Nachricht | Krieg / Frieden - Migration / Flucht - Westeuropa - Nordafrika - Türkei - Europa global Im Schatten des Krieges

Die EU instrumentalisiert die Kämpfe in Libyen für die Expansion der Grenzauslagerung

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März 2011: Geflüchtete aus Libyen landen im Transitlager in Choucha/Tunesien
«Schon 2014 hatte Tunesiens Regierung gemeinsam mit dem UNHCR einen Notfallplan aufgelegt, der unter anderem die Errichtung eines Camps für bis zu 25.000 Menschen vorsieht, sollten wie nach dem Ausbruch des Krieges in Libyen 2011 innerhalb weniger Wochen zehntausende Menschen vor den Kämpfen nach Tunesien flüchten.» Transitlager in Choucha/Tunesien, nahe der Grenze zu Libyen, März 2011, picture alliance / abaca

Die jüngste Eskalation im Libyen-Krieg dürfte einschneidende migrationspolitische Folgen für das Nachbarland Tunesien haben. Während die EU im Windschatten des Konfliktes ihr Grenzregime ausbaut, suchen Geflüchtete aus Libyen vermehrt Schutz in Tunesien – eine Entwicklung, die das in einer tiefen Wirtschafts- und Regierungskrise steckende Land inzwischen dazu gedrängt hat, die Errichtung eines Flüchtlingslagers anzukündigen. Bisher wehrte sich die Regierung in Tunis noch erfolgreich gegen Vorstöße der EU, das Land zu einem vorgelagerten «Hotspot» aufzubauen. Sie könnte angesichts bevorstehender Fluchtbewegungen aus Libyen und Abhängigkeiten von der EU aber früher oder später zum Einlenken gezwungen werden.

Sofian Philip Naceur lebt und arbeitet als freier Journalist in Tunis. Für die junge Welt, den Standard und andere Medien berichtet er aus Ägypten, Algerien und Tunesien sowie zu Migrationsbewegungen in Nordafrika und der EU-Grenzauslagerungspolitik in der Region.

Der Stellvertreterkrieg in Libyen eskaliert erneut und wird von internationalen Akteuren gezielt angeheizt. Die so genannte Libysche Nationalarmee (LNA) von General Khalifa Haftar, die einen Großteil des Landes kontrolliert, lieferte sich um die Jahreswende abermals wochenlange Gefechte mit der international anerkannten Regierung von Fayez al-Serraj (GNA) und den mit ihr verbündeten Milizen. Auch im Februar gingen die Kämpfe weiter. Die LNA hatte im April 2019 eine Offensive auf die von der GNA kontrollierte Hauptstadt Tripolis gestartet, konnte Serrajs wichtigste Bastion im Westen des Landes aber trotz militärischer Übermacht nicht einnehmen und lancierte im Dezember einen abermaligen Vormarsch auf die Stadt.

Dabei konnten LNA-Kräfte zügig erste Teilerfolge verbuchen, rückten näher an Tripolis heran und griffen zusätzlich die mit al-Serraj verbündeten Milizen in den strategisch wichtigen Küstenstädten Sirte und Misrata an. Während der Vormarsch auf Tripolis jedoch Anfang Januar ins Stocken geriet, fiel das zwischen 2014 und 2016 vom radikalislamistischen sogenannten «Islamischen Staat» (IS) kontrollierte Sirte überraschend schnell an die LNA.

Ein wesentlicher Grund für das Erlahmen des LNA-Vorstoßes auf Tripolis ist das deutlich ausgeweitete militärische Engagement der Türkei auf Seiten der GNA. Der in die Ecke gedrängte al-Serraj rief zuletzt immer verzweifelter nach internationaler Hilfe und versuchte erfolglos, Tunesien und Algerien zu einem direkten Eingreifen zu bewegen. Ankara hingegen reagierte und kündigte Ende Dezember an, auf Grundlage einer kurz zuvor mit al-Serraj abgeschlossenen militärischen Absichtserklärung, mit der Türkei verbündete Milizionäre aus Syrien nach Libyen zu schicken. Das türkische Parlament gab zügig grünes Licht für die Entsendung von Truppen in das vom Krieg gebeutelte Libyen. Als Ankara daraufhin syrische Kämpfer und türkische Militärberater nach Tripolis schickte, weitete die Türkei auch die Waffenlieferungen an die GNA aus und entsandte sogar türkische Kriegsschiffe an die westlibysche Küste. Haftars militärische Übermacht scheint seither zu schmelzen, auch wenn die LNA gleichfalls umfangreiche neue Rüstungshilfen ihrer Verbündeten verbuchen konnte.

Stellvertreterkrieg um Erdgas und geopolitischen Einfluss

Der seit 2011 andauernde Bürgerkrieg in Libyen ist längst zu einem unübersichtlichen Stellvertreterkrieg mutiert, in dem zahlreiche Groß- und Regionalmächte um geopolitischen und wirtschaftlichen Einfluss konkurrieren. Nachdem die NATO 2011 interveniert und damit den Sturz von Langzeitdiktator Muammar al-Ghaddafi entscheidend vorangetrieben hatte, hielt sich die EU für mehrere Jahre mit ihrer unmittelbaren Einmischung zurück und griff erst wieder verstärkt in den Konflikt ein, als sich der IS im Land festzusetzen drohte und mehrere Regionalmächte immer aggressiver auf libysches Terrain vorstießen.

Haftar wird vor allem von Ägypten, den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) und – unter vorgehaltener Hand – auch von Frankreich unterstützt. Er greift inzwischen aber auch auf die private russische Söldnerfirma Wagner sowie auf bezahlte Kämpfer aus Sudan zurück. Die Vereinten Nationen und die EU, vor allem aber Italien, Katar und die Türkei, stehen auf Seiten der GNA, die zudem auf zurückhaltende Rückendeckung aus Algerien und Tunesien bauen kann. Ankaras Engagement in Westlibyen fungiert dabei als Katalysator des Konfliktes, wird dieses doch vor allem in Ägypten als inakzeptable Provokation bewertet. Das Militärregime des ägyptischen Präsidenten Abdelfattah Al-Sisi, Ankaras Erzfeind in der Region, schaut der türkischen Intervention keineswegs tatenlos zu und verstärkte seinerseits die Hilfen zugunsten Haftars. Dessen LNA wird von Ägypten mit Materiallieferungen und Trainings unterstützt, doch auch die von Frankreich hochgerüstete ägyptische Luftwaffe fliegt offenbar immer wieder Angriffe auf GNA-Stellungen – ebenso wie in Westägypten abhebende Kampfjets und Drohnen der VAE.

Der Libyen-Konflikt ist damit zu einem veritablen Stellvertreter-Krieg (Proxy-Krieg) zwischen Ägypten und der Türkei, aber auch zum Schauplatz innereuropäischer Rivalitäten geworden. Der mit Hilfe Saudi-Arabiens und der VAE an die Macht gekommene Al-Sisi hatte 2013 der kurzweiligen Herrschaft der gemäßigt islamistischen Muslimbruderschaft in Ägypten ein blutiges Ende bereitet. Seither liefert er sich in Nord- und Ostafrika einen verbissenen Hegemonialkampf mit der Türkei, bei dem es auch um die ideologisch motivierte Unterstützung für die Muslimbrüder geht. Während Katar und die Türkei die Ableger der Bruderschaft in zahlreichen Staaten offen stützen – Libyens Muslimbrüder sind eine wichtige Säule der GNA – , setzen die VAE und Ägypten alles daran, den regionalen Einfluss der Bruderschaft nachhaltig einzudämmen.

Frankreich und Italien ringen schon seit Jahren in Nordafrika und im Sahel um geopolitischen und wirtschaftlichen Einfluss, von dem Deutschland nun zu profitieren versucht und im Windschatten der italienisch-französischen Rivalitäten offensiv eigene Ambitionen verfolgt. Die von Bundeskanzlerin Angela Merkel vorangetriebene Libyen-Konferenz in Berlin im Januar 2020 gilt dabei als symbolischer Vorstoß, war doch bereits im Vorfeld des Gipfels klar, dass die Chancen auf einen Waffenstillstand oder gar Friedensverhandlungen in Libyen gen Null tendieren. Berlin machte mit der Konferenz aber deutlich: In Libyen wird Deutschland künftig nicht mehr passiv agieren, sondern eigene sicherheits-, migrations- und wirtschaftspolitische Interessen offensiver durchzusetzen versuchen.

Die internationale Einmischung in Libyen findet auch im Kontext der Versuche statt, sich den Zugriff auf die enormen Erdgasvorkommen im östlichen Mittelmeer zu sichern. Ägypten, Zypern, Griechenland, Israel, der Libanon und die Türkei liefern sich dabei einen Wettlauf um die Erschließung von Offshore-Gasvorkommen, der nicht nur die türkisch-griechischen Spannungen anheizt, sondern auch im Libyen-Konflikt eine wichtige Rolle spielt. Während europäische Energiemultis wie die italienische ENI federführend bei der Erschließung dieser strategischen Vorkommen sind, unterzeichneten die Türkei und die GNA im November 2019 eine Absichtserklärung über die «Abgrenzung maritimer Wirtschaftszonen», bei der es auch um die Kontrolle von Gasvorkommen im Mittelmeer gehen dürfte.

EU-Grenzabschottungspolitik in Libyen: An einem Strang

In migrationspolitischen Fragen ziehen die in Libyen involvierten europäischen Konfliktparteien hingegen weitgehend an einem Strang. Sowohl Rom wie auch Berlin wollen irreguläre Abfahrten Geflüchteter von der libyschen Küste um jeden Preis vermindern. Die EU und ihre Mitgliedstaaten koordinieren dabei ihre Maßnahmen zur Abriegelung der europäischen Außengrenzen im südlichen Mittelmeerraum. Sie bauen ihre Kooperation mit der GNA sowie mit der von dieser kontrollierten so genannten Libyschen Küstenwache auf EU-Ebene wie auch im Rahmen bilateraler Abkommen immer weiter aus. Während aus EU-Fördertöpfen wie dem 2015 aufgelegten Nothilfetreuhandfonds für Afrika mehr als 400 Millionen Euro nach Libyen flossen (unter anderem für Ausbildungsmaßnahmen zugunsten der Küstenwache), lieferten EU-Staaten Dutzende Patrouillenboote an die GNA, die mit diesen immer engmaschiger die wichtigsten Abfahrtsregionen für Geflüchtete kontrolliert.

Erst im Januar 2020 erneuerte Italien derweil den umstrittenen Migrationsdeal mit der GNA. Die Küstenwache hatte in nur drei Jahren mehr als 40.000 Menschen im Mittelmeer abgefangen, zurück nach Libyen gebracht und diese dort in für Geflüchtete vorgesehene Haftanstalten unter katastrophalen Bedingungen interniert. Mit Italiens Führung soll Libyen zudem in das für die Mittelmeerregion konzipierte EU-Überwachungssystem «Seepferdchen» integriert werden, in dessen Rahmen libysche Behörden Zugriff auf den EU-Datenpool EUROSUR bekommen sollen. Bis 2023 wollen Brüssel und Rom Libyen mit zusätzlichen 285 Millionen Euro für den Ausbau der Grenzüberwachung im Land unterstützen.

Das Ziel der EU-Abschottungspolitik in Libyen ist dabei nicht nur die Verminderung irregulärer Abfahrten Geflüchteter, sondern auch die strategische Neuaufstellung und Expansion des EU-Grenzregimes in Nordafrika und im Sahel. Im Vorfeld der Berliner Libyen-Konferenz wurde immer wieder betont, der Krieg in Libyen müsse auch eingedämmt werden, um die irreguläre Einwanderung über das Mittelmeer zu begrenzen – eine eher irreführende Rhetorik. Denn das EU-Grenzregime funktioniert im Kontext des Proxy-Krieges in Libyen gerade aufgrund des Konfliktes bereits ausgesprochen effektiv. Hatten die italienischen Behörden 2016 mehr als 180.000 irreguläre Ankünfte in Italien registriert, waren es 2018 noch 23.037 und 2019 sogar nur 11.471. Angesichts der chaotischen Zustände in Libyen sind die rechtsstaatliche Kontrolle und eine wirksame Evaluierung der EU-GNA-Kooperation zudem praktisch unmöglich, während Gelder in dunklen Kanälen versickern und Geflüchtete von den Folter- und Erpressungspraktiken der mit der GNA alliierten Milizen abgeschreckt werden.

Folter, Erpressung und katastrophale Haftbedingungen

Während nicht nur Ankara und Kairo, sondern auch die EU den Krieg in Libyen weiter anheizen und ein Ende des Konfliktes damit in weite Ferne rückt, sind es Zivilist*innen, die den Preis für die blutigen Hegemonialkämpfe in Libyen zahlen. Hunderttausende Libyer*innen und zehntausende Geflüchtete sind zwischen den Fronten gefangen und werden immer wieder akut von den Kämpfen bedroht. Allein im Westen des Landes sollen bis zu 6.000 vor allem afrikanische Geflüchtete in von der GNA und ihren Verbündeten kontrollierten Haftanstalten interniert sein, in denen sie systematischer Folter, Misshandlung oder Erpressung ausgesetzt sind und nur unzureichend mit Lebensmitteln und medizinischer Betreuung versorgt werden.

Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR hat nur eingeschränkten Zugang zu den hier inhaftierten Menschen und ist aufgrund des Krieges dazu gezwungen, in einem praktisch rechtsfreien Raum zu operieren – mit desaströsen Folgen für Geflüchtete und inzwischen auch für die Reputation der UN-Behörde. Diese stand in Libyen zuletzt für ihre hochbrisante Zusammenarbeit mit GNA-Milizen, die sich für die Versorgung inhaftierter Geflüchtete teils fürstlich entlohnen ließen, im Kreuzfeuer der Kritik. Auch angesichts dieses PR-Desasters könnte das UNHCR früher oder später darauf setzen, Teile seiner Aktivitäten in Libyen nach Tunesien auszulagern. Seit Ende 2019 setzt die UN-Behörde bereits auf eine operationelle Neuaufstellung und versucht in zweifelhafter Manier, hunderte Geflüchtete, die in einem Transitzentrum in Tripolis – der sogenannten Gathering and Departure Facility (GDF) – ausharren, aus Sicherheitsgründen zum Verlassen der Einrichtung zu bewegen. Zum 1. Januar wurde in dem 2018 eröffneten Zentrum, das als Evakuierungsplattform dienen sollte, die Lebensmittelversorgung eingestellt. Begrenzte finanzielle Kapazitäten und die unzureichende Bereitschaft als «sicher» geltender Staaten, Geflüchtete dauerhaft aufzunehmen, setzen das UNHCR dabei aber auch unter Zugzwang und animieren die UN-Behörde möglicherweise zu weiteren Einschränkungen ihrer Aktivitäten in Libyen. So könnte eine Dynamik in Gang gesetzt werden, in deren Zuge abermals nach 2011 tausende Menschen ins benachbarte Tunesien flüchten.

Tunesien kündigt Errichtung von Flüchtlingslager an

Das kleine Land bereitet sich bereits auf einen steigenden Zustrom Geflüchteter aus Libyen vor, hat angesichts der jüngsten Kämpfe in Tripolis die Militärpräsenz an der tunesisch-libyschen Grenze verstärkt und vermeldet seit Ende 2019 vermehrt irreguläre Grenzübertritte. Auch die Zivilbehörden und das UNHCR in Tunesien sind in Alarmbereitschaft. Man wappnet sich bereits konkret für ein Szenario, das die Zentralregierung in Tunis und südtunesische Provinzverwaltungen lange zu vermeiden versuchten: Die Errichtung eines gewaltigen Flüchtlingslagers. Schon 2014 hatte Tunesiens Regierung gemeinsam mit dem UNHCR einen Notfallplan aufgelegt, der unter anderem die Errichtung eines Camps für bis zu 25.000 Menschen vorsieht, sollten wie nach dem Ausbruch des Krieges in Libyen 2011 innerhalb weniger Wochen zehntausende Menschen vor den Kämpfen nach Tunesien flüchten.

Erste Vorbereitungen für die Errichtung eines solchen Lagers zwischen den Städten Tataouine und Remada in dem mitten in der südtunesischen Wüste gelegenen Bir Fatnasseya laufen bereits. Das UNHCR in Tunis scheint dabei eine treibende Kraft hinter entsprechenden Maßnahmen und seit Dezember regelmäßig stattfindenen Konsultationstreffen zwischen tunesischen Behörden, NGOs und UN-Behörden zu sein, die inzwischen aber keineswegs nur präventiv vorangetrieben werden. Denn Mitte Februar 2020 bestätigte der Gouverneur der Provinz Tataouine, Adel Ouerghi, nahe Remada werde in Koordination mit dem UNHCR und der Internationalen Organisation für Migration (IOM) ein «temporäres» Lager errichtet. In diesem solle «logistische Unterstützung für Flüchtlinge» bereitgestellt werden bis sich die Krise in Libyen entspanne, erklärte er. Zwar versicherte Ouerghi, ein solches Camp werde unter keinen Umständen in eine «Resettlement-Plattform» umgewandelt werden. Doch die EU dürfte alles daran setzen, die Eröffnung eines Camps gezielt zu instrumentalisieren und Tunis dazu zu drängen, ein solches Lager sukzessive in einen «Hotspot» umzufunktionieren und das Land damit noch stärker in das EU-Grenzregime einzubinden. Schon seit 2018 fordern Brüssel und vor allem Berlin die Errichtung sogenannter «Ausschiffungsplattformen» in afrikanischen Staaten, um dort Asylprozeduren außerhalb des europäischen Territoriums durchzuführen und Migrationsbewegungen im Mittelmeerraum damit zusätzlich zu kontrollieren.

