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Staatlicher Rassismus im Umgang mit Geflüchteten in der Corona-Krise

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Polizisten in Schutzkleidung beim Einsatz in der Landeserstaufnahmestelle für Asylbewerber in Suhl am 17. März 2020. Die Bewohner stehen wegen eines Coronafalls in ihren Reihen unter Quarantäne. Foto: picture alliance/WichmannTV/dpa-Zentralbild/dpa

«Seht uns als Menschen!» ruft Marllow Kurdi (Name geändert) ins Telefon. Der 34jährige iranische Kurde ist einer von etwa 150 alleinstehenden Männern, die im Haus A der Zentralen Anlaufstelle für Asylbewerber (ZASt) in Halberstadt festsitzen. Er fürchtet, dass die Öffentlichkeit außerhalb kein klares Bild der komplexen und schwer erträglichen Situation innerhalb dieser mit über 800 Menschen eng belegten Sammelunterkunft bekommt. Sein Eindruck ist, dass die Medien stets nur die Äußerungen der Polizei und der Behörden wiedergeben und die Geflüchteten gar nicht zu Wort kommen. Zwar sei der Hungerstreik, in den etwa 100 der Geflüchteten am ersten Aprilwochenende traten, zunächst beendet, die Situation jedoch nur scheinbar ruhiger. Nach wie vor habe nur ein Teil der Insassen der ZASt Hygieneartikel wie Flüssigseife oder Mundschutzmasken erhalten. Marllow gibt zu bedenken, dass allein in seinem Haus sich sämtliche Männer zwei Toiletten, zwei Waschräume und eine Küche teilen müssten - im Zusammenhang mit der erhöhten Infektionsgefahr mit Covid-19 ein völlig unhaltbarer Zustand.

Friedrich Burschel arbeitet bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung als Referent für Neonazismus und Strukturen/Ideologien der Ungleichwertigkeit.

Anfang April war es zu einem massiven Polizeieinsatz vor der ZASt gekommen, weil um die Geflüchteten besorgte Menschen vor den Toren gegen deren fahrlässige Behandlung protestieren wollten - wohlgemerkt mit dem seuchenschutzrechtlich gebotenen Mindestabstand. Die Polizei schritt gegen die wenigen Protestierenden ein und erstattete Anzeige wegen des Verstoßes gegen das Infektionschutzgesetz, das alle Versammlungen kategorisch verbietet. Bis zu zwei Jahre Gefängnis oder Geldstrafen drohten den Gesetzesbrecher*innen, ließ das zuständige Polizeirevier Harz wissen.

Auch innerhalb der ZASt setzten sich die dort eingesperrten Menschen gegen ihre Behandlung zur Wehr und protestierten gegen die brachialen Methoden der Behörden und vor allem auch des dort eingesetzten «Sicherheitsdienstes». Helen Deffner vom Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt berichtet von chaotischen Zuständen und einer völligen Überforderung der Behörden vor Ort. Schon kurz nach der Anordnung der Quarantäne wegen einiger Covid-19-Infizierter in dem Lager am 27. März waren keine Hygieneprodukte, keine Seife, keine Binden und auch kein Toilettenpapier mehr übrig. Die Verwaltung zog sich darauf zurück, dass die Bewohner*innen des Lagers sich diese Produkte von ihrem Taschengeld selbst kaufen müssten. Darauf aufmerksam gemacht, dass die Menschen ja nun eingesperrt seien und nicht mehr einkaufen gehen könnten, regte man an, die Einkäufe - wohlgemerkt für alle 850 Insassen - von den Sozialarbeiter*innen in der Anstalt erledigen zu lassen. Diese dürfen die Quarantäne jederzeit verlassen und gehen abends nach Hause. Infektionsschutz? Fehlanzeige. Und von Schutzkleidung oder Mundschutzmasken war eh nie die Rede.

