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Immer noch ein ungeschliffener Diamant?

UN-Hauptquartier in New York während der Tagung der Generalversammlung 2019
UN-Hauptquartier in New York während der Tagung der Generalversammlung 2019 Foto: Nadja Charaby

Kommentar von Tetet Lauron in Zusammenarbeit mit Nadja Charaby und Katja Voigt.

Die UN wurden nicht geschaffen, um die Menschheit in den Himmel zu bringen, sondern um sie vor der Hölle zu bewahren.

Dag Hammarskjöld, UN-Generalsekretär 1953–1961

Dieses Jahr feiern wir das 75-jährige Bestehen der Vereinten Nationen – das institutionelle Fundament der internationalen Nachkriegsordnung, das der Aufrechterhaltung von internationalem Frieden und Sicherheit, dem Aufbau friedlicher zwischenstaatlicher Beziehungen sowie der Förderung gesellschaftlichen Fortschritts, besserer Lebensstandards und der Menschenrechte dient. Das Jubiläum bietet der UN einen guten Anlass, ihre zentralen Werte neu zu überdenken und sich zu fragen, ob sie eines «System-Neustarts» bedarf, um weiterhin eine wichtige und entscheidende Rolle bei der Bewältigung aktueller und zukünftiger Herausforderungen zu übernehmen.

Tetet Lauron wohnt in den Philippinen und arbeitet als Beraterin für das Referat Internationale Politik der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Der Kommentar entstand in Zusammenarbeit mit Nadja Charaby und Katja Voigt.

Die heutige Welt steht auf grausam ironische Weise im Widerspruch zu den Gründungsidealen der UN. Kriege und Konflikte führen zu nie dagewesenen humanitären Krisen, die durch wachsende Intoleranz und Xenophobie noch verschärft werden. Die Welt ist weit davon entfernt, ihre sozioökonomischen Probleme überwunden zu haben. Obwohl die universelle Anerkennung von Menschenrechten und Grundfreiheiten nominell gewährleistet ist, untergraben die aktuellen autoritären und neoliberalen Tendenzen diese Rechte und jegliche Fortschritte, die im Kampf gegen Hunger, Armut und Ungleichheit erreicht wurden.

Die COVID-19-Pandemie – die das menschliche Leid vergrößert, die globale Wirtschaft beeinträchtigt und das Leben so vieler Menschen dermaßen durcheinanderbringt, dass eine weltweite Rekordrezession nicht nur wahrscheinlich, sondern fast vorprogrammiert scheint – ist ein beispielloses Ereignis in der 75-jährigen Geschichte der UN. Wie UN-Generalsekretär Antonio Guterres bei Eröffnung der Generaldebatte der UN-Generalversammlung 2019 anmerkte: «Der Multilateralismus steht von vielen Seiten unter Beschuss, genau jetzt, wo wir ihn am meisten brauchen.»

Unverbindliche Ziele können angesichts systemischer Hindernisse nicht überzeugen

Fünf Jahre sind vergangen, seit die Ziele für nachhaltige Entwicklung («Sustainable Development Goals», kurz: SDGs) im September 2015 von den 193 UN-Mitgliedsstaaten einstimmig verabschiedet wurden. Die als «Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung» bekannten Ziele sind ein universeller Aufruf zum Handeln, um Armut zu beenden, den Planeten zu schützen und um dafür zu sorgen, dass bis 2030 alle Menschen in Frieden und Wohlstand leben. Die Nachhaltigkeitsagenda ging einher mit weiteren zwischenstaatlichen Vereinbarungen, die 2015 getroffen wurden, und zwar dem Sendai Rahmenwerk für Katastrophenvorsorge, der Aktionsagenda von Addis Abeba zur Entwicklungsfinanzierung und dem Pariser Klimaabkommen. Die jährlichen Überprüfungen der 17 Nachhaltigkeitsziele und der zugehörigen 169 Zielvorgaben und 231 Indikatoren durch das Hochrangige Politische Forum für Nachhaltige Entwicklung («High-level Political Forum on Sustainable Development » - kurz: HLPF) zeigen, dass die Erreichung der Ziele noch in weiter Ferne liegt. Der UN-Generalsekretär forderte daher mehr ambitioniertes Handeln und rief dazu auf, mehr Ressourcen für die beschleunigte Umsetzung bereitzustellen. Eine der größten Herausforderungen liegt in der Mobilisierung der erforderlichen Ressourcen, die alleine in den Entwicklungsländern geschätzt zwischen 3,3 und 4,5 Billionen US-Dollar pro Jahr liegen. Selbst als die Abschlussverhandlungen über die Nachhaltigkeitsziele noch im Gange waren, berieten die Regierungen schon ausführlich über ein neues globales Rahmenwerk zur Finanzierung der nachhaltigen Entwicklung, um die Finanzierungsströme und politischen Maßnahmen auf wirtschafts-, sozial- und umweltpolitische Prioritäten abzustimmen.

