Mit einem breiten Pinsel malen sie akribisch ein schwarzes Kreuz auf den Strommast aus porösem Holz. Der rosafarbene Hintergrund ist schon etwas ausgebleicht. In der Grenzstadt Ciudad Juárez im Norden Mexikos begegnet man an fast jeder Ecke diesen Kreuzen, die an Wände, Ampeln, Laternen gemalt sind. Jedes Kreuz markiert einen Ort, an dem eine Frau ermordet oder zum letzten Mal gesehen wurde, bevor sie verschwand. Sie markieren die alltägliche Gewalt. Diesmal zeichnen es die Aktivist*innen des feministischen Kollektiv Hijas de su Maquilera Madre, um einen weiteren dieser Orte zu markieren, wo ihre Freundin und Genossin Isabel Cabanillas Anfang des Jahres getötet wurde. Sie trauern kollektiv. Gemeinsam mit der Familie, mit Freund*innen, mit Anwohner*innen und mit solidarischen Fremden verarbeiten sie den Schmerz nicht alleine. Denn die Kollektivierung von emotionaler Arbeit und Fürsorge ist der Ausgangspunkt ihrer alltäglichen feministischen Praxis.
Jana Flörchinger arbeitet zu kollektiver Körpererfahrung und feministischen Strategien gegen sexuelle Gewalt. Die frühere Mitarbeiterin der Rosa-Luxemburg-Stiftung ist Teil der queerfeministischen Aktionsgruppe she*claim.
Sie wissen, dass Gewalt und Vereinzelung durch ausbeuterische Arbeitsbedingungen Individualisierung und Angst befördern. Sich Rückhalt geben und füreinander sorgen wird hier zu rebellischem Handeln. Auch deshalb betonen sie unermüdlich, wie zentral diese Formen reproduktiver Tätigkeit für ein gutes Leben aller sind. Und mit welchen gewaltvollen Konsequenzen Reproduktionsarbeit von einem Ordnungsregime globaler Ökonomie verdrängt wird.
Ciudad Juárez befindet sich wenige Meter von El Paso in den USA entfernt. Wie andere Grenzstädte auch, ist es ein wichtiger Ort für globale Lieferketten. In den Grenzgebieten definiert die sogenannte Maquila-Industrie maßgeblich die Ökonomie der Region und bringt zugleich ein Ordnungsregime hervor, das sich in brutaler Gewalt äußert. Allein im vergangenen Jahr wurden hier mindestens 152 Frauen ermordet. Im Bundesstaat Chihuahua sind mindesten 2.500 Fälle gewaltsamen Verschwindens ungeklärt. Davon sind fast die Hälfte Ciudad Juárez zugeordnet. El Paso, wenige hundert Meter entfernt, auf der anderen Seite der Grenze, gilt hingegen als eine der sichersten Städte der USA.
Hijas de su Maquilera Madre bedeutet übersetzt die «Töchter der Fabrikarbeiterinnen» – oder «Was ein Bullshit» liest man das spanische Wortspiel im Namen. In den Grenzgebieten funktionieren Wirtschaft und Handel immer in Bezug auf die Grenze. Man rechnet mit billiger Arbeitskraft von Migrant*innen, die unter äußerst prekären Bedingungen arbeiten und leben. Auch Hijas, wie sich selbst bezeichnen, sind Töchter und Enkelinnen dieser Arbeiter*innen.
In Ciudad Juárez prägen als Maquilas bezeichnete Montagefabriken, die für den globalen Norden produzieren, und das organisierte Verbrechen maßgeblich das soziale Gefüge. Dagegen setzt die feministische Bewegung vor Ort auf eine alltägliche Praxis der Fürsorge und Kollektivität. Und dazu haben sie allen Grund, denn die Verschränkung von kapitalistischer Ausbeutung und patriarchaler Gewalt verdrängen reproduktive Tätigkeiten und Sorgearbeit aus dem Alltag mit verheerenden Folgen.
Ciudad Juárez wirkt wie ein Brennglas, das verdeutlicht, wie essentiell soziale Reproduktion und Sorgearbeit für die Stabilität einer Gesellschaft sind – und welche Auswirkungen es haben kann, wenn diese Formen der Arbeit von ökonomischen Interessen fast gänzlich verdrängt werden.
Die Ökonomie der Montagefabriken
In den über 300 Fertigungsfabriken im Umland von Ciudad Juárez arbeiten circa 300.000 der fast zwei Millionen Einwohner*innen. Etwa die Hälfte der Bevölkerung ist ökonomisch direkt oder indirekt von der Produktion der Maquila-Industrie abhängig. In gigantischen Logistikzentren werden Waschmaschinen zusammengeschraubt, Kleidung für günstige Fast-Fashion genäht oder Autoteile lackiert. Die Betriebe gehören meist zu ausländischen Konzernen, die einen Teil der Produktion eines Artikels, in der Regel dessen Montage, in mexikanische Grenzstädte auslagern.
Freihandelszonen sollen mit geringen Zöllen, niedrigen Arbeitsstandards oder laxen Umweltschutzverordnungen Unternehmen anwerben, in Juárez, wie auch in anderen Regionen Mexikos, ein Werk zu errichten. Während die transnationalen Unternehmen wie Edumex, Bosch oder Siemens den Mehrwert ihrer Produkte durch günstige Produktionsbedingungen erheblich steigern, sind die Arbeiter*innen mit einer zunehmenden Prekarisierung ihrer Arbeitsbedingungen konfrontiert. Und dennoch sind die Löhne durchschnittlich etwas höher als in anderen Teilen des Landes. Für viele ein Grund aus dem Landesinneren und aus Zentralamerika an die Grenze zu migrieren, um dort dem Versprechen nach mehr Wohlstand und Sicherheit nachzugehen, wenn der Plan in die USA auszuwandern, scheitert.
Die Fluchtbewegungen aus Zentralamerika und dem Landesinnern führen zu einer hohen Fluktuation in Juárez: «Die Menschen kommen bereits prekär hier an, wollen arbeiten und etwas zum Leben haben. Viele gehen jedoch wieder zurück» erklärt Hijas de su Maquilera Madre im Hinblick auf die Verschränkung von Migration und ökonomischer Ausbeutung. Im Gespräch verweisen die Aktivist*innen auf die Konsequenzen: «Wenn du alle Mittel eines Ortes ausschöpfen willst, passt es gut, dass die Leute sich nicht organisieren können, zum Beispiel, weil sie von den langen Arbeitstagen erschöpft sind, weil sie keine finanziellen Mittel und keinen guten Zugang zu Bildung haben.» Organisiertes Verbrechen und Militärinterventionen schwächen soziale Strukturen zusätzlich. Politische Verantwortung versickert in Korruption und der fast absoluten Straflosigkeit.
Öffentliche Infrastruktur unter dem Ordnungsregime der Maquila-Industrie
Das Regime der Weltmarktfabriken geht jedoch über die ökonomischen Abhängigkeiten hinaus. Auch Infrastruktur und öffentliches Leben sind an der Logik der Montagefabriken ausgerichtet. Zentrale Pfeiler der Infrastruktur, wie der öffentliche Transport oder das Straßenverkehrsnetz, die den Menschen Mobilität ermöglichen sollte, sind mangelhaft ausgebaut oder nicht vorhanden.
Hier markiert die Ökonomie der Montagefabriken die Grenzen des Kapitals. Alles was für die Infrastruktur dieses Sektors notwendig ist, funktioniert einwandfrei, wird optimiert und instandgehalten. Die Möglichkeit unmittelbar auf Körper und Arbeitskraft in endloser Menge zugreifen zu können, erlaubt es, neben dieser Infrastruktur der Produktion kaum weitere aufbauen zu müssen. Die Mobilität der Menschen funktioniert gemäß der Logik des Maquila-Sektors. Öffentliche Infrastruktur dient nicht etwa dem Ziel, das alltägliche Leben am Laufen zu halten, sondern richtet sich nach den Prämissen von Stabilität und Planungssicherheit für ansässige Konzerne.
Konkret bedeutet das, dass ein Fuß- und Radweg zugunsten einer weiteren Fahrbahn einer Schnellstraße weichen muss. Die Asphaltierung einer Straße, die unter anderem zur weiterführenden Schule führt, kann nicht fertiggestellt werden, weil hierfür keine Mittel mehr übrig sind. Die mehrspurige LKW Brücke, die für die Lieferung der Einzelteile auf die andere Seite der Grenze von Bedeutung ist, ist hingegen bestens intakt.
Das ist kein unglücklicher Zufall. Der öffentliche Nahverkehr ist maßgeblich darauf ausgelegt, dass Arbeiter*innen aus ihren Vierteln zu den Fabriken gelangen, erklärt der Aktivist Leobardo Alvarado, der Ende der Achtzigerjahre selbst in einer der Maquilas arbeitete. Die meisten Busse, die in diesen Viertel verkehren, bringen Menschen zu den Fabrikkomplexen. Busverbindungen in das Stadtzentrum von Ciudad Juárez sind hingegen kaum ausgebaut, was die Mobilität der Menschen enorm einschränkt. Mobilität als Teil einer öffentlichen Infrastruktur ist auf das Ordnungsregime der Fabrikökonomie ausgerichtet, welches somit die räumlichen und zeitlichen Grenzen der Bewohner*innen beherrscht.
