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Wie soziale Gerechtigkeit, das Recht auf Bewegungsfreiheit und globale soziale Rechte sich verknüpfen lassen

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Berlin: Refugees Welcome
«Die Freizügigkeit aller Menschen ist als unveräußerliches Menschenrecht anzuerkennen.» (Charta von Palermo) CC BY-ND 2.0, Jeanne Menjoulet, via Flickr

«Neapel ist eine Stadt, die Schutz und Zuflucht bietet. Wir glauben, dass Solidarität und eine Willkommenspolitik der beste Weg sind [...] um Brücken zwischen den Kulturen zu bauen und den Frieden zu garantieren. In Neapel sind wir entweder alle Illegale oder niemand ist illegal. Das ist die Geschichte unserer Stadt, aber auch unsere politische Vision. Neapel steht an der Spitze einer neuen ‹Diplomatie von unten›, die sich für ein Mittelmeer des Friedens und nicht des Krieges einsetzt […]. Vor kurzem trafen eine große Zahl von Migrant*innen aus Libyen ein. Neapel ist eine Stadt mit viel Leid und großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten: aber wir erlebten eine Woge der Solidarität von all ihren Bürger*innen. Sie boten nicht nur Essen und Kleidung an, sondern öffneten auch ihre Häuser, um die Migrant*innen aufzunehmen.» –Luigi de Magistris, Bürgermeister von Neapel, in European Alternatives, 2017.

Wachsende globale Ungleichheiten, Klimakrise und Kriege – vor diesem Hintergrund gehört das Recht auf globale Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit zu den wichtigsten Handlungsfeldern eines neuen Internationalismus, einer neuen globalen Solidarität. Hier entstehen mit den wachsenden Bewegungen der «Städte der Zuflucht» (Sanctuary Cities) und der Solidarität (Solidarity Cities) in den Amerikas und Europa konkrete Orte – im urbanen Raum – für die Umsetzung globaler sozialer Rechte. Während die Staatschefs der EU-Mitgliedsländer und der USA migrationspolitische Restriktionen vorantreiben, ihre Grenzen weiter abschotten und dabei jährlich den Tod tausender Hilfesuchender auf den Migrationsrouten in Kauf nehmen, erklären seit den 1990er Jahren immer mehr kommunale Regierungen und Verwaltungen sowie zivilgesellschaftliche Bewegungen ihre Städte zu Sanctuary Cities oder Solidarity Cities. Sie alle bemühen sich um eine inklusivere Einwanderungspolitik, den Schutz vor Abschiebungen von abgelehnten Asylbewerber*innen und undokumentierten Migrant*innen, um die Verbesserung der Aufenthaltssicherheit von Menschen mit prekärem Aufenthaltsstatus und die Ausweitung von sozialen wie politischen Rechten aller Stadtbewohner*innen ohne entsprechende Staatsbürgerschaft, aber oft auch um eine Demokratisierung des städtischen Lebens allgemein.

Stefanie Kron ist Referentin für Internationale Migration und Arbeit der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Wenke Christoph ist Referentin für West- und Südeuropa der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Henrik Lebuhn ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrbereich Stadt- und Regionalsoziologie der Humboldt Universität zu Berlin und Redaktionsmitglied der Zeitschrift PROKLA.

In Europa zeigen solidarische Städte die wachsende Bedeutung stadtpolitischer Bündnisse im Kampf gegen den europaweiten Rechtsruck und die Verschärfung der europäischen Grenz- und Migrationspolitik. Denn nicht nur die Abschottungspolitik im Mittelmeer, die Frage der nationalen Staatsangehörigkeit und des ausländerrechtlichen Aufenthaltsstatus, sondern auch die Politik der Städte und Kommunen spielen für die Lebensbedingungen von Migrant*innen in der EU eine wichtige Rolle. Für die Entwicklung einer linken Strategie auf dem Feld der Migrationspolitik ist es daher zentral, sich mit den unterschiedlichen Städtenetzwerken kritisch auseinanderzusetzen. Vor allem geht es dabei um die Frage, wie sich lokalpolitische Maßnahmen entwickeln lassen, mit denen nationale und europäische Migrationskontrollen und Ausschlussmechanismen zumindest auf der kommunalen Ebene umgangen oder sogar außer Kraft gesetzt werden können.

