Zahlreiche offene Gräber, symmetrisch aufgereiht, aus der Luft fotografiert. Die Aufnahme des Vila Formosa-Friedhofes in São Paulo machte schnell die Runde. Die renommierte US-Zeitung »Washington Post« druckte das Bild sogar auf Seite eins. Das Foto drückte aus, was für viele Brasilianer*innen bereits eine schmerzhafte Gewissheit war: Die Corona-Krise ist endgültig im größten Land Lateinamerikas angekommen. Brasilien bereitet sich auf das große Sterben vor.
Niklas Franzen ist Journalist und lebt in São Paulo.
Twitter: @niklas_franzen
Das Virus kam wahrscheinlich durch gut situierte Europaurlauber*innen in das Land, hat sich aber längst auch außerhalb der Luxuswelt der Reichen und Schönen ausgebreitet. Zwar haben die Fallzahlen noch keine europäischen Verhältnisse angenommen. Forscher*innen des Imperial College in London warnten jedoch vor bis zu 1,1 Millionen Toten. Da Brasilien wenig testet, ist außerdem davon auszugehen, dass die Dunkelziffer der Toten durch Corona bereits jetzt viel höher ist, als die öffentlichen Statistiken zeigen. Viele Expert*innen rechnen mit einer Explosion der Fallzahlen in den nächsten Wochen. Ein Mann hat großen Anteil daran, dass Brasilien mit Vollgas in die Katastrophe rast: Präsident Jair Messias Bolsonaro.
«Ein paar werden sterben. So ist das Leben»
Wie kaum ein anderer Staatschef hat der brasilianische Präsident die Gefahr durch Covid-19 geleugnet, herunterspielt und für politische Zwecke missbraucht. Lange Zeit bezeichnete der ultrarechte Politiker das Virus als «Fantasie» und schwadronierte in verschwörungstheoretischer Manier: Die Medien machten das Thema größer, um ihm zu schaden. Dabei wurden sein Kommunikationschef und mindestens 20 Regierungsmitarbeiter*innen nach einer USA-Reise positiv auf das Virus getestet. Bolsonaro steht selbst unter dem Verdacht, sich infiziert zu haben. Das Krankenhaus, in dem der ehemalige Militär angeblich negativ getestet wurde, überreichte den Behörden eine Liste mit Infizierten. Zwei Namen waren geschwärzt – nicht wenige vermuten, dass es sich dabei um den Präsidenten und seine Frau handelte.
Wobei sich Bolsonaro, wie er großspurig erklärte, um seine eigene Gesundheit keine Sorgen mache, da er früher Athlet gewesen sei. Mehrfach bezeichnete er Corona als «kleine Erkältung» und fordert eine Rückkehr zur Normalität – entgegen den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation und dem Gros der Expert*innen. Bolsonaro betet hartnäckig sein Mantra herunter, dass die Wirtschaft nicht stoppen dürfe. Mit diesem rhetorischen Schachzug will er sich für die kommende Rezession aus der Verantwortung ziehen und die Schuld präventiv auf die Gouverneure abladen. Die Mehrheit der 26 Landesregierungen haben Maßnahmen gegen die Verbreitung der Pandemie verhängt, in fast allen Städten kam das öffentliche Leben zum Erliegen.
In seiner letzten TV-Ansprache wendete der Präsident zwar den Diskurs und bezeichnete Corona als «größte Herausforderung unserer Generation». Doch nur einen Tag später erklärte er, dass er per Dekret eine Rückkehr zur Normalität anordnen werde und teilte wieder heftig gegen Kritiker*innen aus. Seit die Fallzahlen der Infizierten nicht mehr kleinzureden sind, erwiderte Bolsonaro achselzuckend: «Ein paar werden sterben. So ist das Leben.» Am 5. April spazierte Bolsonaro durch das Regierungsviertel in der Hauptstadt Brasília, nahm an einer Gebetsrunde von Evangelikalen teil und schoss Selfies mit Unterstützer*innen – obwohl er sich eigentlich wegen Kontakt zu Corona-Infizierten isolieren müsste.
