Nachricht | Afrika - Südliches Afrika Namibia nach 30 Jahren Unabhängigkeit

Die Namibier*innen warten weiter auf Umverteilungsgerechtigkeit

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Markt in Windhoek

Vor seiner Unabhängigkeit, also zur Zeit der kolonialen Apartheid, belegte Namibia Platz zwei auf der weltweiten Ungleichheitsskala. Davor lag  nur Südafrika, der damals in Namibia herrschenden Kolonialmacht. Sozioökonomische Ungleichheiten, die in der politischen Ökonomie des Apartheidkolonialismus wurzeln, haben die namibische Gesellschaft stark geprägt. Was hat sich nach 30 Jahren Unabhängigkeit geändert? Kaum etwas! Namibia ist noch immer das Land mit der zweitgrößten Ungleichheit weltweit. Ein zentraler Faktor ist dabei weiterhin die (Ungleich-)Verteilung des Landbesitzes, deren leidvolle Geschichte weit zurückreicht.

Romie Nghitevelekwa ist Sozialanthropologin am Institut für Soziologie, Universität von Namibia. Sie forscht u.a. über die differenzierten Bedeutungen von Land und die Komplexität der Landrechte in den kommunalen Gebieten Namibias.

Die (Ungleich-)Verteilung des Landbesitzes nach rassistischen Kriterien ist eine Folge der Enteignungsprozesse, die 1883 ihren Anfang nahmen, als der deutsche Kaufmann Adolf Lüderitz dem Nama-Kaptein Josef Frederiks die ersten Landstücke abkaufte. Die dabei angewandte Vorgehensweise lässt sich mit Fug und Recht als Betrug durch irreführende Geschäftshandlungen beschreiben (und ist auch als sogenannter «Meilenschwindel» bekannt geworden). Das erste Geschäft drehte sich um ein Gebiet, das fünf deutsche geographische Meilen umfasste und für 100 Britische Pfund und 200 Gewehre verkauft wurde. Dem folgte der Verkauf eines Küstenstreifens, der vom Oranje-Fluss aus rund 222 Kilometer entlang der Küste verlief, ungefähr 20 deutsche geografische Meilen ins Landesinnere reichte und für 500 Pfund und 60 Gewehre erworben wurde. Bei diesen Geschäften handelte es sich, ebenso wie in vielen anderen Fällen, um direkte Abmachungen zwischen deutschen Kaufleuten und ansässigen lokalen Führern. Sie behielten ihre Gültigkeit bis 1898, als die deutsche Kolonialverwaltung begann «Reservatsgebiete» für die schwarze Bevölkerung einzuführen. Damit schuf man einen formalen politischen Rahmen für die Landübereignungen durch den privaten Landerwerb von der ansässigen Bevölkerung und für die unter Gewaltanwendung durchgeführten Landbeschlagnahmungen.

Als Südafrika 1915 die Verwaltung des heutigen Territoriums von Namibia übernahm, waren 11.490 Hektar der Agrarfläche im Besitz deutscher Siedler. Der Prozess der Ent- und Übereignung von Land hörte mit dem Ende der deutschen Kolonialherrschaft nicht auf, sondern wurde von der südafrikanischen Verwaltung fortgeführt. Tatsächlich nutzte Südafrika das namibische Gebiet als Teil seiner Siedlungspolitik, und zwar, um seine «verarmte weiße Bevölkerung» dorthin umzusiedeln. Bis 1926 hatte man etwa 880 Farmen an 1.106 weiße südafrikanische Siedler*innen zugeteilt, die somit eine Fläche von 7,5 Millionen Hektar besiedelten. Bis 1962 waren 39,8 Millionen Hektar Land in den Besitz von Weißen übergegangen. Einige besonders unbeliebte Gebiete gab man auf Empfehlung der Odendaal-Kommission an die schwarze Bevölkerung zurück – und erklärte damit den auf Rassentrennung basierenden Prozess der Landverteilung für abgeschlossen.

Als Namibia 1990 die Unabhängigkeit erlangte, verfügten Weiße über 36,2 Millionen Hektar Land und Schwarze über 33,5 Millionen Hektar. Ein eklatanter Aspekt der Ungleichheit war dabei, dass das Land im Besitz von Weißen von nur ungefähr 4.200 Haushalten bzw. weniger als 5 Prozent der Bevölkerung genutzt wurde, während die übrigen 33,5 Millionen Hektar 150.000 Haushalten bzw. 70 Prozent der Bevölkerung als Lebensgrundlage dienten. Dieses (Miss-)Verhältnis in der Landverteilung schrie förmlich nach Umverteilungsmaßnahmen – und ließ daher auch Forderungen nach Umverteilungsgerechtigkeit laut werden. Die Auseinandersetzung mit sozioökonomischen Ungleichheiten und/oder ungerechten sozioökonomischen Strukturen war Teil des politischen Programms der SWAPO während des Befreiungskampfs. Einige haben diese Fragen als «sozialistische» Rhetorik abgetan. Mit dem Tag der Unabhängigkeit am 21. März 1990 brach eine neue Ära an, die für die Namibier*innen nicht nur Selbstbestimmung und Freiheit vom Joch des Kolonialismus bedeutete, sondern sie auch vor die Aufgabe stellte, distributive Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten zu überwinden. In seiner Vereidigungsrede am Tag der Unabhängigkeit betonte Sam Nujoma, der erste Präsident der Republik Namibia, die Unabhängigkeit gehe mit der großen Verantwortung einher, die mühsam erkämpfte Freiheit zu verteidigen und darüber hinaus hohe Standards der Gleichheit und Gerechtigkeit zu setzen und einzuhalten. Solche Einschätzungen waren tatsächlich treffend, wenn man bedenkt, dass das Erbe des Kolonialismus und apartheidbedingter Ausbeutung in der kürzlich unabhängig gewordenen Nation fortlebte, nämlich in Form frappierender Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten, die dringend angegangen werden mussten.

