Nachricht | Geschichte - Deutsche / Europäische Geschichte - International / Transnational - Globale Solidarität «Eine klare Deutung ist schwierig»

Angela Siebold über die globale Dimension von 1989, Leerstellen des Rückblicks und aktuelle Krisennarrative

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Angela Siebold, Zeithistorikerin an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Foto: Privat.

TS: Sie sind in Freiburg geboren, ziemlich weit im Westen. Erinnern Sie sich an den Wendeherbst 1989, an die Zeit des Umbruchs in der DDR?

AS: Freiburg war wirklich weit weg von der Mauer und den Geschehnissen dort. 1989 war ich acht Jahre alt, und wir hatten persönlich keine Verwandten oder Freunde in der DDR. Aber ich kann mich an die Fernsehbilder vom Mauerfall erinnern, und auch an die Gespräche darüber, was sich verändern würde. Aber deutlicher habe ich die Jahre danach vor Augen, die 1990er Jahre.

Angela Siebold ist Zeithistorikerin an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Sie forscht und lehrt zu den Beziehungen zwischen West- und Osteuropa, zur europäischen Migrationsgeschichte im 20. Jahrhundert sowie zur Geschichte der europäischen Integration. Publikationen von ihr sind unter anderem zu den deutsch-polnischen Beziehungen, zur Geschichte des Schengener Abkommens und zur Geschichte des Freiheitsdenkens erschienen. Mit ihr sprach Tom Strohschneider für maldekstra #6.

Wann haben Sie 1989 als wissenschaftliches Thema für sich entdeckt?

Ich war 1999 das erste Mal in Polen und bin dann später durch mein Geschichtsstudium zum Thema deutsch-polnische Beziehungen gekommen. Das wurde ein Schwerpunkt für mich, zu dem ich auch später weiter gearbeitet habe. Dadurch bin ich auf die europäische und dann eben auch wieder zurück auf die deutsche Geschichte gekommen.

Was hat Sie daran interessiert?

Vieles. Einerseits war es biografisch für mich interessant, als historisches Ereignis, weil ich mich selbst noch gut erinnern konnte. Das war bei anderen Themen nicht der Fall. Wissenschaftlich war zudem reizvoll, zu einem noch wenig erforschten Thema zu arbeiten. Die meisten historischen Darstellungen hörten 1989/90 auf, mit der deutschen Einheit oder mit dem Fall des Eisernen Vorhangs. Danach ging es nicht weiter. Mich hat aber genau das interessiert, die Frage, welche Auswirkungen diese Zeit hatte. Da gab es sehr viele spannende Themen, etwa die gesellschaftlichen Folgen des Umbruchs, die Erinnerung, kulturelle Wandlungen. Spannend war außerdem noch die große geografische Reichweite. Sich also nicht nur auf den Westen zu beziehen, sondern auf eine Region, für die man sich im Westen wenig interessiert hatte – der ganze große Raum hinter dem Eisernen Vorhang. Das war auch methodisch reizvoll: Wie kann man eigentlich auf eine Geschichte schauen, die noch gar nicht lange vorbei, die also noch gar nicht abgeschlossen ist?

30 Jahre danach spielt die Geschichte um 1989 als Jubiläum eine große öffentliche Rolle. Wie erleben Sie diese Erinnerung hierzulande?

Jubiläen und Jahrestage sagen weniger etwas über die Vergangenheit aus, mehr über die Gegenwart. Am Thema «1989» kann man sehr gut sehen, wie sich der Blick darauf in der nachfolgenden Zeit immer wieder verändert hat. Und er verändert sich auch jetzt wieder. In den letzten Jahren hat eine Distanzierung von der damals vollzogenen Transformationspolitik zugenommen. Das verändert auch das Reden über die Wende selbst.

Wie erklären Sie sich das?

Zum einen hängt es mit dem zeitlichen Abstand zusammen. Es tauchen neue Fragen auf, es gibt neue Forschungsergebnisse. Außerdem beobachten wir in ganz Europa eine Pluralisierung der Deutungsangebote. Das passiert ja häufig mit einem gewissen Abstand, dass sich das kulturelle Gedächtnis wandelt oder darüber gestritten wird – so wie aktuell über die Wendezeit. In vielen Ländern wird zudem stärker als in der Vergangenheit versucht, das Thema politisch zu instrumentalisieren. Auch dabei hat es einen Wandel gegeben: In den 1990er Jahren wurde der Umbruch von 1989 oft als Beleg für den Erfolg des westlichen Demokratiemodells gedeutet, als eine Art Abschluss. Heute wird die Erinnerung oft umgekehrt eingesetzt, auch dazu, das bestehende Demokratiemodell infrage zu stellen und zu verändern.