Vendetta gegen Mandetta
Die Gesundheitskrise hat sich in letzter Zeit auch zu einem politischen Duell zwischen zwei Regierungsmitgliedern entwickelt: Präsident Bolsonaro und Gesundheitsminister Luiz Henrique Mandetta. Der gelernte Orthopäde hatte einen Zusammenbruch des Gesundheitssystems für Ende April vorausgesagt, zaghafte Kritik an seinem Chef formuliert und die Isolationsmaßnahmen verteidigt. Rücktrittsgerüchte kommentierte er so: «Ein Arzt lässt seinen Patienten nicht zurück.» Für seinen Kurs bekommt Mandetta von vielen Seiten Rückendeckung. Der rechtslastige Berufspolitiker ist aber selbst nicht unumstritten, beteiligte sich in der Vergangenheit an Manövern wie dem Putsch gegen Präsidentin Dilma Rousseff (PT) und der späteren «Säuberung» seines Ministeriums von Funktionären aus Zeiten ihrer Regierung. Zudem bestehen Korruptionsvorwürfe gegen ihn, er gilt als Interessenvertreter der großen Konzerne der privaten Krankenversicherungen und bereits als Abgeordneter war er an der Demontage des öffentlichen Gesundheitssystems seit 2016 beteiligt.
Am Montag, den 6. April kam es zum bisher größten Showdown. Bolsonaro feuerte Mandetta und ließ ihn durch den ideologischen Hardliner Osmar Terra ersetzen – dachte man zumindest. Noch am gleichen Tag folgte der Rückzieher und am Ende eines chaotischen Tages war klar: Mandetta bleibt vorerst im Amt. Die Militärs in der Regierung hatten Druck gemacht, den von ihnen geschätzten Gesundheitsminister nicht zu entlassen. Die Episode ist symptomatisch für den Zickzackkurs. Sie zeigt aber auch: Bolsonaro verliert zunehmend an Hausmacht.
Der «dekorative Präsident»
Die Gouverneure fast aller Bundesstaaten haben deutlich gemacht, dass sie Bolsonaros Corona-Politik nicht mittragen und entsprechende Anweisungen aus der Hauptstadt Brasília schlichtweg ignorieren werden. Der Gouverneur von São Paulo, der stramm rechte João Doria, ehemaliger Unterstützer Bolsonaros, rief die Bewohner*innen seines Bundesstaates dazu auf, den Worten des Präsidenten nicht zu folgen. Wilson Witzel, ultrarechter Gouverneur von Rio de Janeiro und ebenfalls ehemaliger Verbündeter, ging noch weiter und erklärte: Der Präsident könnte für seinen Kurs vor dem Internationalen Gerichtshof wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt werden.
Und auch die brasilianische Justiz bremst aktuell viele Vorhaben. Der Oberste Gerichtshof kassierte mehrere Dekrete des Präsidenten und stoppte eine Regierungskampagne mit dem vielsagenden Titel «Brasilien darf nicht stoppen». Die Kampagne sollte Brasilianer*innen dazu aufrufen, wieder an die Arbeit zu gehen und stammte wahrscheinlich aus der Feder von Präsidentensohn und Stadtverordneten (Rio de Janeiro) Carlos Bolsonaro.
Während sich der Präsident mit zahlreichen ehemaligen Gefolgsleuten überworfen hat und noch nicht einmal mehr Mitglied einer Partei ist, stehen ihm seine drei Söhne treu an der Seite. Politik wird vom «Bolsonaro-Clan» vor allem ideologisch gemacht. Damit folgen sie den Weisungen des Autors, Pseudo-Philosophen und notorischen Verschwörungstheoretikers Olavo de Carvalho, der aus den USA als Teil der Alt-Right-Bewegung um Steve Bannon viele Fäden spinnt und mehrere Minister per Fingerzeig bestimmt haben soll. In der brasilianischen Regierung werden die Spannungen zwischen den «Ideologen» und «Rationalen» immer größer.
