Nachricht | Parteien / Wahlanalysen Es ist Zeit, über politische Macht zu sprechen

Die Regierungsbildung in Thüringen und ihre Bedeutung für die linke Strategiedebatte

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Paul Wellsow,

Der neu gewählte Ministerpräsident Bodo Ramelow (Die Linke) leistest vor Landtagspräsidentin Birgit Keller (Die Linke) seinen Amtseid im Landtag. picture alliance/Martin Schutt/dpa-Zentralbild/dpa

Am 4. März 2020 wurde Bodo Ramelow (DIE LINKE) im dritten Wahlgang vom Thüringer Landtag erneut zum Ministerpräsidenten gewählt. Er hatte bereits von 2014 bis 2019 den Freistaat mit einem Bündnis aus den Parteien DIE LINKE, Grüne und SPD regiert. Nach den Landtagswahlen am 27. Oktober 2019 fehlten der bisherigen Koalition aber vier Stimmen im Parlament, um mit einer eigenen Mehrheit weiter zu regieren. Dennoch strebten die drei Parteien die Bildung einer Minderheitsregierung an. Am 5. Februar 2020 wurde dann überraschend der FDP-Politiker Thomas Kemmerich mit den Stimmen von AfD, CDU und FDP zum Regierungschef gewählt – er trat aber bereits nach wenigen Tagen wieder zurück; zu groß war der öffentliche Druck auf ihn, da er mit der Unterstützung der AfD ins Amt gekommen war.

Paul Wellsow ist Leiter des Regionalbüros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Erfurt.

Bei der nun angesetzten Wahl im Erfurter Landtag am 4. März 2020 erhielt Ramelow im ersten und zweiten Wahlgang jeweils 42 Stimmen, für den faschistischen Thüringer AfD-Chef Björn Höcke votierten 22 Abgeordnete, 21 enthielten sich. Die vier anwesenden Abgeordneten der FDP stimmten gar nicht mit. Für eine Wahl zum Regierungschef wären in diesen Wahlgängen mindesten 46 Stimmen nötig gewesen – also die absolute Mehrheit des Parlaments. Im dritten Wahlgang reichte für Ramelow schließlich die einfache Mehrheit von Rot-Rot-Grün. Er wurde mit 42 Ja-Stimmen, 23 Gegenstimmen und 20 Enthaltungen zurück ins Amt gewählt. Höcke war im dritten Wahlgang nicht noch einmal angetreten. Mit der Wahl tritt nun eine rot-rot-grüne Übergangsregierung an, der Weg für Neuwahlen im April 2021 ist aufgrund einer schriftlichen Vereinbarung mit der CDU frei.

Ein Blick zurück

Die Wahl Kemmerichs am 5. Februar 2020 war ein politischer Dammbruch von historischer Dimension. Erstmals kam in der Bundesrepublik ein Ministerpräsident mit den Stimmen der teils faschistischen AfD an die Macht. Inzwischen ist klar, dass die Entscheidung kein Zufall war. Auch wenn vorab keine formalen Verhandlungen zwischen AfD, CDU und FDP geführt wurden, hatte es offenbar Absprachen gegeben. In den drei Fraktionen war das mögliche Szenario vorab bekannt, die Folgen wurden in Kauf genommen.

Ramelow hatte sich zur Wahl gestellt, obwohl er über keine eigene Mehrheit im Parlament mehr verfügte. Bei der Landtagswahl am 27. Oktober 2019 wurde DIE LINKE in Thüringen mit 31 Prozent (+2,8) zwar stärkste Kraft und erreichte ihr bisher bestes Ergebnis bundesweit in einem Land, doch die Koalitionspartner SPD und Grüne hatten Stimmen verloren. Dennoch einigten sich die drei Parteien auf einen neuen Koalitionsvertrag «Gemeinsam neue Wege gehen. Thüringen demokratisch, sozial und ökologisch gestalten», um mit einer Minderheitsregierung die Arbeit fortzusetzen. Ramelows Beliebtheitswerte im Freistaat liegen bei etwa 70 Prozent und reichen weit über Parteigrenzen hinaus. Das starke Ergebnis der Linkspartei, die breite öffentliche Unterstützung für das Kabinett Ramelow und seine Person wurden in Politik, Medien und Gesellschaft vielfach als Regierungsauftrag verstanden.

