Nachricht | Geschichte - Erinnerungspolitik / Antifaschismus - 8. Mai 1945 «Vision einer antifaschistischen Perspektive»

Zur Tagung «75 Jahre Befreiung vom Faschismus. Zu den Perspektiven des Erinnerns»

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Yves Müller,

Auftaktpanel: «75 Jahre danach»
Auftaktpanel: «75 Jahre danach: Fragen der Entschädigung und Aufarbeitung» mit Martin Klingner, Anika Taschke, Jan Korte und Dr. Christine Glauning CC BY-ND 1.0, Foto Florian Grams

Am 27. Januar 1945 erreichten Rotarmisten auf ihrem Vormarsch nach Berlin das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz und befreiten tausende überlebende Häftlinge. Keine drei Monate später begann die Schlacht um die deutsche Reichshauptstadt. Am 8. Mai 1945 trat die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht in Kraft. Heute gilt das Datum vielen Menschen als «Tag der Befreiung». Das Datum wird in Frankreich, Tschechien und der Slowakei begangen, während man in Italien den 25. April und in der Niederlande den 5. Mai als Befreiungstage begeht. Im Bundesland Berlin wird der 75. Jahrestag am 8. Mai 2020 einmalig gesetzlicher Feiertag sein. In Russland und vielen GUS-Staaten, aber auch in Serbien und auf den britischen Kanalinseln Jersey und Guernsey ist der 9. Mai, der «Tag des Sieges», gesetzlicher Feiertag.

Am 21. und 22. Februar trafen sich nun haupt- wie ehrenamtlich Aktive aus der Gedenkstättenpraxis und Historiker*innen in Hannover, um über die Zukunft des Erinnerns an den Nationalsozialismus angesichts der vielfältigen Herausforderungen zu sprechen. So müssen sich die Formen der Vermittlung ändern, wenn immer weniger Zeitzeug*innen in der Lage sind, über das Geschehene zu berichten. Die Gesellschaft hat sich in den vergangenen Jahren gewandelt und auch die Erinnerungskultur steht vor der Herausforderung, zeitgemäß zu bleiben. Im Zentrum der Diskussionen stand aber – angesichts des Anschlags in Hanau und des Skandals um die Ministerpräsidentenwahl in Thüringen – immer wieder die Gefahr der rechten Angriffe auf die Erinnerungskultur.

Eine Podiumsdiskussion mit Christine Glauning (Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit), Rechtsanwalt Martin Klingner (AK Distomo) und MdB Jan Korte (Fraktion DIE LINKE) sollte das Feld ausbreiten. Nach einleitenden Worten von dem Leiter des Historischen Zentrums der Rosa Luxemburg Stiftung, Albert Scharenberg, führte Anika Taschke (Referentin für Zeitgeschichte und historisch-biographisches Lernen) in die Diskussion ein. Deutlich wurde, dass die erinnerungskulturellen Auseinandersetzungen in Deutschland und die Entschädigungsverfahren gegen die Bundesrepublik untrennbar miteinander verbunden sind. Sie müssen zusammen gedacht werden, wenn die geschichtspolitische Tragweite der aktuellen Rechtsverschiebung erkannt werden soll.

Seit 1995 sind Gerichte in vier Staaten mit der juristischen Verfolgung des Massakers in dem griechischen Dorf Distomo befasst. Der jahrzehntelange Unwillen noch jeder Bundesregierung, Entschädigung zu leisten, führe zu einer zweiten Viktimisierung der Überlebenden und ihrer Angehörigen. «Das Leid hört ja nie auf», so Martin Klingner, der sich im Arbeitskreis Distomo für die Opfer und Hinterbliebenen einsetzt. Zwar fühlen sich deutsche Gerichte bis heute nicht zuständig, aber ein griechisches Gericht urteilte, dass Deutschland Reparationszahlungen in Millionenhöhe leisten müsse. Während der Ausgang der Verfahren ebenso offen sie wie die Frage der Vollstreckung der bereits rechtskräftigen Urteile gegen die Bundesrepublik, sei eines klar: Das Thema werde die Bundesregierung nicht mehr loslassen.

Auch andere Opfergruppen wie Zwangsarbeiter*innen sind lange von jeglichen Entschädigungsleistungen ausgeschlossen worden. Die italienischen Militärinternierten haben bis heute keine Entschädigung erhalten, so Christine Glauning. Ebenso hinke die juristische Verfolgung der NS-Verbrechen hinter den «Meilensteinen» in der historischen Aufarbeitung hinterher. Tatsächlich leisten KZ-Gedenkstätten bundesweit pädagogische und wissenschaftliche Arbeit auf hohem Niveau und sind wichtige Zentren der Demokratieerziehung und historisch-politischen Bildung. Sie nehmen damit eine wichtige Funktion ein, die Glauning markant in Worte fasst: «Mir sind Debatten lieber als Denkmäler». Dabei machte sie auch auf Defizite aufmerksam, denn an deutschen Hochschulen ist die Geschichte des Nationalsozialismus und der Shoa bis heute in Forschung und Lehre nicht fest verankert.1 Außerdem fehlt eine Bundesstiftung zur Aufarbeitung der Verbrechen des NS-Regimes.

