Liebe Leserinnen und Leser, [1]
Lassen Sie sich von mir zu einer Zeitreise einladen:
Versetzen wir uns in die Zeit um 1920.
Versuchen wir, die Welt so zu betrachten, wie dies vor 100 Jahren der französische Jurist und Politiker Léon Bourgeois getan hatte.
Und stellen wir uns folgende drei Fragen:
I. Wie sah Léon Bourgeois die Welt um sich herum?
II. Worauf konnte er zurückschauen?
III. Was sah er heraufkommen?
Anliegen dieser gemeinsamen Zeitreise ist es, einer Persönlichkeit Ehre zu erweisen, die –
bis heute! – allzu oft im Schatten anderer steht, und die doch entscheidenden Einfluss auf die politische Ideen- und Realgeschichte genommen hat: Mit seinem originären Beitrag zum Solidaritätsdiskurs sowie mit seinem praktisch-politischen Wirken für die Gründung einer Société des Nations.[2]
Dabei ist beides, so behaupte ich, bei Léon Bourgeois untrennbar miteinander verbunden: Die Société des Nations, Organisation zur Schaffung dauerhaften Friedens, stellt für Bourgeois die Verkörperung der Idee der Solidarität auf internationaler Ebene dar. Bis in seine letzten Äußerungen besteht ein enger Konnex zwischen Solidarität, Völkerbund und Frieden
I. Europa vor 100 Jahren
Versetzen wir uns also in die Zeit vor 100 Jahren zurück. Was sieht der an die 70jährige, fast blinde Seher Léon Bourgeois um sich herum?
Gegen Ende seiner Rede über den Völkerbund, die er am 28. April 1919, dem Tag der Ratifizierung der Völkerbundsatzung, hält, sagt er:
«Wir» – hier sind die Franzosen gemeint – «sprechen nicht nur im Namen unserer überfallenen und verwüsteten Regionen, die nicht noch einmal einer solchen Zerstörung ausgesetzt werden dürfen, und die so viele Jahre brauchen werden, um wieder auf die Beine zu kommen und aufzuleben; es gibt viele andere, in Belgien, in Serbien, in Italien, die dasselbe Schicksal erlitten haben, viele andere, die es in jenen Staaten ereilen könnte, die durch den Sieg des Rechts in die Freiheit zurückgeholt wurden und deren aufkeimende Kräfte wirksam geschützt werden wollen.
Wir Franzosen sprechen nicht nur im Namen unserer 1,7 Millionen Toten, sondern im Namen der unzähligen Toten, die an den Grenzen Europas für das Recht gefallen sind und die wünschten, dass ihre Kinder und Kindeskinder mit allen Mitteln, die dem menschlichen Willen zur Verfügung stehen, vor ähnlichen Blutbädern geschützt würden.»[3]
Europa liegt in Trümmern: Es ist übersät von Schlachtfeldern und Friedhöfen; die Städte sind voller Kriegskrüppel (man denke an die Gemälde von Otto Dix, George Grosz u.a.). Anders ausgedrückt: Europa hat (fast) Selbstmord begangen.[4]
Für Personen wie Léon Bourgeois, die ihr Leben dem Kampf für Frieden, internationale Solidarität und Völkerverständigung gewidmet hatten, ist dies auch der Zeitpunkt, sich die Frage nach dem Gelingen oder Scheitern des eigenen Lebens/-werks zu stellen.
II. Rückschau
II.1. Solidarität/ Solidarismus
Dabei kann Léon Bourgeois auf ein erfülltes Leben zurückschauen.
Zum einen hat er, und zwar seit den 1890er Jahren, einen originären Beitrag zur Entwicklung der Kategorie der Solidarität geleistet und sich damit in die Geschichte politischer Ideen eingeschrieben. Darauf möchte ich im Folgenden etwas näher eingehen, denn diese Konzeption in ihren Verästelungen wird Grundlage auch seiner Vorstellung von einer zu schaffenden Société des nations werden.
