Kommentar | Krieg / Frieden - Palästina / Jordanien - Westasien im Fokus Der Wassersektor im Gazastreifen, ein (un) lösbares Problem?

Was Gaza mit München gemeinsam hat

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Trinkwasserabfüllanlage des UN-Hilfswerks für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) im Flüchtlingslager Khan Younis, Gazastreifen, Juni 2007
Trinkwasserabfüllanlage des UN-Hilfswerks für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) im Flüchtlingslager Khan Younis, Gazastreifen, Juni 2007 Foto: © Clemens Messerschmid

Ein UN-Bericht aus dem Jahr 2012 prognostizierte, dass Gaza im Jahr 2020 unbewohnbar sein würde. Zum großen Teil stützte er sich dabei auf die katastrophale Lage im Wassersektor. Bereits 2016, so der Bericht, würde der Grundwasserleiter, der Küstenaquifer, unbrauchbar versalzen. Bis 2020 wäre er dann irreversibel geschädigt. Grund genug, sich jetzt mit der Wassersituation in Gaza zu befassen.

Die Wassernot im Gazastreifen ist beinahe sprichwörtlich. Jedes Kind weiß, dass der schmale Küstenstreifen zu viele Menschen und zu wenig Wasser hat. So zumindest die scheinbare Gewissheit fast aller Berichte.

Clemens Messerschmid lebt und arbeitet seit 23 Jahren als Hydrogeologe in den besetzten palästinensischen Gebieten.

Kaum jemand denkt bei Gaza an einen Landstrich, der einst für seine frischen Quellen berühmt war. Alexander III. von Makedonien (aka Alexander der Große) machte im 4. Jahrhundert v. u. Z. hier auf seinen Eroberungszügen zur Erholung halt. Und noch während des britischen Mandats im frühen 20. Jahrhundert war Gaza bekannt für seine produktive Landwirtschaft, sein Gemüse und seine Plantagen mit Zitrusfrüchten, die als Exportgüter Europa versorgten.

Gaza ist seit 1948 unbewohnbar

Das alles änderte sich schlagartig nach 1947. Die heutige Malaise des Küstenstreifens geht auf die Ereignisse der Jahre 1947-49 zurück, welche auf Arabisch als «Katastrophe» (Nakba) bezeichnet werden. Während dieses Krieges gewann Israel seine Unabhängigkeit, die Palästinenser*innen nicht – sie verloren ihr Land und damit auch ihr Wasser. Israel annektierte 70 Prozent mehr Land als ihm nach dem UN-Teilungsbeschluss von 1947 zugestanden hatte und vertrieb fast die gesamte indigene palästinensische Bevölkerung, vor allem im Gebiet der Küstenebene, an die der Gazastreifen grenzt. Hunderttausende Palästinenser*innen verloren ihren gesamten Besitz, viele von ihnen flüchteten nach Gaza.  

Durch die gewaltsamen Annektionen schrumpfte der vormalige Gaza Sub-Distrikt unter dem Britischen Mandat von 1.111,5 km2 vor der Nakba auf die Hälfte seiner Größe (555 km2) im Jahre 1949 und auf weniger als ein Drittel (die heutigen 362 km2) im Jahre 1950. Vor allem aber bedeutete dies eine massive Wasserenteignung: Hatte der Distrikt noch 1947 eine Brunnenförderrate von 26.6 Millionen Kubikmetern jährlich, so blieben davon im engen Küstengürtel lediglich 3,1 Millionen Kubikmeter übrig – Gaza verlor also 89 Prozent seines vorherigen Wasserbestands.

Zugleich verdreifachte sich die Bevölkerung über Nacht von 84.500 Menschen im Jahr 1948 auf 240.000 Menschen zwei Jahre später: Es herrschte katastrophaler Notstand an allem, insbesondere auch an Wasser. Nominal standen den Menschen weniger als 35 Liter täglich zur Verfügung – für alle Zwecke: Gewerbe, Landwirtschaft und Trinkwasser. Vor allem für die neuangekommenen Flüchtlinge bedeutete das oftmals weniger als 20 Liter pro Tag während der ersten Wochen und Monate – es ging ums nackte Überleben. Aus Monaten wurden Jahre, aus Jahren Jahrzehnte und das Problem blieb das gleiche, es vertiefte sich nur stetig. Seit 72 Jahren, also seit der Nakba, ist Gaza «unbewohnbar», wie es der UN-Bericht für 2020 prognostiziert, jedenfalls dann, wenn man unter Wohnen mehr als das reine Überleben versteht. Krank, erschöpft, gedemütigt, verzweifelt und ohne Hoffnung auf Besserung – «über»-leben können die Bewohner*innen wohl auch noch weitere 20 oder 50 Jahre – aber sollen sie es, zwingen wir sie dazu?