Über Grenzen hinaus

Was zunächst aussieht, als handele es sich um zwei ganz verschiedene Themen – die EU-Grenzpolitik und soziale Rechte in der Stadt – stellt sich bei genauerem Hinsehen als zusammengehörig heraus: Solidarische Städte experimentieren mit neuen Ideen, den Zugang zu Rechten und Ressourcen von Nationalität und Staatsbürgerschaft zu entkoppeln. So haben etwa die Stadtregierungen von New York, San Francisco, Barcelona und Zürich kommunale Personalausweise eingeführt. Sie werden unabhängig vom Aufenthaltsstatus einer Person vergeben. Dies ermöglicht es auch undokumentierten Menschen oder Personen mit prekären Aufenthaltsstatus, beispielsweise eine Wohnung anzumieten, ein Bankkonto zu eröffnen, eine Fahrerlaubnis zu erhalten oder Bildungs- und Gesundheitsdienste in Anspruch zu nehmen. Auf diese Weise stärken sie zumindest implizit auch die Kämpfe für offene Grenzen.

Denn obgleich für eine wachsende Zahl von Menschen die Voraussetzung für den Zugang zu sozialen Rechten, ist das von migrantischen Bewegungen und Solidaritätsinitiativen eingeforderte Recht auf (globale) Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit bislang keines der katalogisierten sozialen Rechte im engeren Sinne. Die so genannte Freizügigkeit, also die freie Wahl des Aufenthaltsortes, gehört dem Charakter nach zu den individuellen Freiheitsrechten und damit zu den bürgerlichen Rechten. Der Artikel 13 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gibt jedem Menschen das Recht, «sich innerhalb eines Staates frei zu bewegen und seinen Aufenthaltsort frei zu wählen sowie jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen und in sein Land zurückzukehren.». Die Menschenrechtscharta erkennt also ein Auswanderungsrecht an, nicht aber ein Einwanderungsrecht.

Diese rechtliche Lücke wird in der (akademischen) Linken kontrovers diskutiert. Autor*innen, die eine globale Perspektive auf die Ungleichheitsforschung oder die politische Philosophie einnehmen, sehen im ungeteilten Recht auf globale Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit eine der wichtigsten Voraussetzungen für den Zugang zu vielen weiteren (sozialen) Rechten und damit für das Ziel globaler sozialer Gerechtigkeit. So schreibt der Politikwissenschaftler Joseph Carens, die Staatsbürgerschaft in einem wohlhabenden Land sei angesichts bestehender Mobilitätsschranken für die Mehrheit der Menschen in der Welt mit einem feudalen Privileg vergleichbar, weil sie Lebenschancen massiv ungleich verteile. Wer das Bekenntnis zur individuellen Freiheit ernst nehme, so Carens weiter, komme nicht umhin, ein allgemeines Recht auf internationale Bewegungsfreiheit zu akzeptieren.

Die in der nördlichen Hemisphäre insbesondere von der EU und den USA betriebene «Politik mit dem Visum» und den damit verbundenen «global mobility divide», bezeichnet der Soziologe Stephan Lessenich sogar als einen zentralen Eckpfeiler der «Externalisierungsgesellschaft». Denn so würden die «imperiale Lebensweise» und Privilegien im globalen Norden zu Lasten und Kosten der Menschen im globalen Südens aufrechterhalten: «Mobilitätschancen sind hier eine monopolisierte Ressource, die man selbst in Anspruch nimmt, anderen hingegen verwehrt. Physische Bewegungsregulation – die einen sind mobil, die anderen werden demobilisiert – ist ein wesentliches Element westlichen Lebensstils.»

Die Bewegungen und Netzwerke für eine solidarische Stadt erkennen das Recht auf globale Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit für Alle dagegen faktisch an, und versuchen, globale soziale Rechte im lokalen politischen Raum umzusetzen. Besonders deutlich wird dies in der «Charta von Palermo», die Palermos Bürgermeister Leoluca Orlando 2015 ausformulierte und auf die sich viele solidarische Städte in Europa seither beziehen. Explizit fordert Orlando darin die Abschaffung der Aufenthaltsgenehmigung, die Verknüpfung sozialer und bürgerlicher Rechte mit dem Wohnort sowie die bedingungslose Gewährleistung des (Menschen-)Rechts auf globale Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit.

Für eine Politik der Urban Citizenship

Solche Politiken der Stadtbürger*innenschaft werden in der anglo-amerikanischen Debatte mit dem Begriff Urban Citizenship bezeichnet. Es wird von städtischen oder regionalen Formen von Bürgerschaft gesprochen, wenn lokalpolitische Instrumente eingeführt werden, die soziale Teilhabe nicht nur für Staatsbürger*innen gewährleisten oder ausdehnen, sondern auch Stadtbewohner*innen integrieren, die keinen formalen Bürger*innenstatus besitzen oder diesen auf Grund ihrer marginalisierten sozialen Position nicht zur Geltung bringen können.

