Im Gazastreifen, einer Region, die einem früheren Bericht der UN zufolge 2020 nicht mehr bewohnbar sein würde, leben über zwei Millionen Menschen in einer katastrophalen Situation, Bedrohungen aus allen Richtungen ausgesetzt: ob vom Himmel, Land oder Meer. Im Wissen, dass sich ihr Leben in jedem Augenblick zum Schlimmeren verändern kann, sind die Bewohner*innen stets genauso auf den Tod wie auf das Leben vorbereitet, und das nicht nur wegen Israels willkürlicher Angriffe, sondern auch aufgrund der humanitären Lage sowie kontaminiertem Grundwasser, stark eingeschränkter Bewegungsfreiheit und fehlendem Zugang zu adäquater medizinischer Versorgung. Und dennoch: Die Menschen leben und kämpfen weiter. Es ist schwer vorherzusagen, was als nächstes passieren wird an einem Ort, wo jede Sekunde Neues bringt. Keiner kann sich vorstellen, wie es sich anfühlt, wenn der Tod an einem vorbeifliegt, verkörpert durch Bomben, die von gefühllosen Raketen getragen werden und Träume und Hoffnungen in einem einzigen Moment zerstören.
Mustafa Ibrahim ist ein Menschenrechtsaktivist und Autor aus Gaza.
Ein nicht weit zurückliegendes Beispiel dafür mag der 23. Februar 2020 sein, als die Bewohner*innen des Gazastreifens am Morgen die Nachricht erhielten, dass der aus Chan Yunis stammende Palästinenser Mohammed Al Na’m getötet worden war. Auf den sozialen Medien kursierte ein Video, auf dem zu sehen war, wie israelische Soldaten seine Leiche schändeten. Die Ereignisse führten zu einer Eskalation des Konflikts zwischen der [islamistischen Gruppierung, Anm. d. R.] Islamischer Dschihad und Israel, erst am Abend beruhigte sich die Lage durch einen Waffenstillstand. Trotz der Spannungen und Eskalationen stand die Bevölkerung am folgenden Tag auf, als wäre nichts geschehen, bereit, das Leben aufs Neue anzugehen, die Straßen voll eiligem Verkehr mit Autos, in denen Beschäftigte zur Arbeit und Student*innen zur Universität fuhren. Das ist in Zeiten verschärfter Konflikte in der Regel anders: Die Straßen sind leer, Schulen und Universitäten geschlossen, Prüfungen werden vertagt, die Blicke richten sich gen Himmel.
Würde, Rechte und Freiheiten von allen Seiten missachtet
Mit der zusätzlichen Angst vor dem Coronavirus leben Palästinenser*innen im Gazastreifen in einem surrealen Zustand. Sie begegnen der Situation zwar mit Witz und Humor, sind aber angesichts des schwachen Gesundheitssystems und seiner begrenzten Ressourcen besorgt. Ende Februar kamen nicht nur die Bilder der Leichenschändung hinzu, sondern – am selben Tag – die Nachricht, dass ein Gefangener des Inlandsgeheimdiensts im Gaza-Innenministerium gestorben war. Dies zeigt, dass die Würde der Menschen sowie ihre Rechte und Freiheiten von allen Seiten missachtet werden.
Dass es nicht nur die ungerechte israelische Besatzung mit ihren täglichen Übergriffen ist, die Leiden verursacht, sondern dass auch die palästinensische Führung (im Gazastreifen insbesondere die Hamas) Menschenrechte missachtet, ist eine traurige und schmerzhafte Erkenntnis. Zwar hat das Innenministerium im Gazastreifen angekündigt, dass es ein Komitee zur Untersuchung des Todes des Insassen des Inlandsgeheimdiensts schaffen wird. Ähnliche Komitees wurden allerdings bereits in der Vergangenheit eingesetzt, ohne zu Ergebnissen zu kommen, Lehren zu ziehen oder Schuldige am Tod von Gefangenen zur Verantwortung zu ziehen. Auf der anderen Seite stehen, noch viel schmerzhafter, die Praktiken und Übergriffe der israelischen Besatzung, in diesem Fall die Leichenschändung durch ihre – laut den Befehlshabern der Moral verpflichtete – Truppen. Wie kann eine angeblich moralgeleitete Armee die Körper Verstorbener beschlagnahmen? Hier gilt es den historischen Präzedenzfall zu erwähnen, dass der israelische Oberste Gerichtshof im September 2019 entschieden hat, den Entschluss des israelischen Verteidigungsministers Naftali Bennett aufrecht zu erhalten, nach dem die Leichen getöteter Palästinenser*innen als Verhandlungsdruckmittel für zukünftige Gefangenenaustausche zurückgehalten werden können.