Bourgeois zufolge sind die Menschen grundsätzlich soziale Wesen, welche nur in der Gesellschaft existieren und sich entwickeln können. Zwischen ihnen besteht eine «natürliche» und insofern objektive Solidarität im Sinne ihrer unausweichlichen Abhängigkeit voneinander, und dies sowohl in synchroner als auch diachroner Hinsicht.[5]
In Auseinandersetzung mit der Konzeption des Gesellschaftsvertrags von Jean-Jacques Rousseau und unter Rückgriff auf die nicht unumstrittene Figur eines Quasigesellschaftsvertrags [6] geht Bourgeois davon aus, dass die Einzelnen weder logisch noch historisch in einen Naturzustand hineingeboren werden und erst post festum einen Gesellschaftsvertrag schließen, sondern dass dieser je schon besteht und der Einzelne diesem jeweils retroaktiv zustimmt.
Wie Bourgeois immer wieder akzentuiert, bestehen dieser Vertrag und die somit rechtlich fundierte Solidarität nicht irgendwo über den vertragschließenden Individuen, die somit ihre Rechte an ein sie letztlich beherrschendes Ganzes ab- und aufgeben würden. Vielmehr konstituieren die Individuen, seiner Auffassung nach, untereinander resp. zwischen sich, ein komplexes Netz an sozialen Beziehungen, an dem sie gleichberechtigt Anteil haben (sollen).
Die Gesellschaft bezeichnet er als Assoziation, den Einzelnen als Associé, der seinen Anteil am Ganzen leistet und hat. Soll heißen, in dieser Assoziation herrscht wechselseitiges Geben und Nehmen. Genauer gesagt: Nehmen und Geben, denn der Associé, wird er in die Gesellschaft hineingeboren, steht insofern in deren Schuld, als er aus dem in der Geschichte der Gesellschaft angehäuften materiellen und ideellen Reservoir, um nicht zu sagen: Kapital, schöpfen kann und muss.
Seine individuelle Entwicklung und Verantwortung werden darin bestehen, diese Schuld abzutragen und der Gesellschaft zurückgeben, was er ihr entnommen hat, ja, dass er ihr mehr, Anderes und Neues zurückgibt.[7]
Innerhalb der Assoziation werden nun aber nicht nur die Gewinne sozialisiert, sondern auch die Risiken – seien diese natürlicher oder sozialer Art –, die von daher nicht mehr dem Einzelnen aufgebürdet, sondern unter den Associés aufgeteilt werden.[8]
Mit dieser hier nur kurz umrissenen Konzeption von Solidarität setzt sich Bourgeois zum einen mit den Ende des 19. Jahrhunderts virulenten Strömungen von Etatismus/ Kommunismus/ Sozialismus einerseits und egozentriertem Individualismus/ Liberalismus andererseits auseinander und von ihnen ab.
Zum anderen entwickelt er den Begriff der Brüderlichkeit/ Fraternité aus der berühmten Trias der Französischen Revolution weiter, insofern er den damit in Konnex stehenden Gehalt von Nächstenliebe, Barmherzigkeit, Wohlfahrt et al, die ja stets ein ungleichgewichtiges Geben und Nehmen insinuieren, durch den Begriff der Solidarität substituiert, der in seiner Interpretation auf die Reziprozität von Gaben und Gegengaben und damit den gleichberechtigten Austausch zwischen souveränen Akteuren abhebt.
Und schließlich verändert er in dieser Trias sogar die Reihenfolge der Begriffe, ihnen damit eine je andere Gewichtung verleihend: Während der Diskussion über seinen Vortrag zu Solidarität und Freiheit, den er auf der Konferenz für Sozialerziehung am Rande der Pariser Weltausstellung im Jahre 1900 hält, führt er aus:
«Die Formel der Französischen Revolution lautet: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Muss ich betonen, dass wir diese Formel keineswegs verlassen wollen? Unsere Beobachtungen gehen lediglich dahin, die Anordnung dieser drei Begriffe zu modifizieren. Die Solidarität ist das erste Faktum, jeglicher sozialen Organisation vorhergehend; zugleich ist sie der objektive Seinsgrund der Brüderlichkeit. Mit ihr ist zu beginnen. Solidarität zuerst, dann Gleichheit oder Gerechtigkeit, was in Wahrheit dasselbe ist; schließlich Freiheit. Das, so scheint es, ist die notwendige Ordnung der drei Ideen, in denen die Revolution die soziale Wahrheit zusammenfasst.» [9]
Wenngleich somit Solidarität zu Bourgeois Primär-, um nicht zu sagen: Lieblingskategorie avanciert, ist er doch weit entfernt davon, sie zu verabsolutieren. Vielmehr zeigt er die sozialen Grenzen von Solidarität auf, dann nämlich, wenn der Bezug auf die jeweilige Gruppe hypostasiert wird und die vielfältigen Bezüge, in welchen die Einzelnen stehen, negiert werden. Dann kommt es, Bourgeois zufolge, zum Umschlagen in A-Solidarität bzw. A-Sozialität, mit potentiell gewalttätigen Konsequenzen in den Beziehungen zwischen einzelnen Individuen bzw. Gruppen. Was letztlich dazu führe, dass die sich selbst verabsolutierende Gruppe, Klasse oder Nation nicht nur den oder die Anderen zerstört, sondern sich, einem Krebsgeschwür gleich, die eigenen Lebensgrundlagen entzieht.[10] Daher betont er, und das finde ich bemerkenswert hell- und weitsichtig, die Vielfalt von sozialen Zusammenhängen, in welchen die Einzelnen stehen, und er verweist immer wieder auf die Reihenfolge Individuum – Familie – Gruppe – Nation – Internationale/ Weltgesellschaft, innerhalb derer der Einzelne seinen Platz suchen und finden muss, ohne sich der nächsthöheren Ebene zu verschließen.