Eine erste entscheidende Diskussion beim Aufbau der unabhängigen Nation drehte sich darum, wie man die redistributiven Forderungen erfüllt, die auf «eine gerechtere Verteilung von Ressourcen und Wohlstand abzielen». Regierung, Zivilgesellschaft und namibische Bevölkerung zeigten sich durchaus entschlossen, am Status quo zu rütteln und die bestehenden Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten in der Landverteilung anzugehen. Beleg dafür ist, dass man nach der Unabhängigkeit erstmals eine Konferenz zur Landfrage im Jahr 1991 einberief und dort 24 Konsens-Resolutionen verabschiedete. Elf davon waren strategische Ansätze zur Umverteilungsgerechtigkeit und bezogen sich unter anderem auf Aspekte wie ungerechte Landverteilung, das Verbot von ausländischem Landbesitz, die Verringerung der Anzahl und Größe der Farmen, die Enteignung von Land im Besitz nichtansässiger Eigentümer*innen, die Enteignung von unzureichend genutztem Land und die Stärkung der Rechte von Farmarbeiter*innen. Andere Resolutionen bezogen sich auf Grundbesitzreformen in kommunalen Gebieten. Letztere bestehen parallel zu den Freehold Areas, in denen das Land durch Besitzurkunden gesichertes Privateigentum ist. Die namibische Bevölkerung lebt mehrheitlich in kommunalen Gebieten und bekommt von traditionellen Verwaltungen Land zur Verfügung gestellt. Diese Gebiete haben, wie Wolfgang Werner es nennt, unterschiedliche administrative Inkarnationen durchlaufen – zunächst waren sie Reservate, dann Homelands und schließlich kommunales Land. 

Die Landkonferenz und ihre Konsens-Resolutionen legten die Grundlage für die darauffolgende Landreform, die im Gesetz zur (kommerziellen) Agrarlandreform von 1995 umgesetzt wurde. Dieser kurz nach der Unabhängigkeit unternommene Schritt verdeutlichte, dass die Verteilungsgerechtigkeit hinsichtlich des Landbesitzes in Namibia ein zentrales Anliegen ist. Zu diesem Zweck wurden noch weitere politische, rechtliche und institutionelle Instrumente umgesetzt, darunter etwa die Änderung des Landwirtschaftsgesetzes von 1991, das um das Gesetz zur Schaffung der Agribank Namibia von 2003 erweitert wurde; das zur Subventionierung von Krediten eingeführte Affirmative Action Loan Scheme von 1992; und die Nationale Umsiedlungsstrategie von 2001. Mit dieser Reihe von Instrumenten hat sich die Regierung in beachtlicher Weise um die Umverteilung von Land an zuvor benachteilige Namibier*innen bemüht gezeigt.

Am 21. März 2020 feiert Namibia 30 Jahre Unabhängigkeit. Nach drei Jahrzehnten gilt es nun, die Versprechen, die wir uns selbst im Jahr 1990 gegeben haben, Revue passieren zu lassen. Wir müssen uns näher anschauen, welchen Pfad wir eingeschlagen haben, um mehr Gerechtigkeit in puncto Landbesitz bzw. Umverteilungsgerechtigkeit zu erreichen. Eine entscheidende Frage lautet dabei: Welche Bilanz hat unsere Landreform hinterlassen? Die Antworten auf solch wichtige Fragen sorgen bei vielen Namibier*innen leider nicht gerade für Begeisterung. Die Situation bei der Landverteilung ist nahezu unverändert geblieben. Derzeit gelten 48 Prozent der Landfläche in Namibia als kommerziell genutzte Agrarfläche, 17 Prozent sind in staatlichem Besitz, und 35 Prozent sind kommunale Gebiete. Im Mittelpunkt der Umverteilungsdebatte steht die kommerziell genutzte Agrarfläche. Doch zu den Schlüsselfragen zählt ebenso, was sich mit Blick auf die allgemeinen Landbesitzrechte getan hat und auch hinsichtlich der Besitzverteilung nach Nationalität sowie der Landbesitzverhältnisse zwischen einst bevorteilten und benachteiligten Gruppen – oder, anders gesagt, den Besitzverhältnissen hinsichtlich der Kategorien Ethnizität, Geschlecht und Klasse. Die Hälfte der kommerziell genutzten Agrarfläche ist weiterhin im Besitz von Einzelpersonen: 250 Farmen, die insgesamt eine Fläche von 1,2 Millionen Hektar beanspruchen, befinden sich in ausländischem Besitz, wobei noch gravierender ist, dass 70 Prozent der kommerziell genutzten Agrarfläche im Besitz von Nachfahren der weißen Siedlerbevölkerung sind, die offiziell als «vormals bevorteilte Personengruppe» bezeichnet werden.

