Kommentar | Geschlechterverhältnisse - Mexiko / Mittelamerika / Kuba - AK Lateinamerika Nicaragua: Von der Revolution zur Diktatur

Wie Paternalismus der FSLN zum Verhängnis wurde

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Was bisher geschah

Die von der Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront (FSLN) angeführte Revolution in den Achtzigerjahren war durchdrungen von machohaftem und paternalistischem Denken. Sie bediente sich Normen und Konventionen, die eine männliche Dominanz in der öffentlichen wie in der privaten Sphäre reproduzierte. Geschlechtsspezifische Gewalt und die Verweigerung reproduktiver Rechte oder des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung stehen beispielhaft für die zutiefst patriarchale Ausrichtung der Revolutionsführung. Forderungen von Frauen wurden hingegen als zweitrangig oder sogar unangemessen abgetan. 

Und dennoch waren es auch tausende Frauen, die neue Erzählungen sichtbar machten, Beteiligungsformen auf den Weg brachten oder Forderungen formulierten und dadurch gleichermaßen wie ihre männlichen Genossen am Sturz der Somoza-Diktatur 1979 beteiligt waren. Obwohl das, was Frauen zur Revolution beigetragen haben, in keinem Verhältnis zu dem steht, was sie als Gegenleistung erhielten, sind ihre Errungenschaften für die Gleichstellung der Geschlechter nicht zu verkennen.   

María Teresa Blandón Gadea ist feministische Aktivistin aus Nicaragua, Lehrerin und Wissenschaftlerin. In den Achtzigerjahren war sie Teil einer jungen Generation, die an die an Revolutionen von oben glaubte. Sie ist unter anderem Mitbegründerin des feministischen Bildungsprogramms La Corriente, der Feministischen Bewegung Nicaraguas (MFN) und des Bündnisses Articulación Feminista.

Der Widerspruch zwischen der revolutionären Rhetorik, die das Engagement der FSLN für die Emanzipation der Frauen betonte, und der Ablehnung der von Frauenorganisationen vorgebrachten Forderungen, führte unweigerlich zu einem Bruch zwischen der FSLN und der noch jungen feministischen Bewegung Anfang der Neunzigerjahre, als die Regierung unter Daniel Ortega nach sechs Jahren an der Macht die Wahl verlor. Erst 2007 wurde er erneut zum Präsidenten gewählt.

Die Gründe für die Krise, die im April 2018 ausbrach, sind insbesondere in den Folgen des Autoritarismus, der Demagogie und der Korruption der Regierung unter Daniel Ortega und seiner Ehefrau Rosario Murillo, Vizepräsidentin und Kommunikationsbeauftragte der FSLN, zu suchen. Die Situation stellt jedoch auch eine Chance für eine grundlegende Transformation hinsichtlich politischer Institutionen und des sozialen Gefüges da.

Die Rückkehr Daniel Ortegas in die Regierung

Die Wiederwahl von Daniel Ortega zum Präsidenten 2007 war nur durch einen Schulterschluss mit der Opposition möglich, der er Straflosigkeit in zahlreichen Korruptionsfällen garantierte und im Gegenzug deren Zustimmung zur Änderung des Wahlrechts erhielt. Dadurch wurde es rechtlich möglich, dass Ortega sich zum Präsidenten wählen lassen konnte, ohne in einer weiteren Stichwahl antreten zu müssen. Diese strategischen Bündnisse kennzeichnen den Regierungsstiel der FSLN. So verwundert es auch nicht, dass im Zuge klientelistischer Strategien Studierendenorganisationen, Gewerkschaften und anderen Formen der zivilgesellschaftlichen Organisation von der Regierung zunehmend vereinnahmt wurden. Darunter auch Frauenorganisationen. Die Situation für Frauen in Nicaragua verbesserte sich allerdings seit der Wiederwahl kaum.

Die feministische Bewegung, die sich seit 1990 als unabhängig von der FSLN begreift, sieht sich seit jeher Diffamierungskampagnen ausgesetzt. Teile der Bewegung wurden Stück für Stück aus der FSLN verdrängt. Dennoch gelang es Aktivistinnen in mühsamen Organisierungsprozessen unterschiedliche Kollektive, thematische Netzwerke und Nichtregierungsorganisationen mit landesweiter Präsenz hervorzubringen.