Deswegen traten die Eingesperrten in den Hungerstreik - dem einzigen Kampfmittel der Hilflosen - und versuchten in Zeiten ohne Protest, ohne Rechtsmittel und ohne freie Berichterstattung auf ihre Lage als Menschen zweiter Klasse in einem der reichsten Länder der Welt aufmerksam zu machen, und pochten auf die Einhaltung humanitärer Mindeststandards. Kurdi und Deffner berichten übereinstimmend, dass das Schlimmste die fehlende Information sei. Die von drastischen Fluchtgeschichten, Kriegs- und Rassismuserfahrungen oft schwer traumatisierten Geflüchteten verstanden nicht, was mit ihnen geschah und was ihnen bevorstand. Ohne nennenswerte Sprachmittlung und Übersetzung sollten sie sich den drastischen Quarantäne-Maßnahmen der ZASt-Verwaltung beugen. Eine - so wird es übereinstimmend geschildert - überaus brutale «Security» errichtete innerhalb der ZASt Bauzäune zwischen den drei Wohngebäuden und den zusätzlichen Container-Komplexen, um Einheiten von je ca. 150 Personen voneinander zu trennen und so Infektionen zu vermeiden - ohne Erklärung sah das bedrohlich aus und als wollte man die Menschen so als Problem unter Kontrolle halten. Es kam zu einer Kundgebung an einem der Zäune, wo die Menschen laute Brummgeräusche anstimmten. Bei einer Rangelei entlang dieser Barrieren fiel einer der Bauzäune um. Im Internet war dann ein Video zu sehen, das Bewohner*innen der ZASt ins Netz gestellt hatten und in dem einige Betroffene von ihrer Situation und von Misshandlungen durch Security-Mitarbeiter berichten. «Das ist keine Quarantäne, das ist ein Gefängnis», sagt eine Frau. Ein junger Mann aus Haus C schildert, man habe ihm gegenüber erklärt, es gebe «nicht genug Betten und Krankenhäuser» für alle. Eine junge Schwangere berichtet, sie sei von einem «Security»-Mitarbeiter brutal zurückgedrängt und auf den Kopf geschlagen worden.

Besonders iranische Staatsangehörige, die mit ihren Familien in Kontakt sind und von der völlig außer Kontrolle geratenen Situation mit Covid-19-Infektionen mit vielen Toten in ihrem Herkunftsland hörten, gerieten angesichts der eigenen Situation in Panik. Infizierte ZASt-Bewohner*innen, so wurde es auch Helen Deffner geschildert, wurden häufig nachts in eine Isolation anderenorts abtransportiert. Für Menschen, die traumatische Erfahrungen gemacht haben und auch Abschiebungen zu fürchten haben, der blanke Horror, wenn die behördlichen Maßnahmen nicht oder nicht ausreichend erklärt werden. Für sie bleibt es völlig unverständlich, weshalb sie selbst nach negativen Tests an diesem hochinfektiösen Ort und in dieser auch sanitären Enge verbleiben müssen und wie Gefangene behandelt werden.

Ebenso erging es schon Mitte März den über 500 Insassen der Sammelunterkunft für Asylsuchende im südthüringischen Suhl, als dort einige erste Covid-19-Infektionen festgestellt wurden. Die brachiale Absperrung des Lagers durch eine bizarr unverhältnismäßige polizeiliche Streitmacht mit Wasserwerfern und Schutzanzügen gegen die panisch protestierenden Menschen eskalierte die Situation noch zusätzlich und dokumentiert auf beklemmende Weise den institutionellen Rassismus, der bei diesen Maßnahmen obwaltete. Wieder ohne angemessene Information und Aufklärung ging der Staat hier gegen Menschen vor, die - so berichtet Ellen Könneker vom Thüringer Flüchtlingsrat - glaubten, jetzt beginne eine Massenabschiebung. In der Version des Suhler Polizeichefs Wolfgang Nicolai wurde aus den - ja durchaus nachvollziehbaren - Protesten der Menschen eine Geschichte, wie sie sich rechte Hetzer nicht besser hätten ausdenken können: eine Gruppe identifizierbarer «Störer» und «Gefährder» habe sich randalierend hinter Kindern als Schutzschild verschanzt und zudem eine Fahne des «Islamischen Staats» (IS) gezeigt. Diese Meldung war frei erfunden und von einem angeblichen Augenzeugen gekommen und dann vom Polizeichef in einer Pressekonferenz ungeprüft kolportiert worden.