Das zeigte sich auch vor einigen Tagen, als Bolsonaro-Sohn Carlos den Vizepräsidenten Hamilton Mourão scharf attackierte, weil sich dieser mit dem linken Gouverneur des Bundesstaates Maranhão getroffen hatte. Mourão ist ein hochrangiger General und wird häufig als die «Stimme der Vernunft» in der Regierung bezeichnet. Bei vielen Militärs scheint die Geduld über die Eskapaden der Präsidentenfamilie begrenzt zu sein. Während der Präsident insbesondere unter den mittleren Dienstgraden der Armee beliebt ist, sind große Teile der Führungsriege der Streitkräfte offenbar unzufrieden mit dessen impulsivem Kurs. In ausländischen Medien wurde sogar kurzzeitig kolportiert, das brasilianische Militär habe geputscht und Präsidialamtsminister Walter Braga Netto (ebenfalls ein General) als neuen «geschäftsführenden Präsident» eingesetzt habe. Zwar stellte sich die Meldung als falsch heraus. Allerdings ist bestätigt, dass Braga Netto immer größere Verantwortung bei der Bekämpfung der Coronakrise übernimmt. So verliert Bolsonaro weiterhin an Boden; die konservative Tageszeitung «O Globo» bezeichnete ihn kürzlich als «dekorativen Präsidenten».
Obwohl er politisch also weitgehend isoliert ist, genießt Bolsonaro in bestimmten Kreisen fast unwidersprochene Unterstützung. Ein Großteil der Polizei hält ihm uneingeschränkt die Treue. Außerdem werden der Bolsonaro-Familie beste Verbindungen zu den paramilitärisch organisierten Milizen nachgesagt. Und der Präsident kann sich auch auf seine loyale und aktive Wählerbasis verlassen. Gut 30 Prozent der Bevölkerung stehen laut Umfragen immer noch hinter «ihrem Präsidenten». Seit dem Beginn der Isolationsmaßnahmen fahren gut situierte Bolsonaro-Fans nun immer wieder gut geschützt in Autos durch die Innenstädte, um dafür zu protestieren, dass ihre Angestellten und Beschäftigten die Arbeit wieder aufnehmen sollen. Es sind die radikalsten Unterstützer*innen, die dem als «Mythos» bezeichneten Bolsonaro selbst die gruseligsten Verschwörungstheorien abkaufen, ihn wie einen Gott verehren und nicht wahrhaben wollen, dass eine Tragödie droht.
Pulverfass Favelas
Da die Wirtschaft wegen der Präventionsmaßnahmen stockt, ist mit dramatischen Konsequenzen für die arme Bevölkerung zu rechnen. 40 Prozent der Arbeitnehmer*innen sind im informellen Sektor beschäftigt. Die meisten armen Brasilianer*innen haben keine Ersparnisse, soziale Sicherungssysteme wie in Europa gibt es nicht. Es droht eine soziale Katastrophe für Millionen Brasilianer*innen.
Insbesondere die Situation in den Favelas ist besorgniserregend, und das nicht nur wegen der prekären Beschäftigungslage. Aufgrund der miserablen hygienischen Bedingungen sind die 15 Millionen Bewohner*innen der städtischen Armenviertel besonders anfällig für das Virus. Der Anteil der Tuberkulose- oder Asthmakranken ist fünfmal höher ist als in den wohlhabenderen Vierteln und wegen schlechter Ernährung gibt es viele Diabetiker*innen. Soziale Isolierung ist in den dicht besiedelten Armenvierteln schlichtweg unmöglich und in vielen Favelas gibt es noch nicht einmal fließendes Wasser, um sich die Hände zu waschen. In zahlreichen Vierteln ist die Situation so dramatisch, dass Menschen bereits am Hungern und auf Essensspenden angewiesen sind. Eine Bewohnerin der Favela Paraisópolis im Süden von São Paulo sagt: «Bevor wir uns über Schutzmasken und Desinfektionsmittel Gedanken machen können, brauchen wir Essen.» (Der Autor besuchte am 1. April die Favela und führte Interviews mit Bewohner*innen.)
Die vom Staat vernachlässigten Gebiete sind mal wieder auf sich allein gestellt. In Rio de Janeiro wurden in mehreren Favelas mittlerweile Ausgangssperren verhängt – nicht jedoch von der Regierung, sondern von den lokalen Drogengangs. Nicht wenige rechnen mit sozialen Revolten in den nächsten Wochen. Kommt nun der große Corona-Aufstand?