II.2 Engagement in der europäischen Friedensbewegung
Damit sind wir beim zweiten Strang seines Engagements angelangt, auf welchen er zurückblicken kann, und der von dem bisher Dargelegten nicht zu trennen ist: Ich meine das praktisch-politische Engagement von Léon Bourgeois bzw. sein Agieren als homme politique. Nicht zu trennen deshalb, weil gerade bei ihm Vita activa und Vita passiva, das Reflektieren über die Welt um sich herum und das aktive Handeln in ihr, permanent ineinander übergehen und sich wechselseitig stimulieren.
Denn der promovierte Jurist schlägt weder eine Laufbahn als Rechtsanwalt noch als Universitätsprofessor ein; ihn zieht es in die praktische Politik, und dort steigt er sukzessive von der Lokalpolitik über das Innenressort bis zum Premierminister auf – eine beachtliche Karriere! In dieser Position versucht er, sein Konzept von Solidarität in praktische Sozial-Politik umzusetzen: Ja, es wird sogar davon gesprochen, dass in den 1890er Jahren Solidarität zur Staatsräson des ersten linkssozialistischen Kabinetts unter Léon Bourgeois wurde. – Die Idee der Solidarität nimmt, um ein Zitat zu paraphrasieren, materielle Gewalt an. Zunächst auf innenpolitischer Ebene.
Doch bleibt Bourgeois dort nicht stehen: Ihn zieht es in die internationale Politik. Und so übernimmt er bei den beiden Friedenskonferenzen, die, zunächst initiiert durch Zar Nikolaus II., 1899 und 1907 in Den Haag stattfinden, die Leitung der französischen Delegationen. Er ist dort äußerst engagiert und wendet seine offenbar außergewöhnlichen, rhetorischen und kommunikativen Fähigkeiten an, [11] um zwischen divergierenden Interessen zu vermitteln, Streitigkeiten zu schlichten, aber auch, um seine Vorstellungen durchzusetzen – von notwendiger Abrüstung, der Einrichtung eines internationalen Schiedsgerichtshofs, nicht zuletzt aber auch diejenigen von der Solidarität.
So verweist er mit Stolz darauf, dass, unter seinem Einfluss, der Begriff der Solidarität Eingang gefunden hat in die Präambel der Konvention zur friedlichen Regelung internationaler Konflikte vom 18. Oktober 1907, die immerhin von 44 Staaten unterzeichnet wurde. Dort heißt es: «Die Souveräne und Staatschefs der unterzeichnenden Mächte, die auf der zweiten Friedenskonferenz anwesend sind…, anerkennen die Solidarität, die die Mitglieder der Gesellschaft der zivilisierten Nationen vereint.» [12]
Hier fließen nun tatsächlich mehrere Stränge zusammen: seine Konzeption von Solidarität, seine Vorstellung von Frieden, und das praktisch-politische Engagement für die Bildung einer Société des nations. Denn so, wie sich die Individuen/ Associés innerhalb einer Gesellschaft in objektiven und notwendigen Austauschbeziehungen miteinander befinden, diese durch ihr praktisches Handeln immer wieder erneut konstituierend, genau so stellt sich, gewissermaßen in einem Analogieschluss, für Léon Bourgeois auch das internationale Leben dar: Die Nationen dieser Erde sind, so seine Diagnose bereits um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, durch vielfältige Austauschbeziehungen miteinander verbunden, und zwar auf ökonomischem, politischem und geistig-kulturellem Gebiet. Allerdings sind diese bereits objektiv vorhandenen Kommunikationsformen bislang noch unbewusst, ungeordnet und wild, und die Aufgabe von Politik besteht aus Sicht des Juristen Bourgeois darin, hier rechtliche Formen zu schaffen und durchzusetzen, die diese chaotischen und oftmals eruptiven Prozesse und Beziehungen in geordnete und friedliche Bahnen leiten.