Erklären kann man sich diese völlig unverantwortliche Weitergabe ungesicherter Informationen eigentlich nur, wenn die Falschmeldungen mit dem rassistischen Weltbild des Polizeichefs und seiner Behörde übereinstimmen. Ein anschaulicheres Beispiel für diese gefährliche Mischung aus eigenen individuellen Vorurteilen und einer - für das eigene behördliche Vorgehen vorteilhaften - institutionellen Sicht auf die «Flüchtlinge», was gemeinhin institutioneller Rassismus genannt wird, lässt sich kaum finden. Auf Nachfrage der Berliner Taz stellte sich schnell heraus, dass es eine IS-Fahne nicht gegeben hat.

In der Woche nach den beklemmenden Ereignissen in Suhl und dem den Sachverhalt richtigstellenden Taz-Artikel (25.3.2020) war der rassistische Wahn mindestens so aggressiv viral gegangen wie das Sars-Cov-2-Virus: von den notorischen Vera Lengsfeld und Tichys Einblick über die Junge Freiheit und Epoch Times bis zu Identitären-Chef Martin Sellner und dem rechten Youtuber und Ex-Polizisten Tim Kellner zogen sich alle Völkischen an dem Unfug des Suhler Polizeichefs hoch. Dass dann natürlich auch der AfD-Einpeitscher im Bundestag, Gottfried Curio, nicht fehlen durfte, war klar und nur eine Frage der Zeit. Dass Nicolai für seine gefährlichen Äußerungen in irgendeiner Weise zur Verantwortung gezogen wird, scheint unwahrscheinlich. Rassistischer Alltag in Deutschland.

Im Gegenteil, das Thüringer Landesverwaltungsamt rief gar die Bundeswehr zu Hilfe, um nach der «Schlacht von Suhl» (Kellner) der Lage Herr zu werden. Immerhin: Die Bundeswehr lehnte den Einsatz, der lediglich für Versorgungs- und Verteillogistik vorgesehen war, ab. Unterdessen ist die Quarantäne auf dem Suhler Friedberg wieder aufgehoben und es ist etwas Ruhe eingekehrt, kann Ellen Könneker berichten.

Auch im baden-württembergischen Ellwangen, in der dortigen Landeserstaufnahme-Einrichtung (LEA) werden die Bewohner*innen behandelt wie reine ordnungspolitische Manövriermasse: Nachdem dort 244 Infektionen festgestellt wurden, werden die Betroffenen von jetzt auf gleich mit ihren Sachen in einen Isolierblock verlegt. Es ergehen keine schriftlichen Mitteilungen, weder über die medizinischen Ergebnisse der Tests noch über die ergriffenen Maßnahmen. Allgemeine Empfehlungen zu Hygiene und Abstand-Halten, so heißt es,  könnten «angesichts der beengten Verhältnisse in den Mehrbettzimmern und der Massenverpflegung in der Kantine nicht ernst genommen werden». In Kürze sind die so Behandelten auch noch komplett von der Außenwelt abgeschnitten, denn der einzige Wlan-Hotspot auf dem Gelände der LEA, wo die Leute ihr Handy-Guthaben aufladen könnten, ist für viele nicht mehr erreichbar. Wieder einmal weiß die Lokalpresse mehr als die Betroffenen selbst, wie Protestierende in Ellwangen feststellen. «Das LEA-Lager darf nicht zur Black Box werden», fordern sie. Die Menschen müssten Desinfektionsmittel und Hygieneprodukte, schriftliche Mitteilungen über ihre Testergebnisse und über den Status des Lagers erhalten. Auf refugees4refugees warnen Betroffene vor Toten in der LEA, weshalb Angehörige von Risikogruppen aus dem Lager genommen werden und etwa in Hotels untergebracht werden müssten. Nur eine komplette Auflösung der drangvoll engen Lager könnte nach Auffassung der Protestierenden den Schutz vor Infektionen gewährleisten.

