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Corona-Krise verschärft Situation der Armen in Indien

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Muriel Weinmann,

Wanderarbeiter*innen warten in Neu-Delhi auf Busse
Wanderarbeiter*innen warten in Neu-Delhi auf Busse, die ihnen von der Regierung zur Verfügung gestellt wurden, um sie in ihre Heimatstädte zu transportieren, nachdem sie wegen der Maßnahmen gegen die Verbreitung des Coronavirus ihre Arbeit verloren haben (23.3.2020). picture alliance / AP Photo

Auch in Indien breitet sich das Corona-Virus aus. Um dem entgegenzuwirken, hat die Regierung Ende März eine weitgehende Ausgangs- und Kontaktsperre für die rund 1,3 Milliarden Menschen im Land verfügt. Für die armen Bevölkerungsschichten sind die Auswirkungen jedoch verheerend.

Muriel Weinmann ist Mitarbeiterin des Südasien-Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Neu-Delhi.

«Zwei Tage lang haben wir auf unserer Baustelle nichts zu essen bekommen», klagt Raju. «Wir mussten hungern.» Der junge Mann packt sein Bündel mit den wenigen Habseligkeiten und läuft los. Er will nach Hause, in seine Heimatstadt, 200 Kilometer südöstlich von Neu-Delhi. Solange es in der indischen Hauptstadt keine Arbeit mehr gebe, brauche er auch nicht zu bleiben, findet Raju, über dessen Schicksal unter anderem die ARD berichtet hatte.

Es waren erschreckende Bilder, die Ende März um die Welt gingen. Nachdem der hindunationalistische Premierminister Narendra Modi wegen der Corona-Pandemie eine zunächst dreiwöchige Ausgangssperre für das ganze Land ausgerufen hatte, hatten hunderttausende Arbeitsmigrant*innen verzweifelt versucht, trotz des weitgehend eingestellten öffentlichen Nah- und Fernverkehrs aus den Ballungszentren in ihre Dörfer zu gelangen. An den Busbahnhöfen drängten sich die Menschenmassen. An den Ausfallstraßen bildeten sich kilometerlange Trecks, denn viele versuchten ihr Glück zu Fuß. Behörden und Sicherheitskräfte wirkten überrascht und überfordert.

Die Regierung hat strenge Maßnahmen gegen die Ausbreitung der Krankheit ergriffen. Zurecht, wie Expert*innen finden, denn die Gefahr für die rund 1,3 Milliarden Menschen ist groß, sollte sich das Virus unkontrolliert in dem südasiatischen Land ausbreiten. Das öffentliche Gesundheitssystem ist bereits jetzt in einem katastrophalen Zustand, private Kliniken sind für die Mehrheit der Bevölkerung unerschwinglich. Bislang scheint die Strategie der harten Hand auch aufzugehen. Offiziell gab es bis Anfang April nur wenige tausend Inder*innen, die sich mit SARS-CoV-19 infiziert hatten. Über die Höhe der Dunkelziffer kann allerdings nur spekuliert werden.

Indiens Mittelschicht hat sich mit dem landesweiten sogenannten Lockdown und dem von Premier ausgerufenen «Social Distancing» (sinngemäß: Kontaktsperre) arrangiert. In den Städten ist die Versorgungslage mit Grundnahrungsmitteln gut, die Lebensmittelgeschäfte und Apotheken sind offen. Lieferdienste bringen Gemüse, Obst, Fleisch, Fisch und sogar Pizza bis vor die Haustür.

Doch es gibt eine Kehrseite. «Die Ausgangssperre richtet sich gegen die Armen in diesem Land», glaubt der Bürgerrechtler Harsh Mander. Kleine Geschäfte und Gewerbe seien geschlossen. Die Baustellen stünden still. Informelle Gewerbe wie Garküchen oder Schneidereien hätten den Betrieb eingestellt. Bäuer*innen fürchteten, ihre Ernten nicht einbringen oder verkaufen zu können. Millionen Menschen hätten innerhalb weniger Tage ihre Lebensgrundlage verloren, sagt Mander, mit dessen Organisation «Centre for Equity Studies» die Rosa-Luxemburg-Stiftung seit Jahren zusammenarbeitet.

Nach Schätzungen sind in Indien mehr als 90 Prozent aller Arbeitnehmer*innen im informellen Sektor beschäftigt. Sie sind tagtäglich darauf angewiesen, Arbeit zu finden, um sich und ihre Familien über Wasser halten zu können. Mehr als 120 Millionen dieser Menschen sind Arbeitsmigrant*innen. Sie haben ihre Dörfer aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage sowie der oft geringen Verdienstmöglichkeiten in der Landwirtschaft verlassen und sind auf der Suche nach einer Perspektive in Indiens Großstädte abgewandert. Doch durch den landesweiten Lockdown stehen sie wieder vor dem Nichts.