Genau diesem Zweck nun soll die Société des nations dienen, für deren Schaffung er sich bereits seit der zweiten Hälfte der 1890er Jahre einsetzt – und damit lange vor dem Ersten Weltkrieg. So heißt es bereits 1908 in einer Rede: «Der Völkerbund ist gebildet – und er ist recht lebendig!» [13]
Ziel des Völkerbundes ist laut Bourgeois die Bildung einer internationalen Rechtsordnung, die auf die Schaffung dauerhaften Friedens ausgerichtet ist. Die Einrichtung einer funktionstüchtigen, mit effektiven Sanktionsmitteln ausgestatteten Schiedsgerichtsbarkeit ist wesentliches Instrument desselben, Rüstungskontrolle, Rüstungsbegrenzung bzw. schrittweise Abrüstung die Voraussetzung bzw. Konsequenz eines stabilen Friedenszustandes. In der von ihm seit der Jahrhundertwende verfolgten und schließlich tatsächlich realisierten Idee des Völkerbundes verquicken sich und kulminieren seine theoretischen und praktisch-politischen Ambitionen und Aspirationen ebenso wie seine beiden Hauptideen bzw. -Motive: Solidarität und Frieden.
Dabei bildet Frieden für Bourgeois nicht einfach die Abwesenheit von Krieg.[14] ; Vielmehr ist sein Ansinnen auf die Schaffung von sozialpolitischen und rechtlich vermittelten Bedingungen für friedliche Beziehungen zwischen Individuen, Gruppen, Klassen und letztlich Nationen gerichtet, was auf einen engen Konnex von innerem und äußerem Frieden verweist, ohne dass er bereits diese Begrifflichkeiten verwendet hätte. Zudem spricht er der Société des nations weitere Aufgaben zu, die über die unmittelbare Herstellung von Frieden hinausgehen bzw. auf dessen künftige soziale Grundierung verweisen, nämlich die Organisation von Arbeit und öffentlicher Bildung.[15]
Im Sommer 1914 bricht La Grande Guerre aus, das Ereignis, dessen Verhinderung eines der Lebensziele von Léon Bourgeois war.[16]
Steht Bourgeois nun vor dem Scherbenhaufen seines praktisch-politischen Engagements?
Kommen wir also zu meiner dritten Frage:
III. Was sieht Léon Bourgeois auf sich zukommen?
Die Nobelpreisrede von 1922
Die Gründung des «real-existierenden» bzw. formal als solchen anerkannten Völkerbundes – La Société des nations, The ligue of nations – ist bekanntermaßen Ergebnis der Pariser Friedens-Verhandlungen von 1919; seine Satzung ist Bestandteil des Versailler Vertrags; formal nimmt er seine Arbeit am 10. Januar 1920 auf, also ziemlich exakt vor 100 Jahren.
Léon Bourgeois wird erster Präsident des Völkerbundrates. In dieser Funktion eröffnet er die erste Sitzung desselben am 16. Januar 1920 in Paris. [17]
Für seine langjährigen Bemühungen um Frieden, die friedliche Konfliktlösung auf internationaler Ebene und deren Institutionalisierung in Gestalt des Völkerbundes wird er im selben Jahr mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet – ein Jahr nach Woodrow Wilson, der, als Präsident der USA, gewissermaßen die Hauptrolle bei den Friedensverhandlungen spielte, im Nachhinein – und bis heute! – als der eigentliche Initiator der Gründung des Völkerbundes gilt und Léon Bourgeois so in den Hintergrund drängte.
Bourgeois ist zu diesem Zeitpunkt fast 70 Jahre alt; er ist fast erblindet. Daher kann er nicht nach Oslo fahren, um den Nobelpreis persönlich entgegenzunehmen. Zwei Jahre später, also 1922, verfasst er seine Nobelpreisrede. Ihr Titel: Les raisons de vivre de la Société des Nations, [18]> was ich in etwa übersetzen würde mit Die Daseinsberechtigung, oder aber: Lebensgründe der Gesellschaft der Nationen.