Rot-Rot-Grün war klar, dass ihrer Minderheitsregierung eine Opposition von rechts gegenübersteht, die das Potential einer rechten parlamentarischen Mehrheit in Sachfragen haben kann. So wollen beispielsweise AfD, CDU und FDP das Paritätsgesetz abschaffen, mit dem die Listen der Parteien bei Landtagswahlen künftig quotiert sein müssen. Klar war, dass es für explizit linke Politik und das Aufstellen des nächsten Landeshaushaltes für 2021 schwer werden würde, Mehrheiten zu finden. Bekannt ist auch, dass es kommunal bereits zu Kooperationen zwischen AfD und CDU kam, die Abgrenzung zwischen den beiden Parteien auch im Landtag nicht eindeutig war und immer wieder auch ideologische und strategische Bande erkennbar wurden. So sitzt beispielsweise mit Karl-Eckhard Hahn («Deutsche Gildenschaft») seit vielen Jahren ein rechter Vordenker an zentralen Positionen in der Thüringer CDU. In einem Artikel, wenige Tage vor der Ministerpräsidentenwahl veröffentlicht, stellte er »Überlegungen zur Entscheidungsfindung im 7. Thüringer Landtag« an und kam im Kern zu dem Ergebnis, dass die mögliche Wahl eines FDP-Kandidaten mit Stimmen der AfD zu akzeptieren wäre. Dennoch glaubte niemand, dass CDU und FDP fast geschlossen mit der AfD Kemmerich wählen würden. Vor dem Hintergrund, dass die Abstimmung mit schmutzigen Mitteln und im Wissen um die Folgen vorbereitet worden war, sprach Ramelow im Interview mit BILD von einem «Putsch von rechtsaußen». (09.02.2020).

Sofort nach der Wahl Kemmerichs wurde aus Politik, Gesellschaft und Medien laut widersprochen. Bis hin zur konservativen Frankfurter Allgemeinen Zeitung und BILD reichte die deutliche Kritik an der Wahl mit Unterstützung der AfD. Für das öffentliche Meinungsbild dürften diese schnellen Wortmeldungen entscheidend gewesen sein. Auch konservative und liberale Politiker*innen aus der Bundespolitik widersprachen umgehend. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) nannte die Wahl mit den Stimmen ihrer Partei einen «unverzeihlichen Vorgang». Ebenfalls Gewerkschaften, Kirchen und Verbände meldeten sich schnell zu Wort und kritisierten die Entscheidung. Zudem gingen noch am Abend des 5. Februars bundesweit zehntausende Menschen auf die Straßen, um gegen rechts zu demonstrieren. In Erfurt bildeten fast 2.000 Personen aus unterschiedlichsten Bereichen der Gesellschaft eine Kette um die Staatskanzlei und riefen: «Bodo ans Fenster!». Zumindest in Thüringen war das politische Gefühl der Demonstrierenden wohl einhellig: Der legitime Ministerpräsident wurde mit unlauteren Mitteln aus dem Amt vertrieben – die Rechte drängt an die Macht. Ihre Antwort: Wir verteidigen die Demokratie!

Gab es einen Plan?