«Acht Tage, die die Welt veränderten», so heißt ein Buch über die Wende in der DDR. Eine Reminiszenz an John Reeds Buch von 1919 über die Oktoberrevolution. Kann man sagen: Typisch deutsche Geschichtssicht, bei der «wir» das Zentrum bilden?

Auf jeden Fall. In der deutschen Politik, in der Publizistik und in der Wissenschaft hat es sehr lange gedauert, bis die internationalen Vorbedingungen für den Umbruch und die globale Situation überhaupt wahrgenommen wurden. Das ist insofern erstaunlich, als die Demonstrierenden in der DDR selbst sehr wohl die Ereignisse anderswo im Blick hatten. Sie hatten persönliche Kontakte oder nahmen 1989 auf das Bezug, was in anderen Ländern passierte. In der bundesdeutschen Erinnerung wurde diesem Aspekt bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt.

Die Vorläufer in anderen Ländern geraten so aus dem Blick.

Die Solidarność-Bewegung in Polen oder die Reformpolitik unter Gorbatschow waren fundamentale Voraussetzungen für die Veränderungen in der DDR. Die Destabilisierung des DDR-Regimes wurde nicht nur von den Montagsdemonstrationen vorangetrieben, sondern war auch eine Folge der Abwendung Moskaus von Ostberlin. Inzwischen, das sieht man am aktuellen Gedenken, gehört es unter deutschen Politikern zwar zum guten Ton, die Rolle anderer Länder zu erwähnen, etwa wenn es um den Mauerfall geht. Trotzdem überwiegt eine nationale Sicht in der Erinnerung. Das ist aber auch in vielen anderen ostmitteleuropäischen Staaten so. Es geht dann vor allem um die eigene «Leistung» und um das, was erreicht wurde. Da gibt es auch einen gewissen Wettbewerb darum, welchen Ereignissen in welchem Land die größte Aufmerksamkeit zuteilwird. Zugleich beobachten wir sehr starke innergesellschaftliche Konflikte um die Deutung. Auch in Polen gibt es heute Diskussionen darüber, ob der Kurs der Transformationspolitik in den frühen 1990er Jahren richtig war oder ob man es anders hätte machen müssen.

Ihr Kollege Philipp Ther spricht von nationaler Selbstbezogenheit, die dazu geführt habe, dass man die Art und Weise der Transformation in anderen osteuropäischen Ländern gar nicht betrachtet hat.

Dieses Problem gibt es in sehr vielen Ländern, auch in Westeuropa. Zum Beispiel wird der Umbruch von 1989 in Frankreich und England oft behandelt, als hätte er gar nichts mit den eigenen gesellschaftlichen Entwicklungen zu tun. Er erscheint als ein rein östliches Thema. Der Unterschied zwischen West und Ost in dieser Frage ist, dass in Osteuropa durchaus bekannt ist, was in jener Zeit im Westen passierte. Umgekehrt sind im Westen die Kenntnisse über die Geschehnisse in den osteuropäischen Staaten sehr gering. Das ist aber kein neues Phänomen. Schon in den 1990er Jahren und sogar davor wurde davon gesprochen, dass das Wissen über den jeweils anderen in den West-Ost-Beziehungen sehr ungleich verteilt sei.

Wie geht die Geschichtswissenschaft mit der internationalen Dimension von 1989 um? Globalgeschichtliche Perspektiven sind seit einiger Zeit ja durchaus angesagt.

Globalgeschichte zu erforschen bedeutet nicht, wie es oft missverstanden wurde, eine umfassende Weltgeschichte zu schreiben. Sondern es geht stattdessen darum, globale Beziehungen in den Blick zu nehmen, sich transnationale Verflechtungen anzuschauen, die auch über größere Distanzen hinweg Einfluss auf Entwicklungen hatten. Dafür ist 1989 ein gutes Beispiel. Dies zu untersuchen, ist zwar einerseits immer wieder gefordert worden, andererseits ist dem aber nur selten entsprochen worden.

Woran liegt das?