Doch auch 1922 ist er aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage, nach Oslo zu reisen, weshalb er diese Rede dem Nobelpreiskomitee schriftlich zukommen lässt. Ich möchte auf diese Rede im Folgenden etwas näher eingehen, da Bourgeois in ihr zum einen Bilanz seines politischen Lebens zieht, und zum anderen sowohl die Seinsgründe als auch die künftigen Gefahren für die Institution Völkerbund herausarbeitet.
In Anschluss an Karl Hjalmar Branting, Friedensnobelpreisträger von 1921, spricht er von der «großen Enttäuschung», den La Grande Guerre von 1914-1918 bei all denjenigen ausgelöst hatte, die sich im Sinne Alfred Nobels für den Frieden engagiert hatten. Doch gäbe es, unter den Trümmern, die dieser Krieg hinterlassen habe, zu viele Verheißungen eines Neubeginns, als dass man nun von einer «Periode des Rückschritts» sprechen müsse. Den Sieg, der letztlich errungen wurde, bezeichnet der Jurist Bourgeois nämlich als «Sieg des Rechts und der Zivilisation»: Denn dieser verheerende Krieg habe schließlich die Notwendigkeit der Gründung einer internationalen Assoziation (!) der zivilisierten Staaten zur Verteidigung des Rechts und der Erhaltung des Friedens vor Augen geführt und somit ermöglicht. «Der Völkerbund», schreibt er, »seit 1899 und 1907 durch die Haager Friedenskonferenzen angekündigt, wurde mit dem Vertrag vom 18. Juni 1919 eine lebendige Realität.» [19]
So paradox es auch scheinen mag: Der real-existierende Völkerbund, institutionelle Form der Schaffung von Frieden, ist für Bourgeois Resultat des Großen Krieges.
Aber, so lautet eine weitere seiner Fragen: Wird uns der Völkerbund eine dauerhafte Organisation des Friedens bringen?
Denn das war ja sein eigentliches Ziel: nicht die Herstellung eines kurzfristigen Friedens im Sinne eines vorübergehenden Waffenstillstandes, sondern die Schaffung rechtlich geregelter Bedingungen eines dauerhaften, heute würde man sagen: nachhaltigen Friedens.
In Beantwortung dieser Frage verweist er auf Fortschritte, die in verschiedensten Nationen realisiert wurden und welche ihm zufolge Grundlagen für die Lebensfähigkeit des Völkerbundes sind. Hierzu zählt er: den Zuwachs an öffentlicher Bildung, das Vorherrschen demokratischer Institutionen, den Rückgang von Vorurteilen, darunter auch von Klassenvorurteilen, sowie eine Gesamtheit von Institutionen solidarischen Charakters. All dies führe bei den Völkern zu einer «intellektuellen Revolution», die in der breiten Anerkennung der Notwendigkeit internationaler Institutionen zur Regelung der internationalen Beziehungen bestehe.
Eine große Rolle spielen für Bourgeois zudem räumlich-zeitliche Faktoren: Die dauerhafte Etablierung einer Société des Nations brauche zum einen Zeit; obwohl bereits auf der 1. Haager Friedenskonferenz verkündet, sei es klar gewesen, dass der Völkerbund nicht von heute auf morgen etabliert und seine Hauptaufgaben: Abrüstung und Frieden, nicht sofort gelöst sein würden. Zum anderen aber seien es eben auch räumliche Faktoren, die seine Existenz begründen und entweder begünstigen oder aber erschweren würden. Hier ist Bourgeois der Auffassung, dass im Nachkriegs-Europa durch neue Grenzziehungen, das Ende von großen Reichen und die Entstehung demokratischer Regime, günstigere Existenz-Voraussetzungen für ein Gebilde wie den Völkerbund entstanden seien, ebenso wie durch die Intensivierung der vielfältigen Austauschformen zwischen den Nationen, denen sich keine, selbst nicht so große wie die USA, entziehen könnten. [2]
Für die Durchsetzung der Anerkennung der Notwendigkeit der Existenz des Völkerbundes setzt Bourgeois stark auf die Rolle der Propaganda durch Fakten und das positive Beispiel, in Neu-Deutsch würde man heute sagen: best practice. So heißt es wörtlich bei ihm:
«Durch die Konstitution der Organe des internationalen Lebens das Beispiel der Notwendigkeit dieses Lebens selbst vor Augen zu führen; die Menschen unterschiedlicher Nationen und Rassen zu lehren, gemeinsam zu leben; über allem das universelle Phänomen der Solidarität der Nationen und der Menschen ins Licht zu rücken – dies wäre die beste, effizienteste und überzeugendste Lektion, die man sich vorstellen kann.» [21]
Zur breiten Anerkennung der Notwendigkeit des Völkerbundes sei es zudem wichtig, dass dieser kein über den Nationen schwebendes Etwas sei, in diesem Sinne also keinen «Über-Staat» darstelle, sondern ein zwischen den Nationen, also wahrhaft inter-nationales Gebilde zur Regelung ihrer Angelegenheiten bilde. [22] Immer wieder betont er auch die Notwendigkeit von Klarheit und Offenheit in der Darlegung der Prinzipien sowie die Freiwilligkeit der Zustimmung zu den Regeln des Völkerbundes und zur Verhängung von Sanktionen in dem Moment, wenn diese Regeln gebrochen werden, ebenso wie die Gleichberechtigung der Mitglieder desselben, seien diese nun große oder kleine Staaten.