Was vielen Namibier*innen zusätzlichen Frust bereitet, ist, dass Land weiterhin an ausländische Interessenten verkauft wird, die zumeist die höchsten Gebote abgeben. Davon betroffen sind besonders diejenigen Namibier*innen, die ihr Vieh in den Korridoren zwischen den kommerziellen Agrarbetrieben weiden lassen; diejenigen, die immer wieder verbannt werden, weil das einzige ihnen zur Verfügung stehende Land in Townships umgewandelt wird; oder die vielen landlosen Namibier*innen, die das Land wirklich gebrauchen könnten. Viele verärgert es, dass das zum Zwecke der Umverteilung erworbene Land größtenteils der politischen Elite zugutegekommen ist, weshalb auch immer wieder öffentlich gefordert wird, die Profiteure der Umsiedlungspolitik zu entlassen. Angesichts dieser Dynamiken sind rassistisch bedingte Ungleichheiten bei der Landverteilung für viele Namibier*innen nicht mehr die einzige Sorge. Auch klassenbasierte Ungleichheiten fallen mittlerweile ins Gewicht, ganz abgesehen von geschlechtsspezifischen Ungleichheiten. Von den 4.922 Staatsbürger*innen in Besitz kommerziell genutzter Agrarfläche sind 77 Prozent Männer, während Frauen nur 23 Prozent ausmachen. Die Forderungen nach Umverteilungsgerechtigkeit drehen sich daher ebenso sehr um die Geschlechterfrage wie um Fragen der Klasse und Ethnie, wobei sie zuletzt auch um Forderungen nach Generationengerechtigkeit erweitert wurden. Das vorläufige Fazit lautet jedoch, dass die redistributive Landreform nicht die geforderte Gerechtigkeit gebracht hat – stattdessen besteht der Status quo weiterhin.

Dazu kommt ein weiterer Punkt: Die Frage der Landumverteilung bezieht sich nicht mehr nur auf kommerziell genutztes Agrarland. Die Ungleichverteilung von Land betrifft mittlerweile auch kommunale Gebiete. Im Laufe der Jahre haben viele gesellschaftliche Akteur*innen – vor allem Eliten und Reiche – in einem als «Landaneignung» (en. «land grabbing») bezeichneten Prozess große Teile kommunaler Gebiete eingezäunt und in Privatbesitz überführt. Natürlich geschieht das auf Kosten der übrigen Nutzer*innen dieser kommunalen Gebiete. Das alte «unberührte Land», das den Nutzer*innen kommunaler Gebiete als Weideland für ihr Vieh diente, ist zu Privateigentum geworden. Wenige Einzelpersonen sind nun im Besitz von mehr als 5.000 Hektar kommunaler Fläche, während anderen nur drei Hektar oder weniger zur Verfügung stehen, wenn sie denn überhaupt Zugang zu dem Land haben. Diese Ungleichheit ist unübersehbar und sorgt in Namibia für gesellschaftliche Spannungen. Die Konflikte um Weiderechte und Landaneignungen in der westlichen Region Kavango sind in Namibia noch gut in Erinnerung. Farmer*innen aus dem mittleren Norden (vorwiegend aus den Regionen Oshikoto und Ohangwena) hatten dort Land eingezäunt, das sie seit 1992 als Weidefläche nutzten. 2004 wies die traditionelle Uukwangali-Verwaltung die den Ovambo angehörigen Farmer*innen dazu an, das Gebiet zu verlassen. Der Fall kam vor Gericht, wurde zugunsten der traditionellen Verwaltung entschieden und führte 2005 zu einem Räumungsbefehl. Bis heute sind der westliche Teil der Region Kavango und die Gebiete im mittleren Norden durch einen Zaun getrennt. Zudem betrifft die Landfrage mittlerweile auch den städtischen Raum. Viele Namibier*innen – sogar die aus der gerühmten Mittelschicht, ganz zu schweigen von den geringverdienenden und den am Existenzminimum lebenden Menschen – können sich weder Grundbesitz noch Wohnraum leisten. Die Landfrage hat sich in 30 Jahren der Unabhängigkeit zu einem nationalen Problem entwickelt. Wir stehen am Anfang eines neuen Kapitels und eines neuen Jahrzehnts, und die Namibier*innen hoffen weiter auf Umverteilungsgerechtigkeit, doch die Ungleichheiten sind auch heute noch von beträchtlichem Ausmaß. Nun gilt es, alle emanzipatorischen Kräfte zusammenzubringen, damit von der Hoffnung auf redistributive Gerechtigkeit nicht nur die Hoffnung bleibt.

 
[Übersetzung von Utku Mogultay und Katharina Martl für Gegensatz Translation Collective]