Mit dem Konzept der Urban Citizenship wird es möglich – anders als in der Debatte im deutschsprachigen Raum – das Thema Migration nicht über Diskurse kultureller Differenz wie das Integrationsdispositiv, ethnische Zuschreibungen oder die angebliche Herausbildung von Parallelgesellschaften zu betrachten. Stattdessen geht es um das Spannungsfeld zwischen Zugehörigkeit zu einer politischen Gemeinschaft einerseits und den damit einhergehenden Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe anderseits. Dies wiederum betrifft nicht nur Migrant*innen, auch wenn diese vielfach aus der (formalen) Staatsbürgerschaft ausgeschlossen sind, sondern alle Menschen, die im Zuge von Neoliberalisierungsprozessen ins gesellschaftliche Abseits gedrängt und de facto in ihren sozialen wie bürgerlichen Rechten beschnitten werden.

Stadtbürger*innenschaft erschöpft sich also nicht darin, Abschiebungen zu verhindern. Vielmehr geht es darum, soziale Rechte und gesellschaftliche Teilhabe in ihren unterschiedlichen Dimensionen zu stärken: das betrifft die sozialen Rechte auf Gesundheit, Bildung, Wohnraum, Arbeit, aber auch kulturelle und gender-spezifische Rechte. Entgegen des oftmals geäußerten Vorbehalts, grundlegende Änderungen ließen sich in diesen Bereichen nur auf nationalstaatlicher Ebene erreichen, gibt es durchaus auch auf landes- und kommunalpolitischer Ebene Handlungsspielräume, zumindest wenn Aktivist*innen, Lokalpolitiker*innen und Verwaltungen kooperieren.

Beispielhaft lässt sich dies auf dem Feld der Gesundheitspolitik zeigen. Obwohl kaum ein Bereich so streng reguliert wird wie der Zugang zum öffentlichen Gesundheitssystem, ist es inzwischen in mehreren Bundesländern gelungen, die medizinische Versorgung von Menschen ohne Zugang zu den gesetzlichen Krankenkassen über alternative öffentliche Programme zu ermöglichen. Das wiederum kommt nicht nur Migrant*innen ohne regulären Aufenthaltsstatus zu Gute, sondern auch vielen anderen Menschen, die auf Grund ihrer gesellschaftlichen Marginalisierung aus der Regelversorgung gedrängt worden sind. In Berlin etwa sollten ab Herbst 2018 jährlich 1,5 Millionen Euro für die ärztliche Behandlung mit einem anonymen Krankenschein bereitgestellt werden. Den Krankenschein selbst sollen die Betroffenen über eine nicht-staatliche Beratungsstelle erhalten, ohne dabei ihre Identität oder ihren rechtlichen Status angeben zu müssen. Solche Programme sind zwar alles andere als perfekt. So ist der anonyme Krankenschein in Berlin von seiner Umsetzung noch weit entfernt. Bislang gibt es lediglich eine Clearingstelle, in der einzelne Behandlungen von prekär lebenden Menschen ohne Krankenversicherung beantragt werden können, die aber kaum von den Betroffenen aufgesucht wird. Dennoch stehen derartige Programme für die Einsicht, dass es eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, das Recht auf Gesundheit für alle Menschen zu gewährleisten und öffentlich zu finanzieren.

Vier Dimensionen kommunaler Interventionen

Die Bewegungen und Bündnisse der Solidarity Cities in Europa und der Sanctuary Cities in den Amerikas sind politisch sehr heterogen, verfolgen unterschiedliche Interessen und wecken diverse Erwartungen anderer politischer Akteure. In anderen Worten: Eine einheitliche Definition von Städten der Solidarität und Zuflucht existiert nicht. Dennoch lassen sich vier Dimensionen kommunaler migrationspolitischer Interventionen unterscheiden: Hierzu gehört erstens der Schutz vor strafrechtlicher Verfolgung und Abschiebung irregulärer Migrant*innen und abgelehnter Asylbewerber*innen. Dies ist das gemeinsame Kennzeichen der mehr als 500 nordamerikanischen Städte, Bezirke und Bundesstaaten, die sich der Sanctuary City-Bewegung bisher angeschlossen haben.