Der endgültige Bruch der feministischen Bewegung mit der FSLN fand 1998 statt, als sich die unabhängige Frauenbewegung an die Seite von Zoilamérica Narváez stellte, die damals ihren Adoptivvater Daniel Ortega öffentlich des sexuellen Missbrauchs beschuldigte. Rosario Murillo orchestrierte daraufhin als Kommunikationschefin der FSLN Verleumdungskampagnen gegen prominente Feministinnen und ordnete ihre Ausweisung aus allen staatlichen Einrichtungen einschließlich öffentlicher Medien an.

Trotz der offenkundigen Feindseligkeit des Regimes gegenüber feministischen Organisationen, gelingt es diesen, die Strategie der Regierung zu entlarven. Das macht sie zu einer der wenigen sozialen Bewegungen in Nicaragua, die es schafft, Widersprüche zwischen dem offiziellen Diskurs und der Situation der Diskriminierung von Frauen, insbesondere der ärmsten, sichtbar zu machen.

Reproduktive Rechte ausgehebelt

Es bleibt jedoch nicht bei Diffamierungskampagnen. Die antifeministische Politik der FSLN äußert sich auch in konkreten Gesetzen. Kurz nach der Wiederwahl 2007 wurde ein Gesetz erlassen, das Schwangerschaftsabbrüche ohne Ausnahme unter Strafe stellt. Frauen, die dennoch einen Abbruch vornehmen, und Ärzt*innen, die sie dabei unterstützen, können mit bis zu acht Jahren Gefängnis bestraft werden. Mit dieser Entscheidung richtete sich die FSLN eindeutig gegen die feministische Bewegung und besiegelte sogleich ihre Nähe zu den obersten Rängen der katholischen Kirche und evangelikalen Gruppen, die damals für das neue Gesetz warben. 

Dem gegenüber stehen dokumentierte Fälle in Armut lebender Frauen, denen in öffentlichen Krankenhäusern eine Abtreibung aus medizinischen Gründen verwehrt wurde und die schließlich an den Folgen gestorben sind.[1] Der Tod dieser Frauen ist auf die Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen und damit auf die Politik der FSLN zurückzuführen.

Auch Gesetze zur Verhinderung und Bestrafung männlicher Gewalt in ihren vielfältigen Ausdrucksformen, die als wichtige Errungenschaften einiger Frauenorganisationen gelten, wurden Mittels von der Regierung erlassener Dekrete verwässert. Frauen, die sexuelle Gewalt erfahren, haben nun kaum eine Möglichkeit, Täter anzuzeigen und dabei angemessenen Schutz zu erhalten. Damit wird nicht nur die Rolle des Staates im Bereich der Prävention, Bestrafung und Wiedergutmachung für die Opfer sexueller Gewalt verschleiert, sondern vor allem die Verantwortung auf die Frauen selbst abgewälzt.

Das Ergebnis dieser Politik der Toleranz, Rechtfertigung und Verschleierung von geschlechtsspezifischer Gewalt im Namen einer «Familieneinheit» ist ein Anstieg der Straflosigkeit. In vielen Fällen ist dokumentiert, dass Polizeibeamte und Behörden des Familienministeriums Druck auf die Betroffenen ausüben, damit sie eine außergerichtliche Mediation in Anspruch nehmen oder ihren Angreifern vergeben, wodurch die Verbrechen zu einer privaten Angelegenheit werden, was den Bestimmungen des Gesetzes gegen Gewalt grundsätzlich widerspricht.   

(Keine) Rechte für Homosexuelle und trans Personen

In den 13 Jahren der FSLN-Regierung hat sich die Situation für die LGTB-Community kaum verbessert. Die Diskrepanz zwischen verabschiedeten Gesetzen und den diskriminierenden Praktiken, die in öffentlichen Einrichtungen vorherrschen, zeigen einen völligen Mangel an politischem Willen, das Recht auf Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung wirksam umzusetzen. Daran konnte auch die staatliche Sonderverwaltungsstelle für sexuelle Diversität nichts ändern, die außerdem nur beratend tätig ist und der kaum Mittel zur Verfügung stehen, um etwas bewirken zu können.

2013 verabschiedete das nicaraguanische Parlament ein neues Familiengesetz, das ausschließlich die heterosexuelle Ehe anerkennt. Dadurch wird die Existenz homosexueller Paare und deren Recht, eine Familie zu gründen, verweigert, was eindeutig gegen die Antidiskriminierungsklausel der Verfassung verstößt. Ebenso schließt das Familiengesetz die Existenz von trans Personen gänzlich aus und missachtet damit die Verpflichtung des Staates, die Familienrechte einer Bevölkerungsgruppe zu schützen. Deren Identität und Lebensentwürfe bewegen sich somit in einer rechtlichen Grauzone, was sie einer großen Schutzlosigkeit aussetzt.  