Die sich überschlagenden Ereignisse in den 72 Stunden nach der Wahl machten klar, dass die stille Koalition aus AfD, CDU und FDP zwar möglicherweise einen Plan für die Wahl hatte, aber nicht für den weiteren Weg. So gelang es Kemmerich nicht, Minister*innen zu berufen und eigene Staatssekretär*innen ins Amt zu bringen. Zwar mussten die Hausleitungen von Rot-Rot-Grün die Staatskanzlei und die Ministerien räumen, aber die Staatssekretär*innen blieben in ihren Positionen. Zudem gelang es dem neuen Ministerpräsidenten und den Fraktionen von CDU und FDP nicht, dem Druck ihrer Parteiführungen im Bund und den Medien standzuhalten. Einem halben Rücktritt bereits nach gut 24 Stunden folgte unter Druck durch den FDP-Bundesvorsitzenden Christian Lindner, der ebenso wie CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer eigens nach Erfurt gereist war, am Samstag nach der Wahl die finale Demission. Jedoch blieb Kemmerich geschäftsführend im Amt, so sieht es die Landesverfassung vor. Die Presse berichtete über ihn nur noch als das «Phantom» in der Staatskanzlei, da er abgetaucht schien und de facto keine öffentlichen Auftritte absolvierte.

Der Ablauf der Tage nach der Wahl zeigte: Die Rechte war nicht gut genug vorbereitet, um tatsächlich die Regierung zu übernehmen. Dagegen war es dem demokratischen Teil der Gesellschaft – bis hin zu konservativen AfD-Gegner*innen-, Linksliberalen und Linken sehr schnell gelungen, politischen Druck aufzubauen und zielgerichtet zu agieren. Hier dürften politische Besonderheiten Thüringens zum Tragen kommen – und vor allem ein ehemaliger Ministerpräsident, der weit über politische Grenzen hinaus anerkannt ist. Politische Stabilität und Sicherheit repräsentierten in dieser heiklen Situation Ramelow und DIE LINKE – nicht die Hasardeure von AfD, CDU und FDP. Eine Umfrage des MDR (10.02.2020) wenige Tage nach dem «Putsch» zeigte das Ergebnis: Die Partei steigerte sich auf 39 Prozent der Stimmen; eine Umfrage vom 14.02.2020 sah DIE LINKE sogar bei 40 Prozent - der beste Wert für die Linkspartei jemals in einer Umfrage auf Landesebene. Die CDU rutsche noch einmal deutlich auf nur noch 13 beziehungsweise 14% Prozent ab. Die FPD würde bei einer Neuwahl aus dem Landtag fliegen. SPD und Grüne wären leicht gestärkt, während die AfD stabil bliebe. Rot-Rot-Grün hätte wieder eine eigene Mehrheit.

Die Ereignisse von Thüringen haben nicht nur die Landes-, sondern auch die Bundespolitik erschüttert. So kündigte CDU-Chefin Kramp-Karrenbauer nach ihrer vom Landesverband barsch zurückgewiesenen politischen Intervention für Neuwahlen ihren Rücktritt und den Verzicht auf die Kandidatur als Kanzlerin an; die Verwerfungen in der gesamten Partei über die gemeinsame Abstimmung mit der AfD einerseits und die Möglichkeit einer Tolerierung von Rot-Rot-Grün andererseits sind tief. Die CDU erscheint als eine politisch kopflose Partei, zerfallen in ost- und westdeutsche Flügel, die selbst darin in weitere Strömungen zerfallen. Schlechte Umfrageergebnisse, das Wahl-Desaster in Hamburg am 23. Februar 2020 (11,2 Prozent) und die anhaltende Personaldebatte zeigen, dass auch die letzte große Volkspartei strauchelt und ihren Kern als übergreifende, bürgerliche Sammlungspartei offenbar verloren hat. Das Parteiensystem westdeutscher Prägung scheint an ein Ende gekommen zu sein.

Vor der Neuwahl

In den Wochen zwischen der gescheiterten Wahl Ramelows Anfang Februar und der erfolgreichen Wahl am 4. März verfolgte Rot-Rot-Grün das Vorhaben einer Minderheitsregierung auf Grundlage ihres Koalitionsvertrags weiter. Um die Wahl Ramelows zu ermöglichen und einen Ausweg aus der «fundamentalen Staatskrise» (Ramelow, 09.02.2020) zu finden, wurden intensive Gespräche mit einer Verhandlungsgruppe der CDU-Landtagsfraktion geführt. Diese wurden vor allem dadurch erschwert, dass die Konservativen strikt Neuwahlen verhindern wollten – vermutlich aus Angst vor dem absehbaren Verlust zahlreicher Mandate angesichts der desaströsen Umfragewerte. Selbst das Angebot, für schnelle Neuwahlen eine kurzzeitige Übergangsregierung unter der Führung der ehemaligen, über Parteigrenzen hinweg anerkannten CDU-Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht mit einem rot-rot-grünen Rumpfkabinett zu bilden, wurde abgelehnt.