Die zweite Dimension ist jene der menschenrechtlichen Intervention. 2018 gründeten Akteure der internationalen Seenotrettungsbewegung die Initiative «Seebrücke» als Reaktion auf die zeitweilige faktische Schließung italienischer Häfen für die zivile Seenotrettung. Die Aktivist*innen der Seebrücke begannen die Forderung nach der direkten Aufnahme von aus Seenot geretteten Flüchtlingen in bundesdeutsche Rathäuser zu tragen. Inzwischen konnten sie die Regierungen von insgesamt 124 Städten, Landkreisen und Gemeinden in Deutschland davon überzeugen, sich dieser Forderung anzuschließen und ihre Kommunen zu «sicheren Häfen» zu erklären. Auch den Bürgermeister*innen europäischer Städte wie Berlin, Köln, Düsseldorf, Bonn, Barcelona, Palermo und Neapel, die sich im Sommer 2018 öffentlich mit der Bereitschaft Bootsflüchtlinge direkt in ihren Städten aufzunehmen äußerten, geht es vor allem um eine menschenrechtliche Intervention in die humanitäre Krise des europäischen Grenz- und Asylregimes.

Drittens: Politiken der Stadtbürger*innenschaft. Mit innovativen Experimenten zur Stärkung von Urban Citizenship, wie z.B. kommunalen Ausweisen oder anonymen Gesundheitskarten, versuchen Stadtregierungen, Verwaltungen und Zivilgesellschaft globale soziale Rechte auf der kommunalen Ebene umzusetzen und damit vom Aufenthaltsstatus und von der Nationalität der Stadtbewohner*innen zu entkoppeln.

Die vierte Dimension schließlich ist das ‹Recht auf Stadt›. So geht es dem aktivistischen Solidarity City-Netzwerk, einem Bündnis sozialer Bewegungen, Flüchtlingsräten, Anti-Abschiebe-Initiativen und pro-migrantischen NGOs in 17 bundesdeutschen und schweizerischen Städten um eine grundlegende Demokratisierung des städtischen Lebens. Es handelt sich um eine soziale Bewegung, die für eine solidarischere, sozial gerechtere und partizipativere Stadt für Alle kämpft. Während also neoliberale Akteure wie das jährlich im Januar in Davos tagende World Economic Forum (WEF) städtische Politiken der Inklusion und Diversity als Motoren für ökonomische Entwicklung hervorheben, sehen bewegungslinke Akteure in den solidarischen Städten einen «Raum für progressive Politiken in Europa».

Bei aller Unterschiedlichkeit artikulieren die Akteure, Bündnisse und Netzwerke solidarischer Städte und Sanctuary Cities einen tiefen politischen Dissens mit den im wachsenden Maße restriktiven und exklusiven Migrationspolitiken auf der nationalen und regionalen Ebene. Darin liegen ihre politische Relevanz und ihre potentielle Stärke. Doch stoßen sie dabei eben auch an Grenzen. So kann es langfristig nicht das Ziel sein, die Frage der sozialen Rechte auf die kommunale Ebene zu verlegen und so einen regulatorischen Flickenteppich zu produzieren. Die kommunale Anerkennung des Rechts auf globale Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit hat zwar einen starken appellativen Charakter, wird aber für die meisten Flüchtlinge kaum positive Auswirkungen haben, solange nationale und regionale Regierungen – wie im Fall der Seenotrettungsblockade im Mittelmeer – demonstrativ weiter ihre Abschottungspolitik betreiben.

Damit globale Bewegungsfreiheit in den Katalog der verbrieften Menschenrechte gelangen kann und globale soziale Rechte über einzelne urbane Räume hinaus umgesetzt werden können, sind neue oder verstärkte Bündnispolitiken, beispielsweise mit der entwicklungspolitischen Zivilgesellschaft, aufgeschlossenen Verwaltungen und progressiven Politiker*innen auf den nationalen und regionalen Ebenen notwendig. Eine wachsende Zahl von Politiker*innen und Aktivist*innen der stadtpolitischen Bündnisse weiß inzwischen, dass Kämpfe der Migration und Politiken der Stadtbürger*innenschaft keine Partikularinteressen bedienen, sondern gerade das gemeinsame Interesse (vermeintlich) unterschiedlicher Gruppen betonen, nämlich soziale Gerechtigkeit. Gerade mit der Verknüpfung der Forderung nach dem Recht auf Bewegungsfreiheit und den globalen sozialen Rechten in der Stadt eröffnet sich die Möglichkeit, den neoliberalen und rechtsextremen globalen Eliten eine solidarische Antwort entgegenzusetzen.