ich oder wo ich war oder was ich anhatte). Auslöser war der zweite Auftritt des Kollektivs LasTesis in Santiago, der Hauptstadt des Chiles, wo seit dem 18. Oktober gegen korrupte Eliten und soziale Ungleichheit protestiert wird. Mehr als zweihundert Frauen nahmen an der Performance teil. Mittlerweile wird sie von Tausenden Frauen* auf der ganzen Welt aufgegriffen.

Dafne Valdés Vargas, Sibila Sotomayor Van Rysseghem (darstellende Künstlerinnen), Paula Cometa Stange (Designerin und angehende Geschichtslehrerin) und Lea Cáceres Díaz (Kostümbildnerin) bilden das Kollektiv. Wir treffen sie in ihrer Heimatstadt Valparaíso, einer Hafenstadt keine zwei Autostunden von Santiago entfernt, um über den Boom zu sprechen, den ihre Intervention ausgelöst hat.

Inspiration durch Silvia Federici und Rita Segato

2018 kamen sie für ihre erste Performance zusammen. Von Beginn an wussten sie, was sie wollten: «Wir alle haben dieselben Beweggründe: eine wichtige Nachricht übermitteln, das Patriarchat zerschlagen», sagt Lea. «Caliban und die Hexe», ein Text der italienischen Feministin Silvia Federici, war die Grundlage für ihre erste Performance, in der sie Visuals, Musik, Text und Körper miteinander vereinen. Uraufgeführt beim Frauentheaterfestival Gesta in Valparaíso und von dort weitergetragen in verschiedene künstlerische und akademische Räume, Partys und ins Schauspielhaus von Valparaíso. Sogar in einem Friseursalon traten sie auf, um unkonventionelle Szenarien zu erkunden.

Zu Beginn dieses Jahres studierten sie das Werk der argentinischen Anthropologin Rita Segato, um über die Entmystifizierung der Vergewaltigung zu sprechen. Eine der Prämissen der Autorin ist, dass Vergewaltiger auf das «soziale Mandat der Korrektur» antworten: «Der Mythos, dass der Vergewaltiger jemand ist, der seine sexuelle Lust befriedigen will, muss gebrochen werden. Er agiert nämlich aus anderen Beweggründen. Zum Beispiel will er die ungehorsame Frau oder die disidencia, die ihren angestammten Platz verlässt, mit einer Vergewaltigung bestrafen», kommentiert Dafne die Texte von Segato. Disidencias sind all jene, deren nicht-hegemonische Identität ein Politikum ist, wie es in aktivistischen Kreisen der LGBTQIA+ Community der Fall ist. «Das Thema ist sehr sichtbar im aktuellen Kontext einer allumfassenden Straffreiheit.» ergänzt Sibilia.

Eigentlich wollten sie ihr zweites Stück im Oktober aufführen. Der Massenaufstand verhinderte die geplante Aufführung. Das bedeutet aber nicht, dass LasTesis ihre Botschaft für sich behalten. Sie schließen sich »Fuego: acciones en cemento» (Feuer: Aktionen auf Asphalt) an – einem Zusammenschluss verschiedener Künstler*innen in Valparaíso, die von Dienstag bis Samstag Interventionen als Form des Protestes aufführen. Am 21. November feierte «Un violador en tu camino» als Teil ihres Stückes auf den Straßen der Hafenstadt Premiere. 

«In dieser These gibt es einen verspielten Teil – theoretischer Pop… Das ist der Teil, der in den Köpfen hängen bleibt», erzählt Lea und Dafne fügt hinzu: «Das Lied «Der Vergewaltiger warst du» war wie das Rückgrat». Mittlerweile bekommen sie im Minutentakt Mails und Nachrichten mit Videos aus Mexiko, Deutschland, Frankreich und Kolumbien. Immer mehr Frauen* erheben ihre Stimme. 

«Wir wissen nicht, warum das so gut ankommt. Aber letztendlich sind es alle Vergewaltigungen, Femizide und ekligen Anmachsprüche zusammen. All das steckt da drin. Und dass in einem Teil auch die Richter und der Staat gemeint sind, richtet sich direkt an die Institutionen, die erlauben, dass Gewalt und insbesondere Gewalt gegen Frauen* einfach wieder und wieder geschieht,» analysiert Cometa, «Die Botschaft ist so global, deshalb ist sie die Botschaft von allen. Denn auch disidencias haben schon immer viel Gewalt ertragen müssen.»

In den sozialen Medien gibt es aber nicht nur Zuspruch und Solidarität. Die Frauen erzählen, dass sie auch viel Hass und Vergewaltigungswünsche zugeschickt bekommen. «Eine Freundin hat mir die Tweets von einem Mann und einer Frau geschickt mit mehr als 50 Posts. Viele haben das gemeldet und am Ende wurde es gelöscht.», berichtet Sibila. 