Doch neben der Einsicht, dass «Milliarden bis Billionen» zur Erreichung der Entwicklungsziele notwendig sind, gibt es auch systemische Probleme, auf die zivilgesellschaftliche und weitere Akteur*innen in UN-Foren und anderen Kontexten wiederholt hingewiesen haben. Die Umsetzung der Agenda 2030 verläuft parallel zu einer Reihe miteinander verbundener Krisen, die sich etwa durch den ökologischen Zusammenbruch, die uneingeschränkte Macht von multi- und transnationalen Konzernen sowie perverse Ausmaße von Ungleichheit manifestieren. Diese Probleme gewinnen angesichts weiterer alarmierender Signale noch an Brisanz:

  • Aufgrund der weltweiten Wirtschaftsflaute und des rasanten Anstiegs der globalen Schuldenlast, die zwischen 2008 und Ende 2017 von 152 auf 213 Milliarden US-Dollar gestiegen ist, warnt die Weltbank vor einer weiteren Finanzkrise.
  • Das weiterhin rückläufige Finanzvolumen der offiziellen Entwicklungszusammenarbeit («Official Development Assistance» - kurz: ODA), das 2018 bei insgesamt 153 Milliarden US-Dollar lag, was lediglich 0,31 Prozent des gesamten Nationaleinkommens der Industrieländer entspricht und damit deutlich unter der vereinbarten Quote von 0,7 Prozent zum Bruttonationaleinkommen liegt. Neben dem sinkenden ODA-Niveau stellen auch Qualität und Quantität der Hilfsleistungen weiterhin ein Problem dar: Häufig werden sie dafür kritisiert, eher den Geber- als den Entwicklungsländern zu dienen. 
  • Die «Korporatisierung der Entwicklungszusammenarbeit», die dazu führt, dass sich Regierungen verzweifelt darum bemühen, Auslandsinvestitionen anzulocken. Dabei setzen sie ihre eigene Souveränität aufs Spiel, indem sie Auflagen lockern und Zugeständnisse an ausländische Konzerne machen. So gewähren sie etwa Risikoversicherungen und -garantien, setzen auf öffentlich-private Partnerschaften und gestatten zunehmend Privatinvestitionen in die Infrastruktur von Entwicklungsländern. Bei öffentlich-privaten Partnerschaften lag der Schwerpunkt in der Anfangsphase auf Wirtschaftsinfrastrukturprojekten, doch schließlich wurden sie auch auf soziale Bereiche wie Gesundheitsversorgung, Wasserversorgung, Wohnungswesen und Bildung ausgeweitet.
  • Die Liberalisierung des Finanzsektors – d.h. die weltweit gelockerte Regulierung von Finanztransaktionen – geht Hand in Hand mit der zunehmenden Steuerhinterziehung und Steuerflucht durch Konzerne und Schwerreiche. Dazu passt auch der sprunghafte Anstieg illegaler Finanzströme, d.h. «gesetzwidriger Geld- oder Kapitalbewegungen von einem Land in ein anderes, die zum Verlust dringend benötigter Inlandsressourcen für die Finanzierung öffentlicher Initiativen oder kritischer Investitionen in öffentliche Güter oder Dienste führen.»
  • Das Schrumpfen von Landwirtschaft und Fertigungsindustrie in Entwicklungsländern infolge eines liberalisierten Handels. Die Welthandelsorganisation (WTO) ist zu einer Bühne für Gerichtsverfahren geworden, in denen Konzerne Regierungen dafür verklagen, bestimmte Branchen und Industriezweige ihrer nationalen Wirtschaft im Rahmen des WTO-Schiedssystems schützen zu wollen.

Entwicklungsländer haben mit riesigen Handels- und Zahlungsbilanzdefiziten zu kämpfen, sodass sie gezwungen sind, hohe Schulden aufzunehmen und ihre Wirtschaft noch weiter zu öffnen, während sich reiche Länder wirtschaftlich abschotten können. Entwicklungsländer geraten so in einen Teufelskreis, der in der dominanten neoliberalen Logik des multilateralen Handelssystems wurzelt. Daher müssen wir ein faires und gerechtes System von Handelsregeln entwickeln, das sich auf der Achtung der Menschenrechte gründet und faire Löhne, gerechte Besteuerung, gute Arbeitsbedingungen und stärkeren Umweltschutz gewährleistet.

