Nachricht | Sedlmaier: Konsum und Gewalt. Radikaler Protest in der Bundesrepublik; Berlin 2018

Lesenswerter Beitrag zur Konsumgeschichte, zur Geschichte der neuen Linken und der neuen sozialen Bewegungen

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Am 3. April brechen in Frankfurt am Main in zwei Kaufhäusern kleinere Brände aus. Der Schaden ist gering. Groß ist hingegen die Resonanz, denn die Brandstiftungen sind politisch motiviert. Als TäterInnen angeklagt werden vier Personen, die später im Zusammenhang mit der Roten Armee Fraktion bekannt werden sollten. Sie begründen ihre Tat mit dem Vietnam-Krieg und dem Widerstand gegen Manipulation und «Konsum-Zwang».

Wer weiß, wie sehr in jenen Jahren Konsum und Wohlstand als der Erfolgsindikator in Ost und West angesehen wurden, vermag die Bedeutung dieses letztendlich «symbolischen» Aktes zu ermessen. Berlin war das «Schaufenster des Westens» und wird nun zum Ort von Protest gegen exakt jenen, auf Konsum gründenden Lebensstil. Sedlmaier untersucht in seiner bereits 2014 auf englisch erschienen und nun auch auf Deutsch vorliegenden Dissertation, Praktiken und Theorien der emanzipatorischen Konsumkritik und des Protestes gegen bestimmte Konsummuster. Zentral ist für ihn dabei der Begriff «Versorgungsregime», dieser wird definiert «als das Netzwerk der Aktivitäten, die den Konsum mit den Machtverhältnissen verbinden, die ihn ermöglichen und gleichzeitig andere Formen von Konsum und Produktion verhindern» (S. 22). Sedlmaier zielt dabei auf Aktivitäten vor allem der radikalen Linken im Zeitraum von Ende der 1950er bis Ende der 1980er Jahre. Dargestellt werden nach einer Einleitung eher abstrakte, theoretische Debatten (v.a. der sog. Studentenbewegung) und vier konkrete Beispiele, die auch als Beiträge zur zeitgeschichtlichen Forschung zur neuen Linken und den neuen sozialen Bewegungen gelesen werden können. Sedlmaier schildert Aktionen zum öffentlichen Nahverkehr in Hannover, Köln und Freiburg (die sog. Roter-Punkt-Aktionen), dann die «Boykottiert Springer»/«Enteignet Springer»-Kampagne der Studierendenbewegung, die sich auf Basis einer breiten und fundierten theoretischen Debatte gegen die Verwandlung von Nachrichten in eine Ware wendet, und in der Friedensbewegung Anfang der 1980er Jahre ein kleines Revival erlebt.

Weiteres Beispiel ist die Hausbesetzerbewegung der 1970er und beginnenden 1980er Jahre (vor allem in Frankfurt/Main und Berlin). Sie greift ebenfalls zu Protest und Militanz, fordert einerseits Freiräume und mahnt andererseits die Sozialpflichtigkeit des Grundgesetzes (nach Art. 14) gegen den Leerstand an. Viertes konkretes Beispiel ist der faire Handel rund um die «Dritte-Welt-Läden» und verwandte Kampagnen zum Boykott bestimmter Produkte und zum bewussten Konsum anderer («Kaffee aus El Salvador»). Weitere Kapitel behandeln die theoretische Auseinandersetzung der «Studentenbewegung» mit Werbung, Konsum und «Konsum-Terror» im Kapitalismus.

Zusammengefasst gründet sich für Sedlmaier der von ihm untersuchte Protest auf konkurrierende Entwürfe einer moralischen Ökonomie, auf Utopien von und Wünsche nach Konsumverzicht oder einem anderen Konsum, also nach alternativen Versorgungsregimes. Den Misserfolg dieser Strategien macht er daran fest, dass radikale Teile dieses Protestes durch den Staat kriminalisiert wurden, dann daran, dass es ihnen nicht gelang, das dominante und enorm erfolgreiche Narrativ des «Wirtschaftswunders» zu konterkarieren, und dass es auch zur selektiven Integration der Anliegen der Protestierenden durch neue, postfordistische Konsummuster und diese ermöglichende, neue Versorgungsregimes gekommen sei.

Das materialreiche Werk überzeugt durch den langen behandelten Zeitraum von über 25 Jahren und liefert einen lesenswerten Beitrag sowohl zur Konsumgeschichte, wie auch zur Geschichte der neuen Linken und der neuen sozialen Bewegungen. Sicher ist der gewählte Fokus der Arbeit der Konsum, bzw. der sich um Konsum artikulierende Protest, aber es fällt auf, dass die Produktion kaum thematisiert wird. Unter beiden Perspektiven (Konsum und Produktion) wäre die Behandlung zum Beispiel des wichtigen Bereiches der Landwirtschaft spannend. Hier gibt es ab Ende der 70er Jahre viel Kritik etwa an Chemie und auch Alternativen, z.B. im Bio-Landbau. Auch hier kommt es zu ersten Veränderungen in den Konsummustern, durch Vegetarismus oder Ökolandbau, und die dazugehörigen Vermarktungsideen. Zuwenig Beachtung findet ferner, und die ist gewichtiger, die generationenspezifische Prägung von Konsummustern, unterscheidet sich doch die Perspektive der Kriegsgeneration darauf deutlich von der ihrer Kinder, die die Protestbewegungen der langen 68er Jahre dann personell prägen.

Alexander Sedlmaier: Konsum und Gewalt. Radikaler Protest in der Bundesrepublik; Suhrkamp Verlag, Berlin 2018, 263 S., 32 EUR

Die englische Originalausgabe erschien bereits 2014 (open access als PDF).