Der Libanon war nie ein Sozialstaat. Seit der Unabhängigkeit basiert seine Wirtschaft, der «libanesische Kapitalismus»,[1] auf dem kommerziellen Sektor und dem Bankgeschäft, und entzieht sich der Verantwortung des Staates gegenüber seinen Bürger*innen. Seit dem Ende des Bürgerkriegs (1975–1990) wurden ihre sozialen und wirtschaftlichen Rechte bei den Wiederaufbaubemühungen und in der öffentlichen Politik nicht berücksichtigt. Es scheint vielmehr so, als wäre die politische und wirtschaftliche Agenda auf einer Linie mit dem neoliberalen Doxa,[2] während die Entwicklung eines Sozialstaates in der «embryonalen» Phase stagniert.[3] Diese Agenda und die daraus folgende Politik tragen zu «einer hochgradig ungleichen politischen Ökonomie» bei,[4] eine der «Ungerechtesten in der Region.»[5]
Marie-Noëlle AbiYaghi ist Politikwissenschaftlerin. Sie ist die Direktorin von Lebanon Support und Dozentin am Institut für Politikwissenschaften an der Sankt-Joseph-Universität in Beirut. AbiYaghi forscht zur Soziologie von widerständiger Politik im Libanon der Gegenwart, zur Soziologie öffentlicher Politik mit Fokus auf die Sozial- und Entwicklungspolitik sowie zur politischen Ökonomie der Wissensproduktion in der Region.
Zudem festigte das Ende des Bürgerkriegs 1990 die Herrschaft ehemaliger Warlords und die Normalisierung einer Parallelwirtschaft für öffentliche Leistungen, insbesondere in der Wasser- und Stromversorgung, der Abfallwirtschaft und in Wohltätigkeitsorganisationen. Letztere waren traditionell die Hauptanbieter sozialer Leistungen, Pflege und sozialem Schutz für die am meisten entrechteten und schutzlosesten Menschen im Land. Zweifellos haben diese «Arrangements» mit privaten und wohltätigen Initiativen zum weitverbreiteten Mythos der libanesischen «Resilienz» beigetragen und die Beständigkeit von klientelistischen und primordialen Beziehungen gefördert.
Zusammen bereiteten neoliberale Politik und das Konkordanzregime den Weg nicht nur für Kollusion und die Vereinnahmung staatlicher Ressourcen durch die politischen und unternehmerischen Klassen, die sich auf primordiale Identitäten stützen.[6] Sie trugen zusätzlich auch zur strukturellen Ungleichheit bei, und zwar in Form einer schwindenden Mittelklasse, steigender Armutsraten, hoher Arbeitslosigkeit, insbesondere unter jungen Menschen, und der zunehmenden Prekarisierung von Arbeit. Während der libanesische Soziologe Salim Nasr im Jahr 1978, vor über vierzig Jahren, die «Krise des libanesischen Kapitalismus» als den «Hintergrund» des Bürgerkriegs identifizierte, ist die politische Ökonomie Libanons heute, fast dreißig Jahre nachdem das Abkommen von Taif den Krieg formell beendete, wiederkehrenden Krisen ausgesetzt, die soziale Konflikte und zyklische Protestbewegungen hervorrufen.
Tatsächlich sind die gegenwärtigen Mobilisierungen nicht neu: Seit Jahren formieren sich verschiedene Gruppen vor allem um soziale und wirtschaftliche Probleme. Im Fokus ihrer Forderungen stehen unter anderem Gehälter, Zugang zu Wohnraum, das Mietrecht und die Inflation. Solche Forderungen sind Zeugnis der sozioökonomischen Schwierigkeiten, von denen die Menschen betroffen sind. In ihrer Darstellung der Bewegung – oder mit anderen Worten: in ihrer «Diagnose» und Interpretation der momentanen Situation und Krise – ziehen die Demonstrant*innen direkte Verbindungen zwischen dem konfessionellen Konkordanzregime und den strukturellen, wirtschaftlichen Herausforderungen, aber auch der Kollusion von finanziellen und politischen Interessen mit der Vereinnahmung staatlicher Einnahmen durch die herrschende Unternehmerklasse. Die Ablehnung von Staatsschulden, als illegitim und währungsabwertend verstanden, die Anprangerung scheiternder öffentlicher Dienste (Wohnungsbau, Bildung, Gesundheit, soziale Sicherung), die Forderungen nach Erhalt und Achtung der Bürgerrechte sowie nach einem unabhängigen Justizwesen, Frauenrechten, finanzpolitischen und arbeitsmarktlichen Reformen – all diese Dinge sind zu unentbehrlichen Anliegen geworden. Sie kulminieren in der größeren Forderung nach einem (neuen) Gesellschaftsvertrag, dessen wesentlicher Bestandteil ein zurückeroberter Sozialstaat sein soll (diese Infografik illustriert, wie die verschiedenen zivilgesellschaftlichen Akteur*innen, Kollektiven und Aktivist*innen gemeinsam maßgeblich zur Entwicklung der sozioökonomischen Forderungen und Diskursen der gegenwärtigen Bewegung beigetragen haben).