Die zunehmende Ungleichheit zwischen und innerhalb von Ländern hängt einem Oxfam-Bericht zufolge mit dem neoliberalen Wirtschaftssystem zusammen, das eine dermaßen extreme  Konzentration von Reichtum und Macht ermöglicht hat, dass 26 Einzelpersonen dasselbe Vermögen besitzen wie die 3,8 Milliarden ärmsten Menschen der Welt.

Auch traditionelle Ungleichheiten aufgrund von Geschlecht, Kaste, ethnische Gruppen und Religion – die an und für sich schon Ungerechtigkeiten darstellen – werden durch die wachsende Kluft zwischen Besitzenden und Besitzlosen nur noch verstärkt. Wenn mit dem Motto «niemanden zurücklassen» ein wirklicher Wandel kommen soll, dann muss die nachhaltige Entwicklung mit dem neoliberalen Programm brechen, dessen Imperativ des Wirtschaftswachstums zugunsten privater Profite zur systematischen Verarmung ganzer Communities, zur Verschärfung von Ungleichheiten und zum Kollaps natürlicher Ökosysteme geführt hat. 

Isolierte Ansätze und unkoordinierte Politik

Um die Nachhaltigkeitsziele zu erreichen, müssen nationale Ziele, Strategien und Umsetzungspläne besser aufeinander abgestimmt und miteinander verbunden werden. Obwohl Universalität und Untrennbarkeit zu den Grundprinzipien der Nachhaltigkeitsziele zählen, ist man bei ihrer Umsetzung von der erwünschten Integration noch weit entfernt – die beim HLPF vorgestellten freiwilligen Länderberichte zeugen davon, dass Staaten sich hinsichtlich Zielen und Vorgaben gerne «die Rosinen herauspicken», um in ihren Berichten Fortschritte vorweisen zu können. Da Umsetzung und Berichterstattung freiwillig und nichtbindend sind, fehlen wirkliche Mechanismen der Prüfung und Rechenschaftspflicht. Von den Staaten wird erwartet, dass sie in ihren freiwilligen Präsentationen Auskunft über Folgen, Fortschritte und Trends geben. Die beim HLPF und in regionalen Foren vorgestellten Berichte lassen aber jede Form von aufrichtiger und sinnvoller Rechenschaftslegung vermissen: Größtenteils bewerten sich hier die Regierungen selbst, auch wenn sie sich vorgeblich einem inklusiven Multistakeholder-Ansatz verschrieben haben. Die Mitgliedsstaaten nutzen die Präsentationen, um ihre Fortschritte vorzuzeigen, ohne dabei irgendeine Art von kritischer Perspektive einzunehmen. Kaum einer dieser freiwilligen Berichte beschäftigt sich mit Systemreformen, die transformatives Potenzial hätten. Vielmehr kommen die Berichte in Form von Hochglanzpräsentationen, die Tourismusvideos ähneln oder Werbekampagnen für Investitionsprojekte, Zuschüsse und Hilfsgelder.

Ein exklusiver und tokenhafter Einbeziehungsprozess

Anders als bei ihrem Vorläufer, den Millenniums-Entwicklungszielen («Millennium Development Goals»), hat man bei den Zielen für nachhaltige Entwicklung von Anfang an auf einen Multistakeholder-Ansatz gesetzt, um die «gesamte Gesellschaft» einzubeziehen. Zivilgesellschaft, Wirtschaft und weitere Interessengruppen sollen dabei im Rahmen der Umsetzung, Berichterstellung und Überprüfung auf nationaler Ebene zur Erreichung der Nachhaltigkeitsziele beitragen.

Die Regierungen übernehmen die führende Rolle bei der Ausarbeitung einer vermeintlich kohärenten nationalen Strategie zur Umsetzung sämtlicher Nachhaltigkeitsziele und schaffen den institutionellen Rahmen zur Kooperation und Koordination zwischen den staatlichen Behörden und zivilgesellschaftlichen Gruppen. Allerdings fällt es vielen Ländern weiterhin schwer, Mechanismen zur wirksamen und sinnvollen Beteiligung der Interessengruppen zu entwickeln, sodass es oft bei Ad-hoc-Maßnahmen bleibt. Ebenso wurde darauf hingewiesen, dass es – obwohl der Umsetzungsprozess der Agenda 2030 seit vier Jahren läuft – immer noch weitgehend an Bewusstsein darüber mangelt, sogar aufseiten subnationaler und kommunaler Behörden.