Die Besatzung und ihre Folgen

1967 kam die Besatzung hinzu, unter der Israel vor allem zwei Dinge tat: Erstens unterband es dringend benötigte palästinensische Brunnenbohrungen[1] – allerdings nie so strikt und systematisch wie in der wasserreichen Westbank[2]. Zweitens vernachlässigte Israel systematisch seine Pflichten als Besatzungsmacht in Bezug auf Aufbau und Entwicklung der Wasser- und Abwasserinfrastruktur. Kein einziges modernes, also dreistufiges Klärwerk wurde während fast 40 Jahren errichtet, und die wenigen, ein- oder zweistufigen Anlagen waren bereits bei ihrer Planung hoffnungslos unterdimensioniert. Allerdings wartete Israel mit einer weltweit einzigartigen Neuerung auf, den sogenannten Infiltration Lagoons, also künstlich gegrabenen Abwasserteichen, die am Boden perforiert waren und so das kaum gereinigte Abwasser direkt in den empfindlichen flachgründigen Süßwasseraquifer leiteten; die Verschmutzung des Grundwassers schoss in die Höhe – ablesbar am Nitratgehalt. Dahinter stand die Überlegung, dass es besser wäre, Gazas einzige Trinkwasserressource systematisch und aktiv mit schwer belastetem Abwasser zu kontaminieren, als dass dieses Abwasser ins Meer gelange, wo es auch die umliegenden (israelischen) Badestrände beträfe. Diese Methode wurde jahrzehntelang angewendet.

Bereits zu Beginn der Oslo-Interimsperiode, also Mitte der 1990er Jahre, war Gaza längst zu einem «Notfall» geworden, darin waren sich alle UN- und Geberorganisationen einig. Was ist seither geschehen? Eine wachsende Bevölkerung, mehr Brunnen, steigende Entnahmen und dadurch rapide sinkende Grundwasserspiegel, die zu einem Eindringen von Salzwasser – nicht nur Meerwasser, sondern auch Brackwasser aus Israel – führen.

In der Folge ist im Gazastreifen immer weniger Wasser vorhanden und das wenige Wasser ist immer stärker verschmutzt[3]. Das ist allgemein bekannt. Der Wassernotstand in Gaza ist aber weder neu noch droht ihm eine plötzliche qualitative Wende im Jahre 2016 oder 2020. Die Misere im Wassersektor besteht seit 1948, sie existierte 1967 und auch 1987 – beim Ausbruch der ersten Intifada. Während des sogenannten Oslo-Friedensprozesses in den 1990er Jahren nahm die Malaise weiter zu; über all die Jahre kamen ständig neue Kommissionen und stellten eins ums andere Mal fest: Es gibt in Gaza zu wenig Wasser für zu viele Menschen.

Warum der katastrophale Wassernotstand?

Viele Texte behaupten, Gaza sei das am dichtesten bevölkerte Land der Erde – eine Irreführung: 2005, als der israelische Premierminister Ariel Sharon seine Truppen und Siedler*innen aus dem Gazastreifen abzog, betrug die Bevölkerungszahl rund 1,3 Millionen Menschen auf einer Fläche von 362 km² – was exakt der Fläche Münchens entspricht. Warum also ist Gaza, anders als München, nicht für seinen hohen Lebensstandard bekannt? Warum existiert dort ein katastrophaler Wassernotstand? Es liegt nicht am Klima und nicht an der Bevölkerungsdichte. Es hat andere, rein politische und vor allem künstlich erzeugte Gründe. Konzeptionell liegt der Irrtum darin, von Gaza als einem Land (oder gar Staat) zu sprechen. Gaza ist aber kein Land: Rein technisch betrachtet ist der gesamte Gazastreifen mit einer Urbanisierungsrate von 96% eine Stadt und zwar eine, die im globalen Vergleich mit dicht besiedelten Metropolen keineswegs an der Spitze, sondern im Mittelfeld liegt. Deshalb sollte Gaza auch als Stadt angesehen und behandelt werden, insbesondere planungstechnisch und wasserwirtschaftlich.

Die einzige abgeriegelte Stadt der Welt

Dann nämlich tritt die Einzigartigkeit Gazas tatsächlich zutage: Gaza ist die einzige Stadt auf der Welt, die hermetisch abgeriegelt und ohne Außenverbindung ist. Es gibt keine einzige andere Stadt auf dem Planeten Erde, die sich autark, aus ihrer eigenen Stadtfläche heraus mit Wasser versorgen könnte, müsste oder sollte. München bekommt sein Wasser aus den Alpen, New York aus hunderten Kilometern entfernten riesigen Trinkwasserschutzgebieten. Keine Stadt kann sich aus ihrem Stadtgebiet mit Wasser versorgen, keine Stadt muss es, keiner wird das zugemutet, nur Gaza.