Schließlich gelang es, einen schriftlich fixierten «Stabilitätspakt» zu verabreden: Die CDU würde einer Wahl Ramelows nicht mehr im Wege stehen und akzeptiert Neuwahlen im April 2021. Wichtig ist zu wissen: Für Neuwahlen braucht es eine 2/3-Mehrheit im Parlament, die ohne eine Verabredung zwischen LINKE und CDU nicht zu finden wäre. Verabredet wurde zudem ein massives Investitionsprogramm für die Kommunen, Maßnahmen der Schulpolitik und zur Förderung ländlicher Räume sowie parlamentarische Abläufe, unter anderem zur Aufstellung des Landeshaushaltes 2021. Eine solche schriftlich fixierte Vereinbarung zur Zusammenarbeit in beschränkten Fragen zwischen einer linksgeführten Koalition und der CDU auf Landesebene dürfte einmalig sein – ein weiterer Schritt, um das irrationale und auf der unwissenschaftlichen und antikommunistischen Extremismus-Theorie beruhende Mantra der «Äquidistanz» der Konservativen nach links und rechts zu untergraben. Allein die Überlegungen im Vorfeld der Wahl am 5. März, dass Abgeordnete der CDU für Ramelow stimmen könnten, und dass es Gespräche und eine Vereinbarung zwischen den Parteien gab, sorgte in der Bundes-CDU – speziell an deren rechtem Rand - für Schnappatmung. Der antikommunistische Reflex der alten Bundesrepublik schlug durch – am Ende ohne Erfolg.

Zeitfenster für Linke

Rückblickend war es ein Erfolg und ein Zeichen von politischer Stärke, Kemmerich zum Rücktritt gezwungen und den Griff nach der Macht zurückgeschlagen zu haben. Zu fragen ist jedoch: Gelingt das notfalls ein weiteres Mal oder war dieses Experiment nur ein Zwischenschritt zur weiteren Normalisierung der radikalen Rechten? Und würde die eindeutige, schnelle und konsequente Reaktion aus breiten Teilen der Gesellschaft, die sich entschieden gegen Kemmerich und hinter Ramelow stellten, auch in anderen Bundesländern gelingen, in dem das rot-rot-grüne Milieu und die Zivilgesellschaft schwächer und weniger stark in der Gesellschaft verankert sind?

Die politische und gesellschaftliche Linke sollte die Vorgänge analysieren, um sich auf ähnliche Szenarien in der Zukunft – möglicherweise schon bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt 2021 – vorzubereiten. Da hilft es, den Fall Thüringen taktisch durchaus als großen Erfolg zu werten, ohne dabei aber die Gefahren und unterschiedlichen Voraussetzungen in anderen Bundesländern zu vergessen. Denn die Wahl von Kemmerich hat klargemacht: Die AfD ist zu einem entscheidenden Player der parlamentarischen und institutionellen Politik geworden, sie kann das machtpolitische Zünglein an der Waage sein. Der reale Griff nach der Macht ist Teil ihres Plans und ihrer Vorhaben. Sie meinen ernst, was sie sagen – und sie tun, was sie sagen. Nicht umsonst hatte sich Höcke wenige Wochen vor der Wahl Kemmerichs noch in einer Rede im Thüringer Landtag bemüht, en Detail die politischen Schnittmengen aus den Wahlprogrammen von AfD, CDU und FDP herauszuarbeiten.

