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Bisher viel zu wenig beachtet: Wie die Klimakrise bereits heute weltweit zu Flucht und Vertreibung führt.

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Nadja Charaby,

Auf diesem Foto, das am Dienstag, dem 31. März 2020, aufgenommen wurde, schwärmen Wüstenheuschrecken über einem Baum in Kipsing in der Nähe von Oldonyiro im Landkreis Isiolo in Kenia. Wochen bevor sich das Coronavirus in weiten Teilen der Welt ausbreitete, waren Teile Afrikas bereits von einer anderen Art von Pest bedroht, dem größten Heuschreckenausbruch, den einige Länder seit 70 Jahren gesehen hatten. Jetzt wird die zweite Welle der unersättlichen Insekten erwartet, die etwa 20-mal so größer werden kann wie die erst. Sven Torfinn/FAO via picture alliance / AP Photo

Die Meldungen der letzten Wochen könnten widersprüchlicher nicht sein. Die Europäische Union beerdigte endgültig die Marinemission „Sophia“, die zwischen 2015 und 2019 an die 50.000 Menschen gerettet hat. Stattdessen setzt die EU auf Grenzsicherung in Libyen und ein kaum durchsetzbares Waffenembargo. Die Rettung von Tausenden Geflüchteten vor dem Ertrinken wird der ehrenamtlichen, privaten Seenotrettung überlassen. Die humanitäre Krise für Geflüchtete an der türkisch-griechischen Grenze spitzte sich immer weiter zu.

Nadja Charaby ist Referatsleiterin der Abteilung Internationale Politik und Nordamerika sowie Referentin für Klimapolitik bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Parallel urteilte der UN-Menschenrechtsausschuss Ende Januar, dass die internationale Staatengemeinschaft zukünftig Menschen, die vom Klimawandel betroffen sind, nicht das Recht auf Asyl wird verwehren können. Und trotzdem schaut diese Weltgemeinschaft, mitverursacht durch kaum vorhandene internationale Klimapolitik, offensichtlich tatenlos zu, wie der Osten Afrikas aktuell von einer massiven Heuschreckenplage heimgesucht wird, die ihren Höhepunkt vermutlich noch nicht erreicht hat.

Ursache dafür sind auch die durch den Klimawandel hervorgerufenen Temperaturanstiege des Indischen Ozeans und damit verbundene extreme Regenfälle. Die Gefahr erneuter Hungersnöte steigt an, und damit verschärfen sich Konfliktrisiken sowie Flