Nachricht | Div (Hg.): Revolte in der Kirche? Das Jahr 1968 und seine Folgen; Freiburg 2018

Die Kirche verliert trotz einiger Reformen den Anschluss

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Zwischen 1968 und 1973 geht der regelmäßige sonntägliche Gottesdienstbesuch in der katholischen Gesamtbevölkerung Westdeutschlands um ein Drittel, bei den unter 29-jährigen sogar um die Hälfte ein. Dass «1968» und die damit verbundene Liberalisierung auch an der katholischen Kirche (und nur um die geht es hier) nicht spurlos vorbeiging, zeigen die 25 Beiträge dieses Buches eindrücklich. Es ist die Amtszeit von Papst Paul VI., der von 1963 bis 1978 im Amt ist und als der «erste moderne Papst» gilt. Die Suche nach neuen Orientierungen, die Sehnsucht nach expressiven Ausdrucksformen und gleichberechtigten, partizipativen Formen der Zusammenarbeit und des Zusammenlebens findet auch im katholischen Milieu Widerhall. Die Frage der Verhütung spielt dabei zwar eine Rolle, die Bedeutung von «1968» für die KatholikInnen weltweit kann aber nicht darauf reduziert werden.

Das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965, das Erste hatte am 8. Dezember 1869! begonnen) beschloss bereits vor 1968 eine Öffnung zur Gesellschaft, z.B. wurde die Kohärenz von Predigt und Tun diskutiert, der Gottesdienst reformiert und Latein als dessen Sprache abgeschafft, und die antikoloniale Bewegung führt zu Forderungen der KatholikInnen des globalen Südens (Stichwort Befreiungstheologie). Die Christen vergesellschaften sich, statt wie bisher die Gesellschaft «missionieren»zu wollen. Die Kirche, bei allen auch innerkirchlichen Widerständen, enthierarchisiert sich, Laien und Laiinen bekommen eine wichtigere Rolle. Für viele wird der und die mündige ChristIn zum Leitbild. Als der Papst den Empfehlungen der von ihm eingesetzten Kommission nicht folgt und im Juli 1968 im Text Humanae Vitae (der sog. «Pillen-Enzyklia») die Verhütung weiterhin ablehnt, reagiert die Deutsche Bischofskonferenz mit der Königsteiner Erklärung. In dieser stellen die deutschen Bischöfe das individuelle Gewissen in den Vordergrund und treten somit «Rom» entgegen. Für die individuelle Lebensführung haben die Texte der oberen Ebene bereits damals wenig Relevanz. Die KatholikInnen sind aber, zumindest in (West-)Deutschland, nicht Impulsgeber des Umbruchs der 1960er Jahre, sondern eher reagierende. Die Kirche verliert den Anschluss, deutlich sichtbar am Katholikentag im September 1968 in Essen. Bis heute aktuelle Themen wie feministische Theologie, Sexualität, Solidarität mit dem Süden, Ökumene und die These, dass Frieden mehr als die Abwesenheit von Krieg ist, werden bedeutsam. Dass es in der katholischen Kirche auch Widerstand gegen die Reformen gibt, wird ebenfalls erwähnt, steht aber nicht so im Fokus des Buches.

Die Autoren sind größtenteils professorale Zeitzeugen, die um 1968 Studierende waren, hinzu kommen, wie die HerausgeberInnen, einige jüngere WissenschaftlerInnen. Etwas aus dem Rahmen fällt der Beitrag von Hans Joachim Meyer, der aus der DDR-CDU kommend, immerhin 1997 bis 2009 Präsident des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken war und ein AfD-Mindset zeigt. Teilweise ist die Sprache sehr akademisch, es finden sich aber ebenso persönliche Schilderungen. Vieles wird dem linken Leser fremd erscheinen; etwas über die Bedeutung von «1968» gelernt werden kann aber mit der Lektüre dieses Buches allemal. Wie weit die Diskursverschiebung heute schon fortgeschritten ist, darauf weisen einige Texte hin, ist daran zu sehen, dass heute die Kirchenkritik von rechts kommt, und nicht mehr, wie vor 50 Jahren, von links. Das wissen die Nazis, gegen die in der Zivilgesellschaft aktiven Kirchen können sie keine Hegemonie erringen.

Sebastian Holzbrecher/Julia Knop/Benedikt Kranemann/, Jörg Seiler (Hrsg.): Revolte in der Kirche? Das Jahr 1968 und seine Folgen; Herder Verlag, Freiburg 2018, 352 Seiten, 35 EUR