Sämtliche Staaten der Region hatten derlei Vorstöße zunächst kategorisch abgelehnt. Tunesien könnte angesichts der sich verschärfenden Lage im Nachbarland jedoch früher oder später zum Einlenken gezwungen werden. Seit Ende 2019 setzt Deutschland Tunesien in dieser Frage offenbar erneut unter Druck

Während die Standortwahl des Lagers vor allem aus humanitären Gründen mehr als zweifelhaft ist, kann das wirtschaftlich angeschlagene sowie von EU-Fördermitteln und -Krediten abhängige Tunesien derzeit nur sehr eingeschränkt agieren. Denn das Land steckt in einer beispiellosen Regierungskrise. Erst Ende Februar – fast fünf Monate nach der Parlamentswahl – konnte nach langwierigen und zähen Verhandlungen zwischen den zahlreichen in der neuen Kammer vertretenen Parteien endlich ein neues Kabinett ins Amt gehievt werden. Das Parlament ist seit dem Urnengang derart zersplittert, dass die notwendige Mehrheitsfindung für die Einsetzung einer neuen Regierung höchst schwierig ist. Ob das neue Kabinett von Premierminister Elyes Fakhfakh die Legislaturperiode überstehen wird, gilt auch daher als zweifelhaft, muss Fakhfakh doch zeitgleich mehrere Parteien bei Laune halten, die sich ideologisch diametral entgegen stehen. Auf absehbare Zeit dürfte Tunesien daher von sehr instabilen Regierungen regiert werden. Damit ist das Land innen-, außen- und wirtschaftspolitisch nur bedingt handlungsfähig.

Zwar wäre Tunesien angesichts der Folter- und Erpressungspraktiken gegen in Libyen internierte Geflüchtete für diese in der Tat sicherer. Doch auch tunesische Behörden inhaftieren seit Jahren willkürlich Geflüchtete und schieben immer wieder Menschen rechtswidrig nach Algerien und sogar nach Libyen ab. Behördenwillkür, soziale Ausgrenzung, xenophobe Übergriffe und ein unklarer Rechtsstatus, der eine Integration in Arbeitsmarkt und Gesellschaft in Tunesien praktisch unmöglich machen, gehören dabei zum Alltag von im Land lebenden Geflüchteten.

Das UNHCR-Büro in Tunesien erwies sich darüber hinaus zuletzt als unfähig, die adäquate Versorgung einer vergleichsweise kleinen Zahl von Menschen zu gewährleisten. Ende Januar 2020 waren nur 3.746 Flüchtlinge und Asylbewerber*innen beim UNHCR im Land registriert. Umfassende Recherchen der vergangenen Monate zeichnen dennoch ein wenig vertrauenerweckendes Bild von der Arbeit der UN-Behörde in Tunesien. Betroffene berichten von häufig stark überfüllten Notunterkünften, einer unzureichenden Versorgung mit Lebensmitteln und medizinischer Betreuung, offenbar nicht adäquat bearbeiteter Asylanträge und Selbstmordversuchen. Die daraus resultierende allgegenwärtige Frustration und Perspektivlosigkeit Geflüchteter führt inzwischen sogar dazu, dass immer mehr unter dem Schutz des UNHCR stehende Menschen freiwillig nach Libyen zurückgehen.

Auch wenn Geflüchtete in Tunesien nicht direkter physischer Gewalt ausgesetzt sind und die allgemeine Lage für sie deutlich besser anmutet als in Libyen: ein sicherer Hafen für Geflüchtete ist Tunesien keinesfalls.