Die 1952 geborene und in Österreich aufgewachsene Ingrid Strobl ist in den 1980er Jahren eine bekannte linke und feministische Journalistin, die unter anderem für die an jedem Kiosk erhältliche Monatszeitschrift EMMA schreibt.
Im Dezember 1987 wird sie wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung (§ 129a StGB), hier der Revolutionären Zellen, verhaftet. Sie hatte, das streitet sie auch nicht ab, einen vom Bundeskriminalamt markierten Wecker gekauft, der dann am 28. Oktober 1986 bei einem Anschlag auf ein Lufthansa-Gebäude in Köln als Zeitzünder benutzt worden war. Strobl weigert sich aber Namen zu nennen, und wird zuerst zu fünf Jahren Haft verurteilt. Nach Revision wird das Strafmaß verringert und sie schließlich im Mai 1990 entlassen. Die ganze Zeit gibt es eine für heutige Verhältnisse riesige Solidaritätsbewegung, so findet z.B. am 11. Februar 1989 in Essen zum Prozessbeginn eine Demonstration mit 10.000 Teilnehmer*innen statt.
Bernd Hüttner ist Referent für Zeitgeschichte und seit 2006 Koordinator des Gesprächskreises Geschichteder Rosa-Luxemburg-Stiftung.
All das ist aber eher am Rande Thema des Buches. In ihm erzählt Strobl sehr persönlich über ihr Leben im Gefängnis und setzt diese Erlebnisse in Bezug zum politischen Aktivismus von Frauen allgemein und zu ihrem eigenen. Im Gefängnis lernt sie eine ihr bis dahin völlig fremde Welt kennen, eine Welt von Schmerz und Sucht, von – ohnmächtiger und wirkungsvoller - Wut und Unterwerfung. Kraft zieht sie vor allem aus der Arbeit an einem Buch über den antifaschistischen Widerstand von Frauen im deutsch besetzten Europa, an dem sie schon vor ihrer Verhaftung gearbeitet hatte, das dann 1989 beim Fischer Verlag erscheint und alle Verkaufsrekorde bricht.
Strobls Text hat zwei (Zeit-)Ebenen, die auch im Buch typografisch abgesetzt sind. Zum einen den Aufenthalt im Gefängnis, wobei seltsamerweise unklar bleibt, wann sie diese Passagen geschrieben hat (im Gefängnis, kurz danach, später?). Hier erzählt sie z.B. aus dem «Alltag» im Gefängnis, ihre Versuche, ihre Integrität zu bewahren, über störenden Lärm, solidarische Mitgefangene und die Beklemmungen bei persönlichen Besuchen. Der zweite Strang sind dann die ebenso persönlichen Reflektionen in der Gegenwart darüber, 30 Jahre später: Wer war ich 1987? Trügt mich meine Erinnerung? Waren meine politischen Einstellungen (damals) «falsch»? Die Begegnungen im Frauenknast lösen eine Überprüfung, wenn nicht Revision ihres feministischen Weltbildes aus. Sie erfährt, dass viele Frauen die patriarchale Unterwerfung und die eigene Passivität so verinnerlicht haben, dass ein Ausbrechen daraus kaum möglich ist. Ein inneres Gegengewicht sind für sie in diesen langen Monaten Yoga, (klassische) Musik, Lektüre, und der Gedanke an den Mut der Partisaninnen, die sie im Zuge ihrer Recherchen über den Widerstand in Europa gegen den deutschen Nationalsozialismus getroffen hat.
Durch dieses Buch kann viel über «Gefängnis» erfahren und gelernt werden. Für jüngere Leser*innen ist es eventuell ein Anlass, über die antagonistischen Bewegungen der endenden 1980er Jahre in Westdeutschland zu recherchieren. Ein Zeitraum und eine kämpferische «Stimmung», die aus heutiger Perspektive viel länger als gut 30 Jahre entfernt zu sein scheint.
Ingrid Strobl: Vermessene Zeit. Der Wecker, der Knast und ich, Edition Nautilus, Hamburg 2020, 978-3-96054-228-5, 192 Seiten, 18 EUR
Weitere Bücher von Ingrid Strobl:
Das Feld des Vergessens. Jüdischer Widerstand und deutsche «Vergangenheitsbewältigung», Berlin 1994.
Die Angst kam erst danach. Jüdische Frauen im Widerstand 1939-1945, Frankfurt/M. 1998.