Nachricht | Geschlechterverhältnisse - Asien - Palästina / Jordanien - Feminismus für alle - Westasien im Fokus Teil der revolutionär-feministischen Tradition

Ein Gespräch über die neue palästinensische feministische Initiative Tal’at

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Autor*innen

Riya Al-Sanah , Sari Harb,

Palästinensische Frauen der neuen feministischen Bewegung Tal'at protestieren am 26. September 2019 in Ramallah
Palästinensische Frauen der feministischen Bewegung Tal'at protestieren am 26. September 2019 in Ramallah Foto: Tal'at

Im September 2019 protestierten tausende palästinensischer Frauen auf den Straßen von Jerusalem, Haifa, Rafah-Gaza, Ramallah, Beirut, Berlin und anderen Städten gegen die steigende Femizidrate und die Unterdrückung von Frauen im Allgemeinen. Diese Demonstrationen waren die Geburtsstunde einer neuen palästinensischen feministischen Bewegung, Tal’at, was auf Arabisch «Frauen gehen raus» bedeutet. Sari Harb, Programmmanager des Regionalbüros Palästina und Jordanien der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Ramallah, sprach mit der Tal’at-Aktivistin Riya Al-Sanah über die neue Initiative und ihre Relevanz für die palästinensische Gesellschaft.
 

Sari Harb: Wieso braucht es eine neue feministische Initiative?

Riya Al-Sanah: Der Kampf gegen geschlechtsbezogene Gewalt und das Patriarchat ist ein globaler Kampf. Wenn es darum geht, gegen diese Realität anzukämpfen, werden Frauen ausgegrenzt, und uns wird andauernd gesagt, unser Kampf für Emanzipation und Gerechtigkeit sei zweitrangig gegenüber wichtigeren politischen Fragen ist. So entsteht eine falsche Dichotomie zwischen politischen und sozialen Kämpfen.

Riya Al-Sanah ist Tal’at-Aktivistin und Wissenschaftlerin mit Schwerpunkt auf politischer Ökonomie.

Palästina ist hier keine Ausnahme, und vielleicht ist das Problem im Kontext des antikolonialen Kampfes sogar akuter. Seit mehr als sieben Jahrzehnten übt das israelische Regime des Siedlerkolonialismus direkte Gewalt gegen die palästinensische Bevölkerung aus. Wir werden geografisch gespalten, und unsere Gemeinschaften werden sozial und politisch abgeriegelt.

Tal’at stellt die sozialen Verhältnisse in palästinensischen Gemeinden in diesen größeren Kontext der systematischen Gewalt. Der Kampf für die Emanzipation von unterdrückten und marginalisierten Gruppen wird so zur inhärent politischen Frage, die das palästinensische Gemeinwesen als ungeteiltes Ganzes umfasst. Wir bemühen uns, die Erfahrungen und Geschichten von Frauen sichtbar zu machen und in den Mittelpunkt zu stellen, um unseren Befreiungskampf praktisch und theoretisch zu formen.

So füllt Tal’at eine Lücke in der politischen und feministischen Landschaft Palästinas. Unser Befreiungskampf war auf den Bezugsrahmen des «neoliberalen bürokratischen Staatsaufbaus» beschränkt und auf die Verwirklichung von Teilrechten für die verschiedenen Teilgruppen des palästinensischen Volkes – für die im besetzten Westjordanland, die im belagerten Gazastreifen, die Inhaber*innen der israelischen Staatsbürgerschaft und die über sechs Millionen palästinensischen Geflüchteten – die alle isoliert voneinander sind. Die palästinensische politische Bewegung, einschließlich der Frauenorganisationen, spiegelt diese zerrüttete Realität wider und vertieft sie noch.

Momentan ist Tal’at die einzige feministische Bewegung in Palästina, die palästinensische Frauen – trotz ihrer zersplitterten Geografien und vielfältigen gelebten Erfahrungen – unter einem einzigen, explizit politisch-feministischen Dach vereint.

Wie ist Tal’at organisiert?

Tal’at wurde am 26. September 2019 von tausenden Frauen aus zwölf verschiedenen palästinensischen Communities auf die Straße getragen. Die Demonstrant*innen erhoben ihre Stimme gegen Femizide, häusliche Gewalt und alle Formen von Unterdrückung, unter denen palästinensische Frauen leiden.

Die Aktionen wurden von unabhängigen Frauengruppen organisiert, bei denen das Hauptmotto von Tal’at Widerhall fand: «Es gibt kein freies Heimatland ohne freie Frauen». Manche von uns kannten sich bereits, aber viele auch nicht. Manche hatten sich zuvor schon politisch organisiert, aber für viele war es ihre erste Erfahrung. Nach der Aktion am 26. entstanden aus diesen spontanen Kollektiven Ablegergruppen, die sich der politisch-feministischen Organisation unter dem Banner von Tal’at verschrieben haben.

Von Anfang an setzten wir auf dezentralisierte und inklusive Organisationsprinzipien. Wir organisieren uns also auf zwei Ebenen: (1) lokale Ableger, die ihre eigenen lokalen Prioritäten setzen, und (2) nationale Arbeitsgruppen, die Repräsentant*innen aus allen unseren aktiven Ablegern einbeziehen. So stellen wir sicher, dass die Vielfalt unserer gelebten Erfahrungen sich in unseren kollektiven Strategieplanungs- und Entscheidungsprozessen widerspiegelt.

Dezentralisierung und Inklusion sind nicht bloß Organisationprinzipien. Sie sind Leitbild für unser Engagement mit der breiteren palästinensischen Community. Wir streben danach, eine Bewegung zu sein, die sich mit den Anliegen und Bedürfnissen aller palästinensischen Frauen auseinandersetzt und diese artikuliert.

Inwiefern verfolgt Tal’at einen intersektionalen und transnationalen Ansatz?

Unsere gelebte Realität zwingt uns dazu, die strukturellen Ursachen unserer Unterdrückung und Enteignung zu sehen und antikoloniale und antikapitalistische Analysen so zusammen zu bringen.

Zwar mag sich unsere Unterdrückung in einer Weise manifestieren, die unserem speziellen Kontext entspricht, aber uns ist klar, dass diese Prozesse Teil eines ungerechten und weltweit ausbeuterischen Systems sind. Wir positionieren uns als Teil einer breitgefächerten revolutionär-feministischen Tradition und daher knüpfen wir direkte Beziehungen und sind solidarisch mit jenen, die ebenso der Grausamkeit des gegenwärtigen Systems ausgesetzt sind, in dem wir leben.

Was sind eure Hauptforderungen?

Wir sind keine Reformbewegung, die institutionelle Forderungen an die uns beherrschenden, kriminellen Strukturen stellt, sei es die palästinensische Autonomiebehörde oder das israelische Regime. Unsere Bewegung richtet sich an unsere Leute und möchte unsere eigene kollektive soziale und politische Basis aufbauen. Dieser Prozess des kollektiven Aufbaus und solidarischen Handelns ist Teil eines radikalen Heilungsprozesses, der uns den Weg ebnet, hin zu einem freien und sicheren Heimatland und einer auf Gerechtigkeit und Emanzipierung gegründeten Befreiung.
 

[Übersetzung von Vincenzo Döring & Utku Mogultay für Gegensatz Translation Collective.]