Jan Korte trug mit einer geschichtspolitischen Einordnung zur Diskussion bei. Er wies darauf hin, dass eine Anerkennung der Verbrechen stets erstritten werden musste. Während in der Bundesrepublik der Antikommunismus den ideologischen Kitt für die Ausblendung bzw. Relativierung der NS-Vergangenheit bot, übte auch der Antifaschismus in der DDR eine exkulpatorische Funktion aus, indem er die DDR-Bürger*innen aus der Verantwortung der eigenen Verwobenheit mit dem NS-Regime entließ.

Der zweite Tag wurde durch die Geschäftsführerin der Rosa Luxemburg Stiftung, Daniela Trochowski, und MdEP Martin Schirdewan (Fraktion GUE/NGL) eingeleitet. Schirdewan erläuterte die europäischen Dimensionen in der Rechtsverschiebung der Erinnerungskultur am Beispiel des in Brüssel von der Europäischen Union installierten Haus der europäischen Geschichte, in dem das Totalitarismusnarrativ hegemonial ist.

Es folgten verschiedene Workshops zum «Erinnern mit Migrant*innen» (Iman Attia, Professorin an der Alice-Salomon-Hochschule), über «Digitale Erinnerungs- und Gedenkformate» (Christoph Mayer, Audioweg Gusen) über Täterschaften (Karin Heddinga, Gedenkstätte Neuengamme) sowie den «Umgang mit Rechten in Gedenkstätten». In letztgenanntem Workshop diskutierten Matthias Heyl, pädagogischer Leiter der Gedenkstätte Ravensbrück, und Matthias Müller (Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin) über wachsende Herausforderung des Umgangs mit geschichtsrevionistischen Provokationen und rechten Besucher*innen-Gruppen. In der Gedenkstätte Sachsenhausen beispielsweise kämen immer häufiger Gruppen der AfD-Bundestagsfraktion. Verstärkt komme es zudem zu Kranzniederlegungen durch rechte Kreise. Mit ihrer Besuchsordnung will sich die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten gegen rechte Vereinnahmungsversuche wappnen.2 Auch Besuche nationalistischer Gruppierungen aus Polen, die ‚ihrer‘ Opfern gedenken, stellen Gedenkstätten gelegentlich vor Herausforderungen. Müller empfahl, sich mit den geschichtspolitischen Paradigmen der extremen Rechten zu befassen. Durch gezielte erinnerungspolitische Grenzverletzungen werden rechte Diskursräume eröffnet. In ihrer Broschüre «Nur Schnee von gestern? – Zum Umgang mit dem Kulturkampf von rechts in Gedenkstätten und Museen» (PDF) gibt die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin (MBR) dafür nützliche Hinweise.

Auf der anderen Seite werde an Gedenkstätten oft eine unrealistische Erwartungshaltung zum Ausdruck gebracht. So sei es nicht möglich, gleich einer «gedenkstättenpädagogischen Marienerscheinung», rechte und rassistische Vorurteile zu beheben. Pädagogische Projekte über Täterschaft und gesellschaftliche Teilhabe im Nationalsozialismus könnten helfen, solchen kurzfristigen Effekten vorzubeugen, wie Heyl in der anschließenden, von Caro Keller (NSU Watch) moderierten Podiumsdiskussion vorschlug. Die Krefelder NS-Dokumentationsstelle Villa Merländer, von Sandra Franz vertreten, geht bereits mit gutem Beispiel voran, indem man dort Bildungspartnerschaften mit Schulen aufbaut.

Im abschließenden Podium zu den Perspektiven der Erinnerungsarbeit in Deutschland diskutierten Elke Gryglewski, die die Bildungsabteilung der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannseekonferenz leitet, und Ulrich Schneider (Bundessprecher der VVN/BdA). Muss das Gedenken neu gestaltet werden? Was machen, wenn die Perspektive der Zeitzeug*innen nicht mehr eingebracht werden kann? Wie können sich Erinnerungskulturen weiterentwickeln? Gryglewski forderte Multiperspektivität in der Erzählung der Geschichte der NS-Verbrechen ein, während Schneider für eine lokalen «Verortung» des Erinnerns in der Arbeit mit Jugendlichen plädierte. Die deutsche Erinnerungskultur müsse einerseits den nationalen Standpunkt verlassen und die globale Dimension in den Blick nehmen. Andererseits sei die aktuell wahrnehmbare Politisierung der jungen Generation auch eine Chance. So müsse nicht allein eine Opfer-, sondern vor allem eine Akteurs-Perspektive transportiert werden. Die antifaschistischen Widerstandskämpfer haben schließlich gehandelt. Dies biete die Chance, so Schneider die «Vision einer antifaschistischen Perspektive» zu entwickeln.

Siehe auch das vollständige Programm des Symposiums (PDF).