Deswegen laufen auch fast alle – auch die wohlmeinendsten Planungen für Gazas Wassersektor – in die Irre oder buchstäblich ins Leere. Gaza müsste geholfen werden wie jeder anderen Stadt, denn nichts anderes bedeutet urbaner Raum: Dicht besiedelt besteht dort Industrie, Handwerk und Dienstleistungsgewerbe, gibt es dort eine hohe Arbeitsproduktivität und in der Regel auch eine Verdichtung von Bildung, Ausbildung, Wissenschaft, Technik und Kulturschaffen. Aber urbane Räume haben und benötigen eine rurale Umgebung, das Hinterland. Von hier beziehen sie ihre Ressourcen, Rohstoffe, Nahrungsmittel und Wasser – jede Stadt, überall auf der Welt. Nur bei Gaza ist genau dies nicht der Fall.

Gaza soll, geht es nach den offiziellen Planungen „unabhängig“ gemacht werden – die Quadratur des Kreises und, salopp gesagt, zum Schaden noch den Spott. So schlägt der besagte UN-Bericht aus dem Jahr 2012 als kurzfristige Maßnahmen vor, geklärtes Abwasser wieder zu verwerten und Meerwasser in kleinerem Umfang zu entsalzen. Langfristig plädiert er für die Ausbesserung von Wasserleitungen, die Fertigstellung neuer Klärwerke und Meerwasserentsalzung in großem Maßstab. Niemandem scheint aufzufallen: Wasserleitungen sind nur Gefäße, nicht das Wasser selbst. Abwasser kann nur in dem Umfang geklärt und wiederverwendet werden, in dem es zuvor als frisches Trinkwasser für den Hauswasserverbrauch aufgebracht und genutzt werden konnte – genau hieran fehlt es jedoch in Gaza. Bleiben noch die Megaentsalzungsanlagen als alleiniges Allheilmittel, die aber für eine Stadt wie Gaza völlig untauglich und auch weltweit ökologisch sehr problematisch sind.

Gaza muss wieder mit der Welt verbunden werden

Was Gaza, was seine Menschen brauchen, ist, endlich so behandelt zu werden, wie jede andere Stadt der Erde. Welche Stadt würde auch nur einen Tag überleben, wenn alle Straßen, alle Gleise, alle Häfen oder Flughäfen, ja sogar Fußpfade hermetisch abgeriegelt würden? Gaza muss endlich wieder mit der Welt verbunden werden. Für das Wasser heißt das konkret: Gaza muss von außen mit Wasser versorgt werden – so wie bis 2005 die (völkerrechtlich illegalen) israelischen Siedlungen. Israel rühmt sich, eine sogenannte Water Surplus Economy zu sein, also ein Land und ein Wassersektor mit Wasserüberschüssen; der Water Carrier endet allerdings direkt vor Gaza. So wie die wasserreiche Westbank sollte Gaza endlich erlaubt werden, Wasser in großem Umfang von Israel zu kaufen – als unmittelbare Sofortmaßnahme, nicht in zwei oder fünf Jahren, sondern sofort.

Über die politische Frage der palästinensischen Wasserrechte kann dann gesprochen werden, wenn zumindest ein Minimum an menschenwürdiger Grundversorgung mit Wasser sichergestellt ist.


[1] Zugleich bekamen die israelischen Siedlungen im Gazastreifen das Zehnfache an frischem Wasser zur Verfügung gestellt, sowohl aus gesonderten Siedlungsbrunnen im Gazastreifen als auch über Fernleitungen aus Israel. reliefweb.int, www.haaretz.com

[2] Das liegt an einfachen strategischen Überlegungen: Gaza liegt im Unterlauf, sozusagen stromabwärts im Grundwasserfluss. Egal, wieviel dort gebohrt wird, es hat kaum Einfluss auf die Brunnenstände in Israel. Hingegen fehlt Grundwasser, das natürlich aus der Westbank fließt in Israel, wenn es von palästinensischen Brunnen abgepumpt wird.

[3] Unter den Bedingungen in Gaza können nur zwei Stoffe regelmäßig und flächendeckend gemessen werden: Chloride zeigen die steigende Versalzung an, Nitrate die zunehmende Belastung durch Landwirtschaft und v.a. Abwasser, nicht zuletzt jene Infiltration Lagoons, in denen die Kloake inzwischen völlig ungeklärt versickert.