Die Gewerkschafterin Lokesh von der Organisation «Centre for Education and Communication» (CEC) erlebt das Elend in diesen Tagen hautnah. Lokesh und CEC sind Kooperationspartnerinnen der Rosa-Luxemburg-Stiftung und haben seit Ausbruch der Krise mit anderen zivilgesellschaftlichen Einrichtungen Suppenküchen für Arbeitmigrant*innen organisiert. «Was wir derzeit vielerorts in Indien sehen, ist die Gefahr einer Hungersnot.»

Inzwischen hat die Regierung reagiert. Finanzministerin Nirmala Sitharaman versprach ein Hilfspaket in Höhe von umgerechnet 22 Milliarden Euro für die ärmsten Gruppen der Bevölkerung. «Wir wollen nicht, dass irgendjemand hungrig bleibt oder kein Geld hat», sagte die Politikerin der hindunationalistischen Indischen Volkspartei BJP bei der Vorstellung des Programms.

Dabei soll den Menschen auf zwei Wegen geholfen werden. Zum einen durch die kostenlose Verteilung von gekochtem Essen und Lebensmitteln. Nach Regierungsangaben verfügt Indien über ausreichend Reserven, um die Bevölkerung in einer Notsituation wie dieser für mehr als ein Jahr ernähren zu können. Genutzt werde dafür das öffentliche Verteilungssystem, das es bereits seit Jahrzehnten gebe. Zum anderen soll Geld direkt auf die Konten der Betroffenen überwiesen werden.

Die Gewerkschafterin Lokesh kritisiert allerdings, dass die Mittel einerseits zu gering seien, und es andererseits Probleme bei der Umsetzung gebe. Viele Wanderarbeiter*innen verfügten weder über die notwendigen Dokumente noch über ein Bankkonto, um die Hilfsprogramme der Regierung in Anspruch nehmen zu können, sagt sie. «Ohne eine noch umfassendere Hilfe, werden viele Menschen von der finanziellen Unterstützung der Regierung ausgeschlossen werden», fürchtet Lokesh. Hinzu komme, dass viele Migrant*innen bislang nichts von den Hilfen wüssten. «Die Wanderarbeiter*innen sind keine homogene Gruppe und untereinander wenig vernetzt.» Gewerkschaften und zivilgesellschaftliche Organisationen arbeiteten daher daran, diese Wissenslücken zu schließen und die betroffenen Menschen zu organisieren.

Gleichzeitig wächst die Befürchtung, dass sich das Virus durch die heimkehrenden Arbeitsmigrant*innen vor allem in den armen ländlichen Regionen Indiens ungehindert ausbreiten könnte. So sprach sich der ehemalige Ministerpräsident des bevölkerungsreichsten Bundesstaates Uttar Pradesh, Akhilesh Yadav, unlängst dafür aus, die Wanderarbeiter*innen durch eine flächendeckende Versorgung mit Nahrungsmitteln dazu zu bewegen, in den Städten zu bleiben und so ihre Familien und Dorfgemeinschaften vor dem Virus zu schützen. Das Vertrauen in den Staat haben die meisten der Betroffenen allerdings längst verloren, glauben Beobachter*innen.

Immer lauter wird daher die Frage, ob die restriktiven Maßnahmen gegen das Virus zu einer humanitären Krise in Indien führen könnten. Premierminister Modi verteidigte vor wenigen Tagen in einer Ansprache das Vorgehen seiner Regierung. Gleichzeitig bat er seine Landsleute um Vergebung. An die armen Bevölkerungsschichten gewandet sagte er: «Ich verstehe euren Ärger, aber es gibt keinen anderen Weg Krieg gegen das Corona-Virus zu führen […] Es ist ein Kampf um Leben und Tod, und wir müssen ihn gewinnen.»

Der Wanderarbeiter Pramod Sahu zeigt durchaus Verständnis für die Maßnahmen, aber er fragt auch: «Warum hat uns die Regierung nicht vorgewarnt? Wir hätten Vorräte anlegen and Pläne machen können, um das alles durchzustehen.» Sicherlich seien durch die Corona-Ausgangssperre Leben gerettet worden, ergänzt Sahu. «Doch uns haben sie vergessen.»