Die Busse zu den Fabriken sind jedoch kein Service, der von Beginn an bereitgestellt wurde. Vielmehr ist der Transport in einigen Fällen auf Proteste von Arbeiterinnen zurückzuführen, die bei Dunkelheit lange Wege zu Fuß zurücklegen mussten, wo sie nicht sicher waren vor Übergriffen, Vergewaltigung oder gar Mord. Statistiken über Feminizide dokumentieren, dass viele Frauen auf dem Weg zum Schichtantritt Opfer von Feminiziden wurden. Dass sie die Kosten für die Fahrkarten trotz der niedrigen Löhne aus eigener Tasche zahlen müssen, erscheint fast wie eine Nichtigkeit angesichts der Absurdität, dass sichere Arbeitswege im Sinne der Prävention vor tödlichen Übergriffen eine Errungenschaft organisierter Arbeiterinnen darstellen. Noch heute werden Arbeitskämpfe in vielen Fabriken vor allem von Arbeiterinnen getragen.
Ökonomische Gewalt und die Organisation des Haushalts
Zwischen 1970 und Ende der Achtziger, als sich die Maquila-Industrie in Ciudad Juárez etablierte, war die überwiegende Mehrheit der Angestellten alleinstehende Frauen zwischen 16 und 24 Jahren mit geringer Bildung und aus ländlichen Gegenden. Man hielt diese Frauen für passiv, arbeitsam und gefügig. Mit anderen Worten ging man davon aus, dass sie sich nicht organisieren und die prekären Arbeitsbedingungen hinnehmen. Was zweifelsohne für unzählige Frauen eine größere ökonomische Unabhängigkeit bedeutet, legt sogleich eine zutiefst frauenverachtende Logik offen. Noch heute wirkt dieses Muster nach. Etwa die Hälfte aller Fabrikarbeiter*innen sind Frauen, die nach dem Schichtende zusätzlich den Haushalt organisieren. Ein ungewöhnlich hoher Anteil weiblicher Arbeitskraft in einem handwerklichen Sektor.
Die Fabriken befinden sich außerhalb des Stadtzentrums. Weitläufige Industrieplantagen mit gigantischen Fabrikhallen stehen vereinzelt in der Wüste. Mit Subventionsmaßnahmen errichten Bauunternehmen Sozialbauwohnungen in der Nähe der Fabriken. «México 68», «Revolución Mexicana» und «Independencia II» heißen die teilweise aus dem Boden gestampften Viertel. Viele der Arbeiter*innen haben hier mit Krediten billige Häuser gekauft, in denen nicht selten Großfamilien auf engstem Raum wohnen. Die hohen Raten für den Hauskredit und die Kosten für Strom, Wasser und Verpflegung zwingen viele Menschen in eine Spirale der Verschuldung, die sie an den Ort und die Arbeit in den Fabriken bindet. Diese Formen ökonomischer Gewalt betreffen Frauen in besonderer Weise. Der Mangel an Autonomie durch Verschuldung befördert patriarchale Gewalt, weil sich Abhängigkeitsverhältnisse, in denen sich viele Frauen befinden, verschärfen und ihren Entscheidungsspielraum enorm mindern.[1]
Prekarisierung von Sorgearbeit
Was sich in der öffentlichen Infrastruktur abzeichnet, wirkt sich gleichermaßen auf soziale Beziehungen, emotionale und Reproduktionsarbeit aus. «Die Arbeiterinnen sind diejenigen, die nebenbei den Haushalt organisieren», erklärt Hijas de su Maquilera Madre. Die anstrengend monotone Schichtarbeit und die langen Wege zur Fabrik zwingen viele Frauen dazu, allein aus Zeitgründen die meist feminisierte Reproduktionsarbeit auf ein Minimum zu reduzieren, was zu Lasten von Erziehung und Sorge um Kinder und Angehörige geht. Es wird deutlich, dass auch reproduktive Tätigkeiten der Logik der Maquila-Industrie untergeordnet sind. Dabei wirken sich Funktionsweise und Stellenwert von Reproduktionsarbeit als Haushaltarbeit, emotionale Arbeit und als Instandhaltung des Lebensraumes auf soziale und intime Beziehungen aus, da Affekte eine wesentliche Dimension des Sozialen darstellen.
