Nachricht | Wirtschafts- / Sozialpolitik - Parteien / Wahlanalysen - Corona-Krise - Gesundheit und Pflege Pflegebedarf ist ein Armutsrisiko

Pia Zimmermann, Sprecherin für Pflegepolitik der Linksfraktion im Bundestag, zur verfehlten Pflegepolitik

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Pia Zimmermann,

Menschen vor Profite! Pflegenotstand stoppen!
«Menschen vor Profite! Pflegenotstand stoppen!» Protest vor dem Bundesgesundheitsminsterium in Berlin, 12. Mai 2017, CC BY 2.0, DIE LINKE (Martin Heinlein), via Flickr

Rosa-Luxemburg-Stiftung: Pia, du sprichst aktuell von der verfehlten Pflegepolitik der vergangenen Jahrzehnte. Welche Versäumnisse sind das konkret?

Pia Zimmermann: Erstmal möchte ich klarstellen, dass ich über die verfehlte Altenpflegepolitik spreche. Nicht, weil bei der Pflege im Krankenhaus alles gut läuft. Das tut es nicht, ganz im Gegenteil. Aber das ist ein eigener Aspekt, der mindestens ebenso viel Beachtung finden muss. Wenn man aber immer alles vermischt, wird man keinem Aspekt gerecht.

Auch in der Altenpflege können wir über viele Unterpunkte sprechen: Privatisierung und Renditemargen, die im Endeffekt von der Sozialversicherung und den Menschen mit Pflegebedarf gezahlt werden, die geringe Bezahlung der Pflegekräfte, faktisch viel zu geringe Unterstützung für pflegende Angehörige, viel zu wenig Pflegekräfte, die Einführung der generalistischen Ausbildung für alle Pflegekräfte, die dafür sorgen wird, dass noch weniger Fachkräfte in die Altenpflege gehen, wenn die Gehaltsunterschiede zu den anderen Pflegebereichen so bestehen bleiben. Dabei werden in den kommenden zehn Jahren 13.000 Fachkräfte in dem Bereich zusätzlich benötigt – jedes Jahr!

Aber ich möchte einen Punkt genauer ausführen, zu dem Bundesgesundheitsminister Jens Spahn vor der Corona-Krise für diesen Sommer eine Reform angekündigt hatte: Die Finanzierung der Pflegeversicherung. In der Altenpflege wurde in den vergangenen Monaten viel über zu stark steigende Eigenanteile in Pflegeheimen gesprochen. Das ist ein Riesenproblem. Die durchschnittlichen Kosten für einen Heimplatz übersteigen die durchschnittliche Altersrente bei weitem. Das Problem ist, dass die Pflegeversicherung nur eine sogenannte Teilleistungsversicherung ist, also es wird ein festgelegter Teil von der Versicherung übernommen, alles Weitere müssen Menschen mit Pflegebedarf oder unter Umständen ihre Angehörigen selber bezahlen. Da liegt der Fehler schon in der Konstruktion der Pflegeversicherung vor 25 Jahren.

Mit welchen Folgen?

Es ist eindeutig: Pflegebedarf ist ein Armutsrisiko. Menschen mit Pflegebedarf müssen als Eigenanteil im Heim oder an Zuzahlungen für einen ambulanten Pflegedienst immer höhere Summen aufbringen. Das führt in manchen Fällen dazu, dass Menschen nicht die Pflege in Anspruch nehmen, die sie wirklich brauchen, sondern die sie sich leisten können. Bei anderen kommt es zu einer finanziellen Überlastung. Man muss dazu ja auch immer im Kopf behalten, dass wir über eine Generation sprechen, in der es bei vielen eine große Scham gibt, Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen.