Die Stunde der Linken?
Seit mehreren Wochen protestieren Brasilianer*innen jeden Abend an ihren Fenstern gegen die Regierung. Sie schlagen auf Kochtöpfe, brüllen Sprechchöre, trillern, trompeten und zünden Feuerwerkskörper. Die sogenannten panelaços («Kochtopfproteste») sind mittlerweile auch in den Vierteln der gut situierten Mittelschicht von São Paulo und Rio de Janeiro omnipräsent, in denen Bolsonaro die Wahlen im Oktober 2018 noch mit überwältigender Mehrheit gewann. Studien zeigen nun, dass 76 Prozent der Bevölkerung die Isolationsmaßnahmen unterstützen.
Viele sprechen bereits begeistert von dem Beginn einer Bewegung. Doch es ist fraglich, ob sich die Fenster-Proteste in Post-Corona-Zeiten auf die Straße tragen lassen. Das liegt insbesondere auch an der Schwäche und Orientierungslosigkeit der Linken. Zwar hat der Kongress auf Initiative der linken Opposition kürzlich ein Notfalleinkommen für Millionen Arme beschlossen. Doch sonst ist es bislang kaum gelungen, in der Corona-Krise zu punkten. Ein von linken Abgeordneten auf den Weg gebrachtes Amtsenthebungsverfahren wurde zwar von mehr als einer Millionen Menschen im Internet unterzeichnet. Allerdings hat es derzeit kaum Chancen auf Erfolg und ist auch innerhalb der Linken nicht unumstritten. Denn falls es gelingt Bolsonaro durch eine Amtsenthebungsverfahren zu stürzen, übernimmt wahrscheinlich sein Vize Hamilton Mourão. Er wird zwar oft als «moderat» bezeichnet, aber auch er ist ein rechtsextremer Militär. Vor wenigen Tagen feierte Mourão noch den Putsch von 1964, der in eine mehr als 20 Jahre währende, blutige Diktatur mündete.
Während es die Linke nicht schafft, der Regierung ernsthaft etwas entgegen zu setzen, ist es den stramm rechten Gouverneuren von São Paulo und Rio de Janeiro gelungen, sich als Gegenspieler von Bolsonaro aufzubauen. Es scheint, als würden die Auseinandersetzungen in Brasilien derzeit zwischen rechts und ultrarechts geführt werden. Der linke Philosoph Vladimir Safatle fällt ein vernichtendes Urteil: «Es existiert schlichtweg keine Linke mehr. Ich glaube die Corona-Krise zeigt uns das auf pädagogische Weise auf. Die Linke ist komplett irrelevant.» Obwohl die moderat linke «Arbeiterpartei» (PT) über die größte Parteifraktion im Bundesparlament verfügt und auch als einzige progressive Partei noch überall in Brasilien über eine Struktur verfügt, nutzt sie diese Kraft kaum für eigene Initiativen und Mobilisierung. PT-Ikone und Ex-Präsident Lula da Silva teilte in den sozialen Medien seine Unterstützung für den Gouverneur des Bundesstaates São Paulo, eben jenem João Doria, der seine konservative Partei PSDB nach ultrarechts wendete und 2016 auf Seiten des Putsches gegen die PT-Regierung 2016 stand. Es scheint, als versuche ein großer Teil der institutionellen Linken eine breite bürgerliche Front gegen Bolsonaro zu unterstützen. Viele warnen vor dem Schulterschuss. Schließlich war es die bürgerliche Rechte, die den Sturz der Regierungslinken verantwortet hat und somit den Weg für die Wahl von Bolsonaro freigemacht hatte.
Hoffnung liegt also eher in der Widerständigkeit der sozialen Bewegungen Brasiliens. Bereits zu Beginn der Corona-Krise sammelte die Wohnungslosenbewegung MTST Geld für arme Bewohner*innen und verteilte Lebensmittel und Reinigungsprodukte in den armen Vorstädten. Die Landlosenbewegung MST produziert in ihren Kooperativen Desinfektionsmittel für Krankenhäuser.