Das hat verschiedene Gründe. Transnationale Forschungsprojekte sind sehr aufwendig, man muss in viele Länder reisen, dort die Archive besuchen, Quellen in anderen Sprachen zusammentragen und so weiter. Neben finanziellen Aspekten setzt eine solche Perspektive auch andere Kenntnisse voraus, einen erweiterten Fachblick sozusagen. Einen weiteren Grund sehe ich darin, dass transnationale Geschichte schwieriger zu vermitteln ist als einfache Nationalgeschichte. Und vielleicht wird sie auch weniger nachgefragt. Denn eine solche über den nationalen Tellerrand hinausblickende Forschungsperspektive könnte gerade beim Thema «1989» zeigen, dass man diesen Umbruch nicht so einfach und eindeutig beschreiben kann, wie das gern gewollt wird.

Was müsste sich in der Forschung ändern?

Mehr Austausch unter Wissenschaftlern wäre nötig. Aber auch der Kenntnisstand über grenzübergreifende Zusammenhänge müsste besser werden. Das setzt natürlich mehr Wissen voraus, demzufolge mehr Forschung und also auch wiederum mehr Forschungsförderung in diesem Bereich. Hilfreich wäre es zudem, wenn in den Schulen und der politischen Bildungsarbeit transnationale Forschungsperspektiven mehr Berücksichtigung finden würden. Das birgt auch Chancen. Etwa wenn Jüngere stärker eingebunden würden, deren Eltern 1989 noch in einem anderen Land gelebt haben und die erzählen könnten, welche Erfahrungen es dort rund um 1989 herum gab.

Was gerät bei der «disziplinären Trägheit», von der Sie einmal gesprochen haben, beim Thema «1989» aus dem Blick?

Vieles. Denken Sie beispielsweise an die vielen persönlichen oder politischen Beziehungen, die 1989 über nationale Grenzen hinausgingen. Oder daran, welche Rolle Proteste in einem Land für den Aufbruch in anderen Ländern gespielt haben. Wie konnten solche Dominoeffekte entstehen? Wir finden einerseits Ermutigung, etwa in der DDR durch die Ereignisse in Polen. Zugleich herrschte dort aber zunächst auch Angst vor der sogenannten «chinesischen Lösung», also vor Gewalt durch den Staat gegen die Opposition. Hierzu mangelt es noch an einer systematischen Erforschung. Oft gibt es nur anekdotisches Wissen, das wissenschaftlich noch aufbereitet werden müsste.

Einerseits ist «1989» geprägt von Ähnlichkeiten der Protestbewegungen, zugleich gibt es auch starke Unterschiede.

Keiner dieser nationalen Aufbrüche verlief genauso wie die anderen. Wir haben es von Fall zu Fall mit sehr unterschiedlichen Akteuren zu tun. Außerdem sind die einzelnen zeitlichen Verläufe nicht unbedingt ähnlich, ebenso wie die Wahrnehmungen des Wandels: Eine anfängliche Befreiungseuphorie konnte schnell umschlagen, etwa weil die ökonomischen Freiheiten nicht nur Positives, sondern neue soziale Ungerechtigkeiten mit sich brachten. Aber auch diese Risiken wirkten ja von Land zu Land unterschiedlich. Das macht eine klare Deutung von 1989 so schwierig.

Zum Beispiel?

Wir sprechen heute meist von einer friedlichen Revolution, aber das gilt natürlich nur für gewisse Regionen und Gruppen. 1989 kam es vielerorts zu Gewalt, etwa in China oder in Rumänien. Und auch danach: Die Nachfolgekriege im ehemaligen Jugoslawien zeigen eindringlich, warum sich «1989» nicht einfach als friedlicher Übergang bezeichnen lässt. Ähnlich ist es beim Ende des Kalten Krieges, der als friedliches Ereignis natürlich bedeutend war. Gleichzeitig entstanden durch die neue Gemengelage in den 1990er Jahren auch sogenannte neue Kriege, der internationale Terrorismus kam auf, auch hier könnten wir nach Ursachen suchen, die etwas mit diesen Umbruchjahren zu tun haben. Oder die Vereinigung Europas, die immer wieder im Zusammenhang mit 1989 angeführt wird – sie hat eben auch zu neuen Spaltungen geführt, gerade in der EU-Grenzpolitik wird das heute immer wieder diskutiert.

Timothy Garton Ash hat 1989 einmal als ein «annus mirabilis» bezeichnet, ein «Jahr der Wunder».