Zivilgesellschaftliche Gruppen werden als unabhängige Entwicklungsakteure mit einer Vielzahl von Aufgaben gesehen – sie überwachen, recherchieren, mobilisieren, betreiben Lobbyarbeit und sollen auch die Regierungen und weitere Stakeholder zur Rechenschaft ziehen. Jedoch hat die schrumpfende Macht der Zivilgesellschaft ihre Beteiligung und politische Einflussnahme insbesondere auf nationaler Ebene erschwert und somit durchwachsene Ergebnisse geliefert, vor allem da viele Regierungen die Einbeziehung der Zivilgesellschaft bloß als Pflichtübung abtun. Das steht in deutlichem Kontrast dazu, wie UN, Regierungen und andere Institutionen die Großkonzerne hofieren und den privaten Sektor als Wachstums- und Entwicklungsmotor verklären.

Für einen «neuen Internationalismus»

Der Multilateralismus steckt in einer Krise, was seine Relevanz und Legitimität anbelangt. Das hängt einerseits mit dem Aufstieg nationalistischer und populistischer Tendenzen in der Politik zusammen, andererseits aber auch damit, dass man sich vielerorts zunehmend ernüchtert darüber zeigt, dass es dem Multilateralismus nicht gelungen ist, konkrete Ergebnisse zu erzielen, die etwas am Leben der Menschen verändern.

Die UN konnte ihrer Aufgabe nicht nachkommen, der internationalen Staatengemeinschaft ein zentrales Forum zu bieten, in dem Regeln festgelegt werden, die den Entwicklungsanforderungen Rechnung tragen. Daher besteht auch die Notwendigkeit, sich für gründliche Reformen des multilateralen Systems zu engagieren, damit die UN relevant bleibt und nicht weiter an Legitimität einbüßt. Obwohl sie derzeit rasch an globaler Bedeutung verliert, hat die UN als Versammlungsforum eine einzigartige Strahlkraft und ist nach wie vor die größte Bühne der internationalen Diplomatie. Damit das multilaterale System wirksam bleiben kann, muss es dahingehend umgestaltet werden, dass der UN neues Leben eingehaucht wird.

Vor allem braucht es eine kritische Perspektive, die aufdeckt, warum und inwiefern die UN das neoliberale Entwicklungsmodell stützt – also jenes Modell, dessen Imperativ des Wirtschaftswachstums zugunsten von Privatprofiten zur systematischen Verarmung ganzer Communities, zur Verschärfung von Ungleichheiten und zum Kollaps natürlicher Ökosysteme geführt hat. Für die wirkungsvolle kritische Auseinandersetzung braucht es aber auch ein positives Gegenmodell – anders gesagt, einen «neuen Internationalismus», dessen Fokus auf der Umsetzung globaler sozialer Rechte liegt und auf der Demokratisierung internationaler Organisationen, sowie der Stärkung multilateralen Handelns.

Die Global Governance muss die Transformation ökonomischer und gesellschaftlicher Prozesse und Strukturen ermöglichen, damit entwicklungs- und umweltpolitische Nachhaltigkeit umgesetzt werden kann. Eine erneuerte UN könnte dabei eine entscheidende Rolle spielen – d.h. wenn sie ihrer Aufgabe treu bleiben will, gilt es die Institutionen, Mechanismen, Normen und politischen Maßnahmen neu zu justieren, die dazu dienen sollen, globale Prozesse zu gestalten, zwischen Akteur*innen zu vermitteln und einen Kooperationsrahmen zur Bewältigung globaler Herausforderungen zu schaffen.

Die UN begeht ihr diamantenes Jubiläum vor dem Hintergrund einer beispiellosen Weltlage. Die Art und Weise, wie das multilaterale System mit einer Krise dieses Ausmaßes umgeht, wird eine Bewährungsprobe für die UN sein, was ihre Gestaltungs- und Zukunftsfähigkeit, ihre Führungsrolle und ihre Rolle als globaler Solidaritätsgarant betrifft. Erst danach werden wir wissen, ob die UN ein ungeschliffener Diamant ist.
 

[Übersetzung von Utku Mogultay und Charlotte Thießen für Gegensatz Translation Collective]