Die Vereinigung des religiösen und politischen Fundamentalismus

Wie in ganz Lateinamerika und der Karibik, ist auch in Nicaragua ein Wiederaufleben eines religiösen Fundamentalismus zu beobachten. In den letzten zwei Jahrzehnten hat insbesondere die Strömung der Pfingstkirchen an Bedeutung gewonnen. Diese treten für ein wörtliches Verständnis der Bibel ein. Dabei dient diese als moralische Führung zur Bewältigung individueller Probleme und wird für Antworten auf soziale Fragen herangezogen.

In Nicaragua drückt sich die Nähe der Regierung zu religiösen Gruppen nicht nur durch finanzielle Unterstützung zahlreicher evangelikaler Priester aus, sondern auch durch die Bezugnahme auf religiöse Bilder und Rituale. Sowohl das Präsidentenpaar als auch Regierungsmitglieder aus den Reihen der FSLN lassen kaum eine Gelegenheit verstreichen, um die Nähe zu religiösen Gruppen zu demonstrieren. Dieses Vorgehen verbindet politische Macht mit einem vermeintlich göttlichen Willen, was sich beispielsweise in Aufrufen zu gemeinsamen Gebeten äußert, um für die Wiederherstellung der Ordnung während der Proteste seit 2018 zu bitten. Der religiöse Fundamentalismus seitens der Regierung dient damit nicht nur der Kriminalisierung der Proteste, sondern verkennt auch jede Form politscher Verantwortung.

Bei öffentlichen Auftritten predigt Rosario Murillo den göttlichen Willen und verurteilt Regierungskritiker*innen als Landesverräter. Sie seien die Verkörperung des Bösen, die im Namen Gottes bekämpft werden müssten. So erschafft Murillo Narrative, die eine politische und menschenrechtliche Krise in einen moralischen Wettstreit zwischen Gut und Böse verwandeln, bei dem die Machthaber als aufgeklärte Messiasse erscheinen, die zur Rettung des Landes aufgerufen sind.  

Orte des Widerstandes und die Rückeroberung der Straßen

Wie bereits erwähnt stellt die Rückkehr der FSLN für die feministische Bewegung alle Arten von Einschränkungen hinsichtlich politischer Einflussnahme und sozialer Proteste da. Es gelang den zahlreichen Organisationen und Akteurinnen jedoch auch, eine kohärente Gegenerzählung aufzubauen und die antifeministische Politik, sowie die Vertuschung von Menschenrechtsverletzungen durch die Regierung Ortega-Murillo aufzudecken. Die FSLN reagiert darauf mit assistenzialistischen Hilfsprogrammen für Frauen, um sie zu manipulieren oder sogar zu erpressen.

Trotz ihrer Stärke stellt die Krise seit dem Ausbruch der Proteste im April 2018 die Mobilisierungs- und Reaktionsfähigkeit der nicaraguanischen Frauenbewegung auf die Probe. In einem Klima exzessiver Repression haben Kollektive und Aktivist*innen nicht nur zu Proteste aufgerufen, sondern sie haben auch eine Schlüsselrolle bei der Unterstützung der Opfer der Repression gespielt, indem sie Fälle von Menschenrechtsverletzungen dokumentieren, um Wahrheit und Gerechtigkeit zu fordern.

Sie haben auch intensiv daran gearbeitet, Räume für den Dialog mit anderen sozialen Bewegungen zu öffnen, die bereits existieren oder während der Krise entstanden sind, mit dem Ziel, ihre Kräfte zu bündeln und sich auf gemeinsame Strategien des Widerstands zur Überwindung der Krise zu verständigen. 

Inmitten der Krise haben Feministinnen unterschiedlicher Strömungen und Generationen eine gemeinsame Sprache entwickelt, die zwar staatliche Gewalt anprangert, aber klare Verbindungen zwischen Regierung und der in den gesellschaftlichen Strukturen verkörperten männlichen Gewalt herstellt. Wenn also die Regierung fordert «Kniet euch hin und betet», um dieser Diktatur zu entkommen, skandieren die Feminist*innen auf der Straße: «Säkularer Staat, Nicaragua in Freiheit!»

