Kommentar | Geschlechterverhältnisse - International / Transnational - Corona-Krise - Reproduktive Gerechtigkeit Erleben wir den Durchbruch des Feminismus?

Warum Sorgearbeit nicht nur in der Krise systemrelevant ist

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Alex Wischnewski,

Sperrzone in Italien
Bewohner*innen applaudieren am Fenster ihrer Wohnung den Ärzt*innen, Sanitäter*innen und Pflegekräfte (Rom, 14.3.2020). picture alliance / Pressebildagentur ULMER

Manch eine mag sich derzeit die Augen reiben. Bei einer der letzten Gelegenheiten füllten hundertausende Feminist*innen in vielen Ländern am 8. März – dem internationalen Frauen*kampftag – noch die Straßen, um unter vielem anderen für eine bessere Anerkennung und Absicherung von Sorgearbeiten zu demonstrieren. So wie sie es schon seit Jahrzehnten problematisieren und fordern. Wenige Tage später gelten Sorge-Berufe als «systemrelevant», klatschen allabendlich Bürger*innen vom Balkon den neuen Held*innen zu, bilden sich solidarische Nachbarschaftshilfen. Hat das Corona-Virus also womöglich – auf dramatische Weise – dem Feminismus zum Durchbruch verholfen?

Alex Wischnewski arbeitet für die Rosa-Luxemburg-Stiftung zu transnationalen feministischen Bewegungen. Sie hat das Netzwerk Care Revolution und die Plattform #keinemehr mitgegründet und ist aktiv in der Partei Die LINKE.

Man ahnt es schon, so einfach ist es natürlich nicht. Vieles ist noch unklar, reaktionäre Kräfte benutzen die Situation für das, was sie schon lange wollten, aber auch linke und soziale Bewegungen sind der Situation nicht einfach ausgeliefert. Die Corona-Krise hat ein Aufmerksamkeitsfenster für klassische feministische Formulierungen geöffnet, deren Wirkungskraft ab jetzt verhandelt wird.

Zunächst zeigt uns die Krise, dass wir alle auf die Sorge umeinander, wenn auch in unterschiedlicher Form und Stärke, angewiesen sind, aber vor allem auch, dass diese Sorgearbeit einen starken affektiven Moment hat. Seine Bedeutung wird derzeit durch seine Beschränkung und Transformation in der Quarantäne und der sozialen Distanzierung für breite Bevölkerungsschichten am eigenen Leib erfahrbar. Wenn wir uns nach der Interaktion mit anderen Menschen sehnen, auch über unseren Haushalt hinaus, dann meinen wir die vielfältigen, zuvor häufig unsichtbaren Ausdrucksweisen von Aufmerksamkeit, Anerkennung, Zuneigung. Dieser affektive Moment gilt aber nicht nur für unsere privaten Nahbeziehungen, für die Menschen, die wir lieben, er gilt für jegliche Sorgearbeit, also auch für die öffentliche, für die Pflege in Krankenhäusern etwa oder die sogenannte Fremdbetreuung von Kindern.

Wenn wir in Zukunft über gute Pflege und weitere Sorgetätigkeiten diskutieren, müssen wir über eine ihrer Systemrelevanz angemessene Entlohnung für Sorgeberufe reden und über einen Ausbau jener Infrastruktur, die heute Anerkennung erfährt, weil sie unser Überleben sichert. Aber es sollte unbedingt auch der Moment des Kümmerns in Debatten und Planungen einbezogen werden, wie es bisher selbst in linken Konzepten nicht geschieht. Nicht zuletzt auch deshalb, weil er noch immer als weiblich beschrieben und beides zusammen abgewertet wird. Das Affektive wirklich wertzuschätzen könnte deshalb auch eine weitreicherende anti-patriarchale Wirkung entfalten. Konkret geht es dann auch um mehr Zeit – und das bedeutet ebenso Absicherung dieser Zeit – für affektive Arbeit. Die Forderung nach einer Personalbemessung ist dafür äußerst relevant, ebenso wie jene nach einer allgemeinen Arbeitszeitverkürzung bei Lohnausgleich.

Das wird in der Wirtschaftskrise, die uns jetzt bevorsteht, allerdings noch schwerer einzufordern. In der letzten Wirtschaftskrise ab 2008 waren es in Europa weniger die direkten Effekte, sondern erst die politischen Antworten, die zu Lasten der sozialen Infrastruktur und damit ganz besonders auf jene von Frauen (als Beschäftigte wie als Nutznießerinnen) gingen. Umverteilungen durch Abwrackprämie und Kurzarbeitergeld sicherten hingegen vor allem männliche Arbeitsplätze und Warenproduktion. Hinzu kommt, dass wird derzeit autoritäre Maßnahmen erleben, deren Effekte, wenn nicht gar Fortdauer vermutlich noch weit länger andauern werden als der Virus selbst.

Die Organisierung rund um die genannten Forderungen wird das trotz der aktuellen Aufmerksamkeit für Sorgetätigkeiten vor große Herausforderungen stellen. Gleichzeitig ist in den letzten Jahren eine starke feministische und internationale Bewegung gewachsen, die Kommunikationswege und kreative Kampfesmittel erprobt hat. In Chile hat die Koordination 8M, die noch vor zwei Wochen mehr als eine Millionen Menschen mobilisierte, einen «feministischen Notfall-Plan angesichts der Coronavirus-Krise» entwickelt, der zu direktem Handeln auffordert. Um Maßnahmen zu erzwingen, wie etwa eine bezahlte Freistellung für die Sorge von anderen, die Anerkennung von Kinderbetreuung zuhause als Arbeitszeit oder der kostenlose Zugang zu Gesundheitsversorgung, wird ein Streik all jener produktiven Arbeiten gefordert, die nicht direkt das Gesundheitssystem und die Versorgungslage beeinträchtigen. Darüber hinaus enthält der Notfall-Plan Vorschläge für lokale Solidaritätsnetzwerke, die nicht nur Kinderbetreuung für Beschäftigte in der Sorgearbeit bedenkt, sondern auch Unterstützung für Frauen, die von Partnerschaftsgewalt betroffen sind. Ein Problem, das insbesondere in Zeiten von Krisen und nun noch verstärkt durch Quarantäne und Ausgangssperren zunimmt.

Ebenso wie der chilenische Plan, gibt es weitere feministische Initiativen, die in verschiedene Sprachen übersetzt, zwischen den Bewegungen ausgetauscht und in Videokonferenzen mit internationaler Beteiligung diskutiert und weiterentwickelt werden. In Zeiten in denen der Nationalstaat wie schon lange nicht mehr heraufbeschworen wird, organisieren sich zahlreiche feministische Bewegungen gleichzeitig internationalistisch und lokal. Sie zeigen uns auch, dass es schon jetzt Mittel gibt, um staatlicherseits mehr einzufordern und trotzdem auch selbstorganisierte Netzwerke zu bauen, die über das füreinander einkaufen gehen hinausreichen. Dabei wird von besonderer Bedeutung sein, wie die klatschenden Bürger*innen und solidarischen Nachbarschaften tatsächlich nachhaltig eingebunden werden können.