Die Ursache dafür, dass der Gazastreifen unbewohnbar ist, liegt nicht im Jahr 2012, dem Publikationsjahr des UN-Berichts, sondern in der Naksa [arab. «Rückschlag», der Begriff bezieht sich auf die israelische Besatzung von Gazastreifen, Westbank, Ost-Jerusalem und Golanhöhen im Kontext des Krieges von 1967, Anm. d. R.]. Die Besatzung machte es für die Region unmöglich, Selbstverwaltung und Wirtschaftskraft zu entwickeln, vielmehr stand der Kampf um Unabhängigkeit und Freiheit im Vordergrund. Dies sollte mit der Unterzeichnung der Osloer Abkommen 1993/1995 erreicht werden. Das Scheitern der Osloer Abkommen und das Ausbleiben von Frieden und Fortschritt mehr als 25 Jahre nach Unterzeichnung sowie das Versäumnis der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), für das Wohlergehen der Bevölkerung beziehungsweise für Entwicklungsstrategien zu sorgen, bedeuteten jedoch, dass seit der Besetzung des Gazastreifens nie eine Basis für Entwicklung und Wohlstand geschaffen wurde.
Der 2006 einsetzende politische Bruch zwischen Hamas und Fatah hat ebenfalls zur Unbewohnbarkeit des Gazastreifens beigetragen, da sich die beiden politischen Lager seither mehr auf ihre Macht als auf das Wohlergehen der Bevölkerung konzentrieren. Zugleich machten die Handels- und Bewegungseinschränkungen der israelischen Besatzung jegliche Aussicht auf wirtschaftliche Prosperität zunichte. Dementsprechend sind die fundamentalen Rechte der Anwohner*innen den Machtspielen von Hamas und Fatah ausgeliefert. Eine gute Veranschaulichung dieser Dynamik stellte im Jahr 2017 die Entscheidung von Präsident Abbas dar, die Löhne von PA-Angestellten im Gazastreifen zu kürzen, um so die Hamas zur Aufgabe ihrer Kontrolle über die Region zu bringen. Da es hauptsächlich die Angestellten der PA sind, die die Ökonomie im Gazastreifen wenigstens halbwegs am Laufen halten, schwächte dies weitere Bevölkerungsschichten, die sich diskriminiert und unfair behandelt fühlten – all das nur, weil sie im Gazastreifen lebten und zum Spielball von Fatah und Hamas wurden. Zudem gelang es der Hamas nicht, die Verschlechterung der allgemeinen Lage und Lebensumstände in den Griff zu bekommen. So haben die anhaltende Besatzung, die Angriffe sowie der Mangel an angemessener Führung zusammen die heutige Situation Gazas verursacht.
Tiefgreifende Veränderungen des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gefüges
Die Warnungen der UN zur Notlage in Gaza vor acht Jahren haben nichts verändert. Das Gefühl, Unrecht zu erfahren, die Auswirkungen der israelischen Besatzung sowie die Umwandlung des gesellschaftlichen Produktionssektors in einen fragilen Konsumptionssektor treffen die gesamte Bevölkerung des Gazastreifens. Folglich haben sich das gesellschaftliche Gefüge und die sozialen Beziehungen grundlegend verändert. Familien werden aufgrund der individuellen Suche nach einem besseren Leben durch Scheidungen und Migration zerrissen: Viele Menschen wollen der schwierigen Situation entkommen, streben nach der Verwirklichung von Träumen und hoffen auf eine bessere, sicherere, auf eine stabile und glückliche Zukunft.
Nichtsdestotrotz bleibt die Bevölkerung von Gaza dynamisch. Ungeachtet der Grausamkeiten, die sie ertragen müssen, der Erklärung, dass Gaza unbewohnbar sei, der Angst um die Zukunft, ungeachtet des Wartens verlässt das Lachen ihre Gesichter nicht. Sie halten an den Werten der Solidarität und Zusammenarbeit fest, obwohl diese angesichts der zu ertragenden Ungerechtigkeiten, der unerhört bleibenden Hilferufe sowie der fortdauernden humanitären und politischen Tragödie zu verblassen drohen. Zugleich sind Politik und Verwaltung mit ihren eigenen Auseinandersetzungen und Machtbestrebungen beschäftigt; die Menschen suchen im Hintergrund nach einem Leben in Würde und gehen ihrem Alltag nach.
Der Gazastreifen mag ein unbewohnbarer Ort sein, dem es an den Lebensgrundlagen und Menschenrechten mangelt, die dem Leben Wert und Würde verleihen. Er wird von drei Mächten kontrolliert und kann als Symbol für Menschenrechtsverletzungen gelten. Er ist Opfer einer Kollektivbestrafung und der langjährigen ungerechten und brutalen Besatzung durch Israel ohne Hoffnung auf ein baldiges Ende oder Gerechtigkeit. Und trotzdem lebt Gaza ein Leben in kollektiver Solidarität, sucht in den wenigen Hoffnungsschimmern nach einer besseren Zukunft und wartet auf eine Entschuldigung und auf gerechte Behandlung durch all diejenigen, die an der Besatzung beteiligt sind und den Bewohner*innen Gerechtigkeit und Freiheit verwehren.
[Übersetzung von Timo Magyar & Lisa Jeschke für Gegensatz Translation Collective]