Ich würde Ashs Begriff eher mit «Wunderjahr» übersetzen. Er bringt zum Ausdruck, dass sich vieles nicht so einfach und direkt erklären lässt. Warum kam eine Umbruchstimmung in vielen Ländern zur selben Zeit auf? Veränderungen in vielen Ländern Europas, aber auch in den USA, in der Sowjetunion – ja, die ganze Welt war involviert, und das setzte eine gemeinsame Dynamik frei. Von einer großen gemeinsamen Revolution kann man aber trotzdem nicht sprechen. Das wäre eine geschichtspolitische Konstruktion, die der Komplexität nicht angemessen wäre.

Gab es trotzdem eine Art «Zentrum», von dem aus die Wellen sich bewegten?

Nein, davon kann man meines Erachtens nicht sprechen. Das heißt nicht, dass wir die jeweiligen Voraussetzungen für Entwicklungen in einzelnen Ländern übersehen dürfen. Natürlich gab es da Prozesse wie die Reformpolitik Gorbatschows, die deutliche Auswirkungen auf andere Länder hatten. Aber auch andere Ereignisse aus den Jahrzehnten zuvor waren von unterschiedlicher Bedeutung, etwa die Aufstände in Posen und der DDR in den 1950er Jahren, der Prager Frühling und die Charta 77, aber auch der KSZE-Prozess und die Ostverträge. Es ist ein komplexes System, das eine Dynamik entfesselte, die nicht so einfach in ein Bild zu bringen ist.

Welche Rolle spielt die Ökonomie bei diesem «globalen 1989»?

Eine sehr große, nicht nur in Bezug auf die Krisensituation in den osteuropäischen Staaten. Man muss die Wirkung von einschneidenden politischen Ereignissen, also situativen, raschen Veränderungen wie der Öffnung der Mauer, unterscheiden von langfristigen strukturellen Entwicklungen. «1989» hat ökonomische Dynamiken beschleunigt und zugleich die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Staaten verändert. Das lässt sich an der unmittelbar anschließenden Transformationsperiode zeigen. Wir sehen beispielsweise eine Arbeitslosigkeit als Massenphänomen in Westeuropa schon seit den 1970er und 1980er Jahren, Osteuropa bleibt davon dann in den 1990er Jahren auch nicht verschont. Dem liegen auch ökonomische Verflechtungen zugrunde.

Und über den europäischen Rahmen hinaus? Was sind für Sie die wichtigsten Merkmale des internationalen Charakters von 1989?

Wir können danach fragen, wie Entwicklungen etwa in Südamerika oder in afrikanischen Staaten mit dem Ende des Kalten Krieges zusammenhängen. Es gibt recht offensichtliche Beispiele, bei denen wir die Verbindungen nachweisen können, etwa den Truppenabzug der kubanischen Truppen aus Angola, der einen ganz klaren Bezug zum Ende des Ost-West-Konflikts hatte. Es gibt aber auch Ereignisse, bei denen man das nicht so eindeutig sagen kann, beispielsweise das Ende der Apartheid in Südafrika. Es wurde dazu aber wenig systematisch geforscht. Oder der Kaschmir-Aufstand von Separatistengruppen gegen die indische Regierung, der 1989 ausbrach. Wir kennen Berichte, laut denen die Aufständischen dort durch Fernsehbilder aus Europa motiviert waren. Aber es gibt keine umfassende Untersuchung dazu.

Wenn wir von 1989 sprechen, wird das oft als Entwicklung «hin zum Westen», zu seinen Werten, Institutionen gesehen. Als Angleichung oder Aufholen. Wie sehr wirken solche normativen Vorverstärker auf die Analyse des «globalen 1989»?

Die spielen eine große Rolle, weil sie ein falsches Geschichtsbild vermitteln. Wenn man sich beispielsweise den Mauerfall anschaut und die deutsche Einheit, wird schnell deutlich, dass beides häufig als ein gemeinsames Phänomen betrachtet wird. Dabei gerät aus dem Blick, dass beides zunächst einmal gar nicht so viel miteinander zu tun hatte. Zwischen dem November 1989 und dem Oktober 1990 war ganz vieles offen, es gab Ideen von einem Dritten Weg, einer demokratischen DDR, Vorschläge für eine gemeinsame neue Verfassung. Dass sich solche Alternativen nicht durchsetzten, lag an vielem, zum Beispiel am internationalen Zeitdruck, an der Politik Helmut Kohls. Aber es war keineswegs zwangsläufig.