Die Minimierung der Reproduktionsarbeit erzeugt viele Probleme von gesundheitlichen Beschwerden, Einsamkeit bis hin zu sexueller Gewalt. Auch für das soziale Gefüge hat das eine große Bedeutung. Die vielen Toten und die allgegenwärtige Gewalt hinterlassen traumatisierte Menschen. Kinder wachsen ohne Väter und Familiennetzwerke in prekären emotionalen wie wirtschaftlichen Verhältnissen auf, beschreiben die Frauen* von Hijas de su Maquilera Madre die Realität in ihrer Stadt. Der Alltag wird so zu einem Ringen zwischen Kapital und Leben.
Dass Sorgearbeit in Bedrängnis gerät, ist jedoch kein Phänomen dieser Stadt oder des globalen Südens. Auch hier in Deutschland verweisen Debatten um die Krise der Care-Arbeit als Ausdruck eines sozial-reproduktiven Widerspruchs ökologischer, ökonomischer und politischer Dimensionen, die sich wechselseitig überlagern und verschärfen, auf eine ähnliche Problematik. Die Situation in Ciudad Juárez wirkt hierbei wie ein Brennglas, das aufzeigt, wie essentiell reproduktive Tätigkeiten und Infrastruktur für die Stabilität eines sozialen Gefüges sind und mit welchen Folgen eine kapitalistisch-patriarchale Gesellschaftsordnung diese zu untergraben vermögen.
Fürsorge und Gemeinschaft des alltäglichen Widerstands
Der Losspruch des internationalen feministischen Streiks «Wenn wir streiken steht die Welt still» kann vor diesem Hintergrund nur zugespitzt formuliert werden: Wenn Reproduktionsarbeit zum Erlegen kommt, steht die Welt nicht still, sondern sie zerfällt. Das zeigen die femizidale Offensive, die Entführung von Migrant*innen, das systematische Verschwindenlassen, Korruption, hohe Mordraten. Diese systematische Gewalt schürt Misstrauen und Angst innerhalb der Gesellschaft und destabilisiert sie.
Auch Hijas betont, dass Feminizide und sexuelle Gewalt nur im Kontext ökonomischer Ausbeutung zu begreifen sind. Viele der getöteten Frauen sind ökonomisch marginalisiert, sie arbeiten in den Fabriken oder der informellen Ökonomie. So sind Feminizide untrennbar verbunden mit der globalisierten Ökonomie, die Frauen als billige Arbeitskraft ausbeutet und ihren Gehorsam gewaltvoll erzwingt.
Dem setzen feministische Kämpfe in Juárez und anderswo eine Lebensweise entgegen, die sich der Dominanz patriarchaler Prämissen entzieht. Wie kaum andere ermöglichen diese Ansätze, die Situation zu analysieren und der Ausbeutung etwas entgegensetzen. Ausgehend von Fürsorge und kollektiven Strukturen entwerfen sie Lebensweisen, die sich einer kapitalistischen Logik widersetzen und sozialen Beziehungen eine Stärke verleihen können.
Im Stadtzentrum von Juárez entstehen Hausprojekte, Kulturorte, urbane Interventionen. Es sind Frauenberatungsstellen, Jugendorganisationen und Stadtteilprojekte, die sich als Verbündete mit der Situation auseinandersetzen und sich der Dominanz kapitalistisch-patriarchaler Prämissen widersetzen. Diese Lebensweisen bauen auf Fürsorge, gegenseitigen Rückhalt und Solidarität anstatt auf Konkurrenz und Vereinzelung auf und schaffen damit andere Beziehungen. Man müsse nicht nur protestieren, erklärt Hijas de su Maquilera Madre, sondern über eine politische Organisierung hinaus Grenzen kontinuierlich und im Alltag überschreiten, um der Gewalt etwas entgegenzusetzen. Der Widerstand ist kein abstrakter, sondern findet konkret statt, indem all diese Projekte an der Neuordnung sozialer Beziehungen und öffentlicher Räume schrauben, gemeinsame Lebensweisen politisieren und sie in den Mittelpunkt stellen.
Die Recherche für den Artikel fand im Rahmen der Bildungsreise Juarlín statt. Ein jährlich stattfindendes Austauschprojekt für Aktivist*innen und Studierende zwischen Ciudad Juárez und Berlin.
[1] Cavallero, Lucia / Veronica Gago (2019): «Una lectura feminista de la deuda: ¡Vivas, libres y desendeudasdas nos queremos!» Rosa-Luxemburg-Stiftung Buenos Aires