Die Linke, sowohl die Partei als auch linke Bewegungen und Initiativen, aber auch SPD und Grüne, sollten das Zeitfenster der Chancen nutzen. Die Analyse des Gegners ist notwendig – und das Stärken der Defensiv-Kräfte gegen die Rechte, also der Antifaschismus, auch. Zugleich darf der Blick auf die Gefahren und die künftige Abwehr aber den Blick auf den Erfolg nicht verstellen – und auf die Chancen, die sich bieten. CDU und FDP sind als mögliche Kräfte gegen den Rechtsruck nach der Wahl Kemmerichs desavouiert, auch wenn das Ringen um mögliche Bündnispartner*innen gegen rechts auch in diesen Parteien und Milieus nicht aufgegeben werden sollte.

Die Zeit der alten bundesrepublikanischen Volksparteien ist offenbar vorbei. Es gilt für DIE LINKE und die gesellschaftliche Linke, ihre eigenen Rollen angesichts der gesellschaftlichen und politischen Verschiebungen neu zu bestimmen und anzunehmen. Auf CDU und FDP ist kein Verlass. Es müssen also die eigenen handlungsfähigen Kräfte sein, die eine Brandmauer gegen rechts und für eine progressive Entwicklung der Gesellschaft ermöglichen. Die Linke muss sich stärker als bisher in ihren Analysen und ihrer Praxis der Frage von Macht widmen – der eigenen, und der Macht der Anderen. Und sie muss Fragen von konkreter Veränderung der Gesellschaft stärker in den Fokus zu rücken. Die Vorgänge in Thüringen haben bewiesen: Die andere politische Seite kennt auch in der Bundesrepublik keine Skrupel, selbst vorsichtige Versuche einer anderen und linken Politik, im Bündnis mit der radikalen Rechten zu stoppen. Gegen rechts, das heißt heute in den ostdeutschen Bundesländern vor allem auch das Stärken und Unterstützen von Linken, von Demokrat*innen, von antifaschistischen und antirassistischen Strukturen vor Ort – gerade in kleinen Orten und Städten.

Wenn wir zudem unsicher sind, ob ein solcher Griff nach der Macht von rechts auch beim nächsten Mal oder in einem anderen Bundesland noch einmal zurückgeschlagen werden kann, dann ist es jetzt die Aufgabe von Linken, sich ins politische Handgemenge zu begeben und eine linke Antwort zu formulieren. Die kann nur sein, für Mehrheiten links der »Mitte« nicht nur zu werben, sondern sie zu realisieren – auf allen Ebenen. Auch im Bund. Dafür braucht es allerdings eine breite Verständigung über Weg und Ziel – und es braucht politischen Mut und Souveränität. DIE LINKE in Thüringen hat das in den letzten 30 Jahren entwickelt und damit Stärke gewonnen. Mitte der 1990er Jahre hatte sie begonnen, ein linkes Reformkonzept und politische Bündnisstrategien zu diskutieren – und umzusetzen. Eine populäre, regierende Partei, die in Wahlen 31% der Stimmen erringt und bei Umfragen inzwischen ein Potential von 40% erreicht, hat andere Aufgaben als eine Oppositionspartei. Sie ist in ihrer Funktion auch linke Volkspartei.

Straße oder Regierung? Dreieck!

DIE LINKE sei «trotz so einiger folkloristisch wirkender Debatten weiter als vor 30 Jahren», schrieb Anna Lehmann in der «taz» über die aktuellen Debatten auf der Strategie-Konferenz der Partei DIE LINKE am 29. Februar und 1. März 2020 in Kassel. So bestreite heute «kaum noch jemand, dass es kein Widerspruch sein muss, regieren zu wollen und gleichzeitig der Straße verpflichtet zu bleiben» (taz, 02.03.2020) – ein Ansatz, den DIE LINKE in Thüringen seit Jahren praktiziert und in ihren Strategiepapieren und Leitanträgen festhält. Und tatsächlich scheint sich die innerparteiliche Debatten-Lage gewandelt zu haben. Mehrere erfolgreiche rot-rot-grüne Landesregierungen (Berlin, Bremen, Thüringen) sind praktische Hinweise darauf, ebenso die jüngsten Entwicklungen in Thüringen. So bemerkte «Spiegel Online» ob des «Dammbruchs» von rechts und den gesellschaftlichen Reaktionen auf die Wahl des FDP-Ministerpräsidenten mit den Stimmen von AfD, CDU und FDP einen «Ramelow-Effekt», der den Mitte-Links-Parteien und Debatten über die Zusammenarbeit auf der Linken «neuen Aufwind» verliehen habe (Spiegel Online, 12.02.2020). Die notwendige Kooperation gegen die radikale Rechte schweißt zusammen. Auch jüngste Umfrageergebnisse zeigen einen Trend: So sieht «Forsa» (29.02.2020) im Bund #r2g erstmals seit geraumer Zeit wieder bei 50 Prozent der Stimmen, «Emnid» (01.03.2020) immerhin bei 48 Prozent.