Und medial wird dieses System oft als alternativlos dargestellt. Pflege sei halt teuer. Dazu möchte ich sagen, dass Pflege sogar noch deutlich teurer sein müsste, wenn wir einen vernünftigen Personalschlüssel in den Heimen haben und die Beschäftigten einen Lohn erhalten, der ihrer verantwortungsvollen Aufgabe entspricht. An anderen Stellen kann man stattdessen wunderbar sparen, ohne auch nur ein bisschen Qualität zu verlieren. Denn warum sollte mit einem Pflegeheim zweistellige Rendite erzielt werden können? Aber das Wichtigste: Natürlich gibt es eine Alternative. Diese Sozialversicherung ist eine politische Entscheidung. Ich entscheide mich für eine andere: Mit der Solidarischen Gesundheits- und Pflegeversicherung müsste es weder Zuzahlungen noch Eigenanteile geben. Es handelt sich um eine PflegeVOLLversicherung, in der alle pflegebedingten Leistungen übernommen werden. Finanzierbar ist solch ein Modell über eine Bürgerversicherung, in die alle gemäß ihrer finanziellen Situation einzahlen. Schließlich ist es absurd, dass eine Altenpflegerin von ihrem geringen Gehalt in den Solidartopf einzahlt, ein Mensch, der von den Mieteinnahmen seiner drei Mehrfamilienhäuser lebt, aber nicht. Alle Einnahmen müssen zur Ermittlung des Beitrags herangezogen werden. Und eine Beitragsbemessungsgrenze führt nur dazu, dass Menschen mit geringem Einkommen prozentual mehr beitragen, als Großverdiener. Warum soll das gerecht sein? Langfristig müssen wir die Ungleichbehandlung abbauen. Es gibt Berechnungen dazu, dass sogenannte Normalverdiener dann eine monatliche Mehrbelastung von rund fünf Euro hätten. Bei einer deutlichen Ausgabenentlastung für die Bereiche Gesundheit und Pflege.

Derzeit gibt es Applaus und viel «Dankeschön» für die Beschäftigten um Gesundheitssystem. Welche Chancen siehst du gesellschaftlich und politisch, dass diese Bekundungen nach Corona zu echten Verbesserungen in diesem Bereich und für die Beschäftigten werden?

Warme Worte und Applaus bezahlen keine Miete. Sonst könnten wir uns alle mal auf den Balkon stellen und für unsere Vermieter oder für die Schulden auf der Bank klatschen. Das wird sich keiner gefallen lassen. Und genau so wenig lassen sich Pflegekräfte damit abspeisen und das ist auch gut so. Es ist nun an uns allen, diese Welle der Solidarität mit den Pflegekräften über die Corona-Krise hinaus zu tragen. Wer es wirklich ernst meint mit seinem Applaus, der stöhnt beim nächsten Streik der Pflegekräfte nicht auf, weil es Unannehmlichkeiten bringt, sondern schnappt sich eine Trillerpfeife oder einen Kochtopf und einen Löffel zum Lärm machen und reiht sich in die Demo der Pflegekräfte ein. Ich hoffe sehr, dass wir dieses Bewusstsein behalten. Ich tue alles dafür, dass die Verantwortlichen nicht vergessen, wer «systemrelevant» ist und wer den Laden am Laufen hält. Und ich freue mich über eine breite Unterstützung dabei.

Welche Position, welche Forderungen für Menschen mit Pflegebedarf vertrittst du als Sprecherin für Pflegepolitik der Fraktion DIE LINKE im Bundestag?

Der Mensch muss im Mittelpunkt stehen. Das klingt ein wenig pathetisch oder wie eine Phrase, aber wenn man konsequent bei diesem Ansatz bleibt, ergeben sich daraus die Forderungen für Menschen mit Pflegebedarf ganz von selbst. Wir dürfen nicht zuerst fragen: Was kostet eine Sache oder wie viel Geld haben wir zur Verfügung? Sondern wir müssen uns fragen: Welchen Bedarf und welche Bedürfnisse haben die Menschen? Der Bedarf nach Pflege ist dabei ja nur einer von vielen. Menschen mit Pflegebedarf müssen selbst entscheiden können, was ihnen guttut, was sie brauchen. Wir als Gesellschaft müssen den Rahmen dafür schaffen, dass das auch möglich ist. Dazu gehört eine gute Bezahlung und ausreichend Personal bei der Pflege und Betreuung. Dazu gehört die Entscheidung, ob ich in meinem vertrauten Umfeld leben möchte oder mehr Unterstützung brauche. Dazu gehört eine gute finanzielle Absicherung für pflegende Angehörige, um nur eine kleine Auswahl zu nennen.