In Bezug auf die unterstützenden Kommentare von Männern wünscht sich Lea, dass aus der Unterstützung neue Definitionen von Männlichkeit entwickelt werden. Männlichkeiten, «die den Machismo nicht mehr aufrechterhalten. Das wäre die beste Unterstützung.» Sie sehen sich keine Kommentare mehr an.

Prekäre Verhältnisse

«Es gibt viele Leute, die denken, LasTesis haben sich die Lieder von heute auf morgen ausgedacht. In Wirklichkeit haben wir sie in einem Jahr intensiven Studiums entwickelt», sagt Sibila. «Es ist ein sehr nerdiger Prozess», urteilt Cometa. Er begann mit intensiven Recherchen und Untersuchungen, dem Schaffen und Produzieren. Dann die Organisation von Locations - und am Ende wird sehr wenig verdient. Wie geht es ihnen jetzt – mitten in dieser sozialen Explosion und in dem Wissen, dass wir in einem Land leben, in dem für den Eintritt zu Kulturereignissen keine zweitausend Pesos (umgerechnet 2,35 €) gezahlt werden, aber für ein Bier das Doppelte. Was wird jetzt aus der Kunst? 

«Die Menschen sollen wissen, dass es wirklich nur wir vier sind. Hinter uns steht niemand, wir haben keine Finanzierung. Jede von uns hat einen Job, um zu leben. Es wäre schön, wenn LasTesis einmal eine Vollzeitarbeit wäre, aber in Chile kann man nicht von sowas leben», antwortet Lea.

Die Frauen arbeiten zum Leben und um ihre Projekte zu stemmen als Selbstständige, Lehrkräfte und im öffentlicher Sektor. Im Land gibt es zwar Fonds für künstlerische und kulturelle Entwicklung. Sie fördern aber auch eine Ellenbogengesellschaft, denn die Konkurrenz ist groß und die Forderungen an die Bewerber*innen ändern sich von Jahr zu Jahr und je nach Regierungsplan. Zusätzlich ist der Zugang zu den verschiedenen Fonds regional ungleich verteilt. Langfristig planen, um von der Kunst zu leben, wird den Künster*innen auf diese Weise erschwert.

Bei den Demonstrationen und seit jeher werden Musik, Theater, Performances, Siebdruck und anderen Formen des künstlerischen Ausdrucks als eine friedlichere und bedachtere Art des Protestes gesehen. Ein sozialer Widerstand, der die Bequemlichkeit der Macht herausfordert.

«Ich gebe Theaterunterricht an Schulen als Teil des turno ético,» erzählt Dafne. Der turno ético ist ein spezieller Arbeitsplan, über den Mitarbeitende entscheiden, wenn Unternehmen oder Institutionen aufgrund von äußeren Bedingungen wie der aktuellen politischen Lage zum Stillstand kommen. Der turno ético soll grundlegende Aufgaben wie die Betreuung von Kindern sichern.»

«Ich komme in Schulen, denn die Kinder müssen dort zu Mittag essen. Also ich gehe dorthin und mache meinen Unterricht, weil ich dazu verpflichtet bin, mit meiner Arbeit zu helfen. Die Kinder sind traumatisiert, so wie eigentlich alle. Sie haben Angst. Sie wissen, dass es Tote und Blutvergießen gibt und reden darüber. Da zu sein und ihnen zu helfen zu verstehen, was passiert, ist auch ein Akt des Widerstandes, weil hier niemand Geld verdient.»

«Ich finde, Chile ist ein Land, das extrem hart mit seinen Kunstschaffenden umgeht», meint Lea, «Ich freue mich über unseren Erfolg. Er macht mich aber auch traurig. Wenn wir nicht viral gegangen wären, würde uns niemand wahrnehmen. Die Menschen verstehen die Aufgabe der Kunst nicht, weil sie keine ökonomischen Anreize hat.»

«Es ist auch gewaltsam in einem Land zu leben, das deinen Beruf prekarisiert», ergänzt Sibila, «Wir wissen, dass das an der Art von Politik liegt, die finanzielle Anreize für Kunst und Kultur gefährdet. Wir wissen auch, dass die Kunst schon einmal existentiell bedroht war. Das wurde verfassungsrechtlich gelöst. Dieser Kampf jetzt hat damit zu tun.»  

«Kunst ist gefährlich für die Macht. Kunst attackiert sie. Wenn du jetzt auf die Straße gehst, siehst du die Collagen und Siebdrucke. Wir werden nicht so tun, als würden wir in einer feinen Galerie auf dem Cerro Alegre ausstellen,» sagt Comenta. «Unsere Galerie ist die Straße, wir haben keine andere. Für uns ist die Straße die Szenerie, dort geht die Kunst zum Angriff über. Dort sehe ich die Kunst: In der kreativen Umwandlung von Formaten, vom Etablierten. Das stört und irritiert».