Mit Katja Kipping plädiert auch die Vorsitzende der Partei DIE LINKE offensiv für eine Verschränkung von Protest und Regieren als unterschiedliche Werkzeuge für ein Ziel: eine progressive Veränderung der Gesellschaft. In ihrem neuen Buch «Neue linke Mehrheiten» (Argument Verlag, 2020) schreibt sie dazu:

«Die Zukunft beginnt im Jetzt. Wer mitgestalten will, was morgen sein soll, muss heute damit anfangen. Lasst uns deshalb ins Gespräch kommen: über Wege in eine bessere Republik, ein besseres Europa, eine bessere Welt. Wir sollten reden über die politischen Hebel, ohne die sich die Dinge nicht bewegen lassen. Streiten wir solidarisch darüber, mit wem und wie wir das Heft des Handelns in die Hand bekommen können. Dieser Text ist eine Einladung zu neuen linken Mehrheiten. Darin liegt auch die Mahnung, sich der Frage der praktischen Umsetzung zuzuwenden. Es geht hier nicht um bloße parteipolitische Farbspiele, nicht um inhaltsleere Addition der Umfrageergebnisse von Parteien. Es geht um eine neue fortschrittliche Alternative, um ein alternatives Ordnungsangebot. Es geht darum, wie wir die sozialökonomische Wende einleiten können: in der Gesellschaft, im Alltag, bei der Arbeit, in der Schule und ja: auch in Regierungen. Neue linke Mehrheiten für eine neue soziale Demokratie brauchen auch eine neue Machtperspektive. Denn wir können Legitimation und Mobilisierungskraft nicht allein aus Abwehrkämpfen schöpfen, nicht allein aus der Klage über die Krisen, die uns plagen. Wer das Ruder herumreißen möchte, muss auch auf die Brücke wollen. Dorthin, wo einem der Wind heftig ins Gesicht wehen kann. (…) Zugleich reicht es längst nicht mehr aus, wenn Linke nur benennen, was ist bzw. was falsch läuft. Eine Linke auf der Höhe dieser Zeit muss mehr denn je im marxschen Sinne «Kritik im Handgemenge» leisten. Sie muss mehr wollen, als das Richtige zu sagen – sie muss es auch umsetzen wollen. Sie muss Regierung wagen. Auch deshalb müssen wir reden: darüber, wie ein Regieren in neuen linken Bündnissen möglich sein kann, das ernsthaft Verbesserung bringt. Dabei geht es nicht um Macht als Selbstzweck, sondern um einen Pfadwechsel.»

Kippings im Text noch leicht versteckten Hinweis auf «Macht» gilt es noch einmal deutlicher hervorzuheben. Denn Macht muss – und das haben die Ereignisse von Thüringen rund um die Nicht-Wahl von Bodo Ramelow durch einen rechten «Putsch» oder «Coup» gezeigt – verstanden werden, sowohl die Macht der Anderen als auch die eigene. Auf die Machtfrage verweist auch Anna Lehmann in der «taz» vor dem Hintergrund der immensen – und scheinbar kurzfristig nicht auflösbaren - Krise der Bundesregierung und der CDU: «Für die Linke ergibt sich gerade eine Möglichkeit aufs Mitregieren im Bund» (02.03.2020, taz). DIE LINKE sei aus dem Konflikt in Thüringen gestärkt hervorgegangen – politisch und moralisch, trotz weiterhin bestehender tiefschürfender Kontroversen in der Debatte um das Regieren.