Feministische Stimmen und der Ausweg aus der Krise

Es ist äußerst komplex, in die zahlreichen Bemühungen einzugreifen, die derzeit unternommen werden, um alternative Lösungen für die Krise zu finden.  Es handelt sich um eine widersprüchliche Konjugation zwischen aufstrebenden Akteuren, die sich für radikale Veränderungen einsetzen, und traditionellen Kräften, die vor 2018 Teil der von der FSLN-Regierung kontrollierten Machtstruktur waren.

Das Bündnis Articulación Feminista, das verschiedene Gruppen und Netzwerke mit lokaler und nationaler Präsenz zusammenführt, hat sich aktiv an der Schaffung der Unidad Nacional Azul y Blanco (UNAB) als Plattform beteiligt, die ein breites Spektrum von Akteuren zusammenbringt. Ihr Hauptanliegen und kleinster gemeinsamer Nenner ist das Ende des Ortega-Murillo-Regimes und die Wahl einer neuen Regierung. Über die notwendigen Schritte herrscht jedoch großer Dissens.

Trotz der in der nicaraguanischen Gesellschaft weit verbreiteten antifeministischen Vorurteile, ist es feministischen Aktivistinnen gelungen, zu einer wichtigen Referenz für die Analyse des Zusammenhangs der Kontinuität zwischen geschlechtsspezifischer Gewalt und staatlicher Gewalt zu werden. Aus dieser Perspektive haben Feministinnen sowohl gegen die Unterdrückung des Ortega-Murillo-Regimes als auch Sexismus, Frauenfeindlichkeit und Homo- und Transphobie kämpferisch gehandelt. 

Gibt es einen Ausweg aus der Krise?

Die Suche nach Lösungen für die Krise erfordert ein tiefes Nachdenken über die Ursachen, die sie hervorgerufen haben, und die Anerkennung der Verantwortung jedes einzelnen Akteurs, der Teil dieses Netzwerks der Komplizenschaft war und immer noch ist.

Der Ausbruch der Proteste im April ist auch Ausdruck für die Schließung und Privatisierung öffentlicher Räume, was unter anderem zu einer mangelnden Bürger*innenbeteiligung führte. Um das zu ändern, sind Prozesse erforderlich, die auf den Wiederaufbau des sozialen Gefüges abzielen. Es geht darum das kollektive Handeln wiederzubeleben. Soziale Bewegungen – Feministinnen, Jugendliche, Umweltaktvist*innen, Bäuer*innen, LGTBs – haben durch ihre Erfahrung viel zu diesem Prozess beizutragen. 

Gemeinsam mit anderen sozialen Bewegungen verfolgen Feministinnen das vergleichsweise kurzfristige Ziel, eine neue politische Alternative aufzubauen, die in der Lage ist, den zivilen Widerstand und die Verteidigung der individuellen und kollektiven Rechte zu unterstützen und zu vertiefen. Dies erfordert unter anderem, dass umfassende Dialoge weitergeführt und vertieft werden, um ein schärferes Verständnis der strukturellen Ursachen der Krise und die Suche nach einem gemeinsamen Horizont zu ermöglichen.

Feministische Forderungen sind wahrscheinlich mit die unbequemsten für die traditionelle politische Klasse und deren Schutzmächte. Denn die Demokratisierung der nicaraguanischen Gesellschaft erfordert auch, dass ebendiese ihre Verantwortung für die historische Schuld gegenüber Frauen anerkennt, deren Rechte von Rechten wie Linken verweigert wurden.    

Die nicaraguanische Gesellschaft muss nicht auf bewaffnete Gewalt zurückzugreifen, um aus dieser Krise herauszukommen. Zentral ist hierfür, die Straflosigkeit zu beenden und Gerechtigkeit als Grundlage für einen dauerhaften Frieden zu schaffen. Es geht darum, notwendige Voraussetzungen für die Demokratisierung der Gesellschaft zu schaffen.  


[1] Derogación del aborto terapéutico en Nicaragua: impacto en la salud. OPS, 2010.; Impacto de la penalización del aborto terapéutico en la vida de las mujeres y familias nicaragüenses. 2010. Ipas Centroamérica; La muerte materna en Nicaragua. La vida de cada mujer cuenta. 2008. Ipas Centroamérica; Los rostros detrás de las cifras. Los efectos trágicos de la penalización del aborto terapéutico en Nicaragua. 2007. Ipas Centroamérica; Sin opción a decidir. Reflejos de la inequidad social. 2004. Ipas Centroamérica