In diesem Verelendungskontext, in dem die Sozialpolitik historisch und strukturell ausrangiert wurde, sind Diskussionen über eine mögliche Intervention durch die Bretton-Woods-Institutionen (Weltbank und Internationaler Währungsfonds) als «Lösung» für die Krise in zweierlei Hinsicht beunruhigend. Erstens ignoriert dieser Ansatz solch hohe soziale Kosten wie etwa steigende Armut und soziale Ungleichheit, die durch die von diesen Institutionen vorangebrachten oder umgesetzten Richtlinien und Strukturanpassungsprogramme verursacht werden. Zweitens zeugt er von einem limitierten Verständnis der strukturellen und internen Faktoren, die dazu beitragen, dass der Zugang zu Leistungen auch weiterhin nur über elitäre Patronage und «Philanthropie» möglich ist. Diese Abhängigkeit von Wohltätigkeitsnetzwerken, die oft fraktionsbasiert und za‘im-verbunden sind und anstelle eines universellen Zugangs zu Rechten stehen, prägt seit Jahren das gesellschaftliche Einverständnis gegenüber den Systemführern, indem ein erheblicher Teil der Bevölkerung in einer schutzlosen Situation gehalten wird.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass neoliberale Politik zusammen mit einem Konkordanzregime und dessen Privatisierung sozialer Leistungen in Form von konfessionellen und/oder klientelistischen «Wohltätigkeitsorganisationen», zum vorherrschenden Status quo beigetragen, aber auch Konstituent*innen diszipliniert und mögliche Formen von Dissens und Widerspruch eingedämmt haben. Die derzeitige soziale Bewegung hat, so wie sie sich in die «Peripherien» ausbreitete, bis zu einem gewissen Grade die Grenzen privater und informeller «Umverteilungsmechanismen» aufgezeigt. In diesem Sinne kommt die Anfechtung des Konfessionalismus durch den Slogan «al-sha‘b yurid isqat an-nizam al ta’ifi» («Die Menschen wollen den Fall des konfessionalistischen Regimes») auch der Ablehnung eines Wirtschaftsmodels gleich und steht für eine wütende Forderung nach Rechenschaft – danach, dass die Warlords und ihre gescheiterte Nachkriegspolitik zur Rechenschaft gezogen werden.
Für die andauernde soziale Bewegung ist es unerlässlich, sich auf die Anliegen der Demonstrant*innen vom 17. Oktober zurückzubesinnen, da sie der Bewegung Gestalt gegeben haben, was die Forderung nach einem neuen, auf sozialer Gerechtigkeit basierenden Gesellschaftsvertrag betrifft. Eine Rettungsaktion, etwa durch Intervention des Internationalen Währungsfonds, könnte zwar makroökonomische Indikatoren entschärfen und die akute Finanzkrise abmildern, aber eine solche Rettung wäre kostspielig: Sie würde das korrupte und nepotistische politische System aufrechterhalten und zugleich ein wichtiges, ohnehin zunehmend entrechtetes Bevölkerungssegment noch verwundbarer machen. Zwar erfordert die Krise in ihrer Dringlichkeit und Schärfe schnelle politische Entscheidungen, aber dennoch tragen Hilfeleistungen, sei es in Form von offizieller Entwicklungshilfe, IWF-Krediten oder philanthropischer Leistungen, letztendlich nur zu dem Erhalt und der Reproduktion desselben Systems bei, das in den letzten Monaten Tausende von Menschen auf die Straßen brachte. So gesehen fordert die derzeitige soziale Bewegung im Libanon eine Abkehr von der Logik der «Entwicklung» hin zur Durchsetzung eines (radikalen?) Modells basierend auf sozialer Gerechtigkeit und Solidarität.
Erstveröffentlicht am 18. Februar 2020 in «The Public Source».
Übersetzung von Vincenzo Döring & Utku Mogultay für Gegensatz Translation Collective
[1] Mouawad, Jamil/Baumann, Hannes (2017): Wayn al-Dawla: Locating the Lebanese state in Social Theory, in: Arab Studies Journal, 25, S. 66-90.
[2] Dibeh, Ghassan (2005): The Political Economy of Postwar Reconstruction in Lebanon, Forschungsarbeit 2005/044, Helsinki, UNU-WIDER.
[3] Nasr, Salem (2003): The New Social Map, in: Hanf,Theodor/Salam, Nawwaf (Hrsg): Lebanon in Limbo: Postwar Society and State in an Uncertain Regional Environment. Baden Baden: Nomos Verlagsgesellschaft, S. 143-158.
[4] Baumann, Hannes (2016): Social Protest and the Political Economy of Sectarianism in Lebanon, in: Global Discourse, 6, S. 634-64.
[5] Verdeil, Éric/Faour, Ghaleb/Hamze, Mouïn (2017): Atlas du Liban: Les nouveaux défis. Beyrouth: Presses de l’IFPO, S. 111.
[6] Ein Konkordanzsystem ist ein kulturalistisches politisches System, basierend auf der Aufteilung der Macht zwischen den Eliten verschiedener sozialer Gruppen in sogenannten «segmentierten» oder geteilten Gesellschaften.