Geschichte ist offen.

Ja, man muss sich die Offenheit der historischen Prozesse immer wieder vor Augen führen, um nicht schon normativ vorgefertigte Forschungsfragen zu stellen. Außerdem sollten wir mehr danach fragen, was sich für den Westen verändert hat. Auch dort hat «1989» vieles in Gang gesetzt, beschleunigt, umgelenkt. Es gab lange die Vorstellung, der Westen sei der alte geblieben und der Osten hätte sich durch Modernisierung und Demokratisierung dem westlichen Modell angepasst. Dabei ist auch in Westeuropa einiges in die Brüche gegangen. Ein altes Weltbild wurde zerstört, das hatte Auswirkungen auf die eigene Wahrnehmung. Wir sprechen heute oft von der Verunsicherung der Ostdeutschen. Aber Verunsicherung gab es auch in Westdeutschland. Fragen wie «Wer sind wir noch, wenn wir uns nicht mehr zum Osten hin abgrenzen können?» standen im Raum. In der Forschung wurde das lange nicht thematisiert, inzwischen ändert sich das aber langsam.

Inwiefern?

Vor allem indem östliche und auch kritische Sichtweisen auf 1989 überhaupt diskutiert werden. Wir hören heute beispielsweise immer mehr über die Probleme der Transformationszeit, die Folgen der Treuhandpolitik und so weiter. Dadurch bricht ein altes, lange wirksames Narrativ auf – das vom erfolgreichen westlichen Modell, das gleich geblieben sei und dem sich der Osten mehr oder weniger erfolgreich angeglichen habe. Betroffene von damals oder Zeitzeugen fordern heute vehementer ein, dass auch ihre, also eine andere Erfahrung berücksichtigt wird. Inwiefern das zu einer «neuen Erzählung» über 1989 führt, lässt sich noch nicht sagen. Wenn es gut läuft, könnte diese wachsende Kritik am alten, vom Westen dominierten Blick auf 1989 zu einer neuen, differenzierteren Sichtweise auf das Thema führen. In dieser würde 1989 mehr als Zentrum, als Beginn einer ganz komplexen Dynamik gesehen. Auch die Tatsache, dass Entwicklungen in vielen Regionen auch grenzüberschreitend aufeinander bezogen waren, würde deutlicher betont. Es kann aber auch sein, dass sich eine neue vereinfachende und unzutreffende Sichtweise durchsetzt, beispielsweise die, dass westliche Eliten den Transformationsprozess ausschließlich zum eigenen Nutzen und unter Ausnutzung der östlichen Bevölkerung gelenkt hätten. Aus wissenschaftlicher Perspektive wäre darauf zu drängen, hier differenzierter zu bleiben – und verschiedene, ja vielleicht sogar widersprüchliche Sichtweisen zuzulassen.

Wie würden Sie die Entwicklung der Welt seit 1989 bilanzieren?

Es hat sich zumindest gezeigt, dass die Behauptung von einem «Ende der Geschichte» im Sinne eines Sieges der westlich-liberalen Demokratie völlig naiv war. Die Annahme, die Welt würde nun einfacher, überschaubarer werden, weil der Ost-West-Gegensatz wegfällt, war falsch. Wir haben es heute mit neuen Fragen, neuen Problemen zu tun, einige davon haben ihre Ursachen auch in den Jahren um 1989 oder wurden durch den komplexen Umbruch beschleunigt.

Sie spielen auf die neuen Krisen an?

Wir sprechen heute viel von Krisen, von der Klimakrise, der Flüchtlingskrise, der Finanzkrise, der Krise der Demokratie und so weiter. Krisennarrative beherrschen geradezu die Wahrnehmung. Aber vor 30 Jahren hat es auch schon Krisen gegeben. Sie hatten damals vielleicht nicht solche Prominenz wie heute. Abgesehen davon ist es schwierig zu beantworten, welche der gegenwärtigen Probleme unmittelbar mit den Ereignissen rund um 1989 zu tun haben. Was man sagen kann: Durch die Veränderungen damals wurden Prozesse verstärkt, die Welt ist «näher zusammengerückt», das verschafft den Problemen und Entwicklungen oft eine größere geografische Reichweite. Und wir sehen heute vieles nicht mehr so vereinfacht, wie wir das 1989 getan haben.