Ein Weg, diese Debatte eventuell in einen produktiven Zusammenhang zu stellen, wäre die Erinnerung an die Idee des «strategischen Dreiecks». Auf dem 9. Parteitag der PDS (30./31. Oktober 2004, Potsdam) fand der Begriff Eingang in ein programmatisches Dokument der Partei:

«Für sozialistische Politik nach unserem Verständnis bilden Widerstand und Protest, der Anspruch auf Mit- und Umgestaltung sowie über den Kapitalismus hinaus weisende Alternativen ein unauflösbares strategisches Dreieck. (…) Im politischen System haben Parteien und Bewegungen unterschiedliche Funktionen. Wenn sie diese profiliert ausfüllen, gewinnen beide. Soziale Bewegungen brauchen Partner auf parlamentarischer Ebene, die sich dort für ihre Forderungen einsetzen. (…) Eine entscheidende Handlungsebene für die Verwirklichung unseres strategischen Dreiecks ist die Kommunalpolitik. Auch in den Kommunen werden wir unseren Anspruch auf Mit- und Umgestaltung realisieren. Hier entwickeln sich Protest und Widerstand von unten aus konkreten Problemen heraus und werden Lösungs- und Gestaltungsansätze entwickelt und umgesetzt. Hier werden neue, alternative Varianten direkter Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern erprobt und eingeführt. (…) Wer sich als politische Partei zur Wahl stellt, die Entwicklungen im Land sozial prägen und die Gesellschaft zu mehr Gerechtigkeit und Demokratie verändern will, muss auch bereit sein, gegebenenfalls Regierungsverantwortung zu übernehmen. (…) Dazu haben wir uns programmatisch bekannt - in dem Wissen, dass insbesondere die Beteiligung an Koalitionen auf Länderebene stets in einem Spannungsfeld zwischen eigener Programmatik, den Erwartungshaltungen der Mitglieder und Wählerinnen und Wähler, den Hoffnungen vieler Bürgerinnen und Bürger einerseits sowie den vorhandenen Ressourcen und dem politisch Durchsetzbaren andererseits erfolgt. (…) Die PDS hat, stets ausgehend vom erreichten Kräfteverhältnis, zu prüfen und zu entscheiden, in welcher Rolle sie kurz-, aber auch langfristig im Sinne ihres Programms größeren Einfluss auf die Politik nehmen kann: als starke parlamentarische Opposition oder als Koalitionspartner jeweils in Kooperation mit außerparlamentarischen Kräften. Koalition um jeden Preis führt politisch ebenso in die Irre wie Opposition um der Opposition willen. Die Beteiligung an einer Regierung ist nicht prinzipiell auszuschließen. Sie ist aber auch nicht alternativlos zu vollziehen, wenn nur die rechnerischen, aber nicht die politisch-inhaltlichen Voraussetzungen dafür gegeben sind. (…) Alles Neue beginnt mit Kritik und Protest gegen das Bestehende. Eine sozialistische Partei ist eine Partei, die Neues will. Deswegen zählen wir zu den Kräften, die Protest organisieren und Alternativen entwickeln. Beides gehört zusammen. Ohne Druck auf Veränderung haben Alternativen keine Chance - und ohne das Wissen, dass eine andere Politik möglich ist, erlahmt die Widerstandskraft.»

Die Ereignisse in Thüringen haben gezeigt, dass diese Beschreibung auf Realität getroffen ist. Es braucht eine handlungsfähige, starke Linke mit programmatischer Idee, die eingebunden ist in ein Netz aus expliziten oder funktionalen Bündnispartner*innen in Politik, Gewerkschaften, sozialen Bewegungen, Verwaltungen und Medien. So kann es gelingen, dem Griff der radikalen Rechten nach der Macht etwas entgegen zu setzen und aus eigener Stärke Gesellschaft und Politik zu gestalten. Es braucht eine populäre, linke Volkspartei.