Hier wird deutlich, wie seine Konzeption von Solidarität in die Formulierung von Prinzipen des Völkerbundes hineinragt – und wie er zugleich damit Grundprinzipien des Multilateralismus mitgeprägt hat.
War Léon Bourgeois, so lässt sich angesichts der uns Nachfolgenden bekannten Geschichte der 1930er/-40er Jahre fragen, naiv; war er blind gewesen; hat er nur einen schönen Traum geträumt?
Bourgeois hat diese Fragen selbst aufgeworfen und darüber reflektiert. An mehreren Stellen der Nobelpreisrede spricht er vom Traum, [23] und mehrfach wirft er die Frage auf, ob wir blind seien.
«Wir sind», schreibt er so an einer Stelle, «weit entfernt von einem blinden Vertrauen in die Zukunft, und wir haben zu evidente Beweise und zu klare Anzeichen von Unruhen vor Augen, als dass wir sie übersehen könnten.» [24] Und etwas weiter lesen wir: «Waren die Gefährdungen dieses» (des internationalen) «Rechts 1914 und in den Kriegsjahren leider nur zu deutlich, so hat der Sieg hier wieder Gerechtigkeit walten lassen; wenn sie» (also die Gefährdungen) «sich eines Tages wiederholen sollten, müsste man in der Tat an der Zukunft der Menschheit zweifeln.» [25]
Léon Bourgeois war sich der vielfältigen Probleme der internationalen Nachkriegsordnung also bewusst; er war ihnen gegenüber nicht blind, sondern sah den Tatsachen sehr wohl ins Auge. Der Völkerbund, die Realisierung der, um nicht zu sagen, seiner, Idee von Solidarität auf internationaler Ebene, war auch für ihn kein Allheilmittel, vielmehr beruhte dieser aus seiner Sicht auf nach wie vor fragilen politischen und mentalen Voraussetzungen; seine Existenz – und damit die des internationalen Friedens – war von Beginn an gefährdet.
Wenn dem so war: Was bleibt dann? Wie geht man individuell mit einer solchen Situation um?
Schaut man sich das Ende von Léon Bourgeois‘ Nobelpreisrede an, so hat es den Anschein, als würde er zu einer religiösen Strategie tendieren und dem Glauben zuneigen. Lassen Sie mich von daher die letzten Sätze dieser bemerkenswerten Rede zitieren, in denen er noch einmal seine Hauptkategorien – Völkerbund, Frieden und Solidarität – nennt und die er mit einem Wort beschließt: dem Glauben:
«Sicher, es braucht noch Jahre der Prüfung, viele Rückschritte, bevor die menschlichen Leidenschaften, die in allen Menschen lauern, soweit sind aufzugeben; aber wenn der Weg zum Ziel klar vorgezeichnet ist, wenn eine Organisation, wie der Völkerbund sie derzeit darstellt, entsteht und sich vervollkommnet, dann siegt die wohltuende Kraft des Friedens und der menschlichen Solidarität über das Böse. Das ist genau das, was wir zu Recht hoffen; und wenn wir den Weg betrachten, der seit Beginn der Geschichte bis zur heutigen Stunde zurückgelegt wurde, dann verstärkt sich unsere Hoffnung zu einem wahrhaften, zu einem unerschütterlichen Glauben.» [26]
IV. Der Frieden - ein Baum
Reisen wir nun in die Jetztzeit, ins Jahr 2020, zurück. Und nehmen wir im Gepäck ein Bild mit, das Léon Bourgeois selbst mehrfach verwendete und das mir für heutige Problemstellungen besonders anschlussfähig erscheint: Es ist das Sinnbild des Friedens als eines Baumes.