«Das ist doch völlig widersinnig: in Nürnberger Naherholungsgebieten werden Menschen von der Polizei angehalten, kontrolliert und auf Distanzregelungen und darauf hingewiesen, dass sie unnötige Bewegungen außerhalb ihrer Wohnung zu unterlassen hätten, während in den Ankerzentren und Gemeinschaftsunterkünften Menschen auf engstem Raum mit Gemeinschaftsverpflegung und geteilten Sanitäranlagen zusammengepfercht leben müssen», sagt der Sprecher des Nürnberger Büros des Bayerischen Flüchtlingsrates in Nürnberg, Alexander Thal. Sein Kopfschütteln am anderen Ende der Telefonleitung ist förmlich zu hören. Der Flüchtlingsrat hat wegen der Ungleichbehandlung von Geflüchteten und deren zwangsweise Unterbringung in prekären so genannten Ankerzentren jetzt Anzeige gegen die Regierungen (Verwaltungen) der sieben bayerischen Bezirke und Joachim Herrmanns Staatsministerium des Innern erstattet. In der Anzeige heißt es: «Sie bringen in den Anker-Zentren und in den Gemeinschaftsunterkünften der Regierungen und den dezentralen Unterkünften der Landkreise Flüchtlinge in Mehrbettzimmern unter und setzen dieser der großen Gefahr einer Infektion mit dem Corona-Virus aus. Die betroffenen Flüchtlinge haben keine Möglichkeit, ihre Verpflichtungen aus der Bayerischen Verordnung über Infektionsschutzmaßnahmen anlässlich der Corona-Pandemie (BayIfSMV) vom 24. März 2020 einzuhalten».

Wie die Geflüchteten in Halberstadt, Suhl, Potsdam und zuletzt auch in Ellwangen fordert der Bayerische Flüchtlingsrat die Schließung der Massenlager und die dezentrale Unterbringung der Geflüchteten. In der Anzeige heißt es weiter, die angezeigten Exekutivorgane hätten als «vollziehende Behörden (...) die Verpflichtung, als Betreiber*innen der Anker-Zentren und Gemeinschaftsunterkünfte eine Unterbringung zu gewährleisten, die den bayerischen Verordnungen zur Corona-Pandemie entspricht, denn auch Flüchtlinge haben ein Recht auf Schutz vor einer Corona-Infektion». Ob der Flüchtlingsrat mit seiner Anzeige Erfolg haben wird, darf wohl angezweifelt werden. Diese rassistische Form einer gewissermaßen schon vor der Infektion stattfindenden Triage, die das Recht auf Unversehrtheit und Schutz für «Einheimische» und Geflüchtete zuungunsten letzterer abstuft, gehört ebenso zum Krisenhandling wie das Ausblenden des Elends an den Außengrenzen der EU. Protest gegen die Willkür und den von staatlichen Stellen mitunter befeuerten Rassismus, das zeigen die hier beschriebenen Beispiele, muss also schon in der eigenen Nachbarschaft beginnen.

«Das ist hier doch kein Gefängnis und wir sind keine schlechten Menschen. Wir machen nur von unserem demokratischen Recht Gebrauch, unsere Forderungen zu formulieren», sagt Marllow Kurdi noch, ehe er auflegt.

Ein Fortsetzungstext zu diesem Thema findet sich auf unserem antifra-Blog: «Sammellager: Rassistisches Corona-Handling» von Josefine Körmeling.