Bereits 1912 spricht Bourgeois von «einem Baum mit wunderbarem Laubwerk, unter dem sich das Menschengeschlecht vertrauensvoll und vergnügt erholen wird.» [27] Das war vor dem Großen Krieg. In seiner Nobelpreisrede von 1922 spricht er von der «zarten Pflanze des Friedens», die allein in einer durch das Recht geschaffenen Atmosphäre des Vertrauens und der Ruhe wird entstehen und gedeihen können.[28]
Dieses in die Zukunft weisende Bild der Hoffnung möchte ich gern aufgreifen. Angesichts der ökologischen Probleme, die uns nicht zuletzt die verheerenden Brände in Australien vor Augen geführt haben, und denen schätzungsweise mehr als 1,25 Milliarden Tiere und Millionen Bäume zum Opfer gefallen sind, ist es m.E. mehr als augenfällig, dass der Frieden ein äußerst komplexes Phänomen bildet, das nicht nur die Beziehungen zwischen den Menschen einschließt, sondern auch diejenigen zwischen Mensch und Natur. Wenn der Mensch meint, sich über die Natur als deren Beherrscher erheben zu können, so zerstört er nicht nur diese, sondern damit auch seine eigenen Lebensgrundlagen!
Der Friedens- und der mit ihm eng verbundene Solidaritätsgedanke muss heutzutage, 100 Jahre nach Léon Bourgeois, in jedem Fall die Dimension der Bewahrung der Natur [29] einschließen. Dafür ist der Baum ein wunderbares Symbol!
[1] Folgender Text beruht auf dem Vortrag, den ich am 13. Februar dieses Jahres auf einer gemeinsamen Journée d’Étude von Centre Marc Bloch, Rosa-Luxemburg-Stiftung und Suhrkamp Verlag zum Thema Von Völkerbund bis Donald Trump. Multilateralismus im 20. und 21. Jahrhundert: Mythos und Realität gehalten habe. Anlass dieses Kolloquiums war der 100. Jahrestag der Gründung des Völkerbundes, die von französischer Seite her gerade auch durch León Bourgeois vorangetrieben worden war. Der Völkerbund bildete für Bourgeois die Realisierung seiner Idee der Solidarität, mit der er sich seit den 1890er Jahren intensiv befasst hatte. Doch hat sein komplexer Solidaritäts-Begriff eine weitere Komponente, die dieser Tage aktueller ist denn je: und zwar die soziale Teilung der Risiken von Krankheiten, Epidemien und anderen Übeln, was an der Wende vom 19. um 20. Jahrhundert im Kontext von Industrialisierung, explosionsartiger Bevölkerungsentwicklung und Wohnungsnot ein «virulentes» Problem war. In Zeiten von Corona ist es nicht zufällig, dass permanent von Solidarität die Rede ist, und auch unter diesem Aspekt ist das hierzulande bislang nur wenigen SpezialistInnen bekannte Werk des Friedensnobelpreisträger von 1920 wert, einmal genauer betrachtet zu werden.
[2]Dabei ist der durch Léon Bourgeois geprägte Begriff der Société des Nations der französische Ausdruck für Völkerbund.
[3] Léon Bourgeois: Der Völkerbund vor der Friedenskonferenz, in: ders.: Solidarität, Berlin 2020, S. 94.
[4] Vgl. Jay Winter: Der Erste Weltkrieg – Europas Selbstmord, in: Europa. Die Gegenwart unserer Geschichte, hrsg. von E. François und T. Serrier, Bd. I., S. 32-54.
[5] Zu dieser Konzeption der Solidarität vgl. insbesondere Léon Bourgeois: Solidarität, in: ders., Solidarität, Berlin 2020, S. 7-54.
[6] Zur Figur des Quasigesellschaftsvertrags vgl. ebenda, S. 41ff.
[7] Mit diesen in seiner 1896 veröffentlichten programmatischen Schrift Solidarité kommt er m. E. den Ausführungen von Marx und Engels zur «Assoziation» aus dem Kommunistischen Manifest sehr nahe, worin «die freie Entwicklung eines jeden Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.» Karl Marx, Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, in: MEW, Bd. 4, Berlin 1972, S. 52. Wenngleich hier zwar nicht, wie später im Kontext der I. Internationale, das Wort Solidarität verwendet wird, so ist die Nähe von der Sache her aus meiner Sicht sehr deutlich.
[8] Ein für Bourgeois zentrales Beispiel solcher Risikoübernahme besteht gerade im Falle gesundheitlicher Risiken, speziell bei Epidemien – zu Zeiten von Corona ein höchst aktuelles Thema!
[9] Discussion du Rapport précédent. Extrait des comptes rendus du Congrès d’Éducation sociale, séance du 27 septembre 1900. In: Léon Bourgeois: Solidarité, Paris 1912, S. 103-126, hier S. 105.
[10] Vgl. Léon Bourgeois: Die sozialen Grenzen der Solidarität. In: ders.: Solidarität, a.a.O., S. 55-58.
[11] Bertha von Suttner lernt Bourgeois während der I. Haager Friedenskonferenz im Frühjahr 1899 kennen. In ihren Lebenserinnerungen geht sie mehrfach auf die Begegnungen mit dem «Star unter den Möwen» ein, wobei sie mehrfach sein rhetorisches Talent und die Fähigkeit betont, Menschen zusammenzuführen. Vgl. Bertha von Suttner: Lebenserinnerungen, Berlin 1976.
[12]Diese Präambel ist der Ausgabe Léon Bourgeois: Pour La Société des Nations, Paris 1913, vorangestellt (S. 1; Hervorhebung im Original). Hier zitiert nach: Léon Bourgeois: Solidarität, a.a.O., S. 103, Fußnote 8.
[13] Léon Bourgeois: Der Völkerbund. Rede an der École des Sciences politiques am 5. Juni 1908, in : Léon Bourgeois : Solidarität, a.a.O., S. 59-75, hier S. 67.
[14] Bei seinen friedenspolitischen Ansichten wie nicht zuletzt beim Insistieren auf der Notwendigkeit eines Völkerbundes bezieht sich Bourgeois immer auch auf Immanuel Kants Schrift Zum ewigen Frieden.
[15] Vgl. Léon Bourgeois : La Société des Nations et l’Éducation des peuples. Rede in London am 12. März 1919, in : ders. : Le pacte de 1919, a.a.O., S. 139-147, hier S. 144.
[16] Und nicht nur von ihm: Eine Woche vor Kriegsausbruch stirbt seine Kampfgefährtin Bertha von Suttner, die nicht umsonst 1905 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden war. Linke Kriegsgegner wie Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht geraten unter massiven politischen Druck mit den bekannten tragischen Konsequenzen.
[17]Vgl. Susanne Brandt: Das letzte Echo des Krieges. Der Versailler Vertrag, Ditzingen 2018, S. 240.
[18] Léon Bourgeois: Les raisons de vivre de la Société des Nations. Nobelpreisrede von 1922. Hier zitiert und übersetzt nach: https://www.nobelprize.org/prizes/peace/1920/bourgeois/26046-leon-bourgeois-conference-nobel/.
[19] Ebenda, S. 2.
[20] Mit Blick auf die USA schreibt er, dass es nunmehr an keinem Ort der Welt mehr möglich sei, «eine wasserdichte Absperrung zu errichten, um den Fluss der internationalen Bewegungen aufzuhalten.» Léon Bourgeois : Nobelpreisrede, a.a.O., S. 12. Eine sehr aktuelle Aussage, wie ich meine!
[21] Ebenda.
[22] Ebenda, S. 9.
[23] Vgl. ebenda, S. 5.
[24]Vgl. ebenda, S. 7.
[25] Ebenda, S. 10.
[26] Léon Bourgeois: Nobelpreisrede, a.a.O., S. 13.
[27] Léon Bourgeois: Europäischer Rat der Carnegie-Stiftung für den Internationalen Frieden. In: ders.: Solidarität, a.a.O., S. 72.
[28]Ders.: Nobelpreisrede, a.a.O., S. 9.
[29]Und mit Blick auf die Corona-Pandemie müsste man sagen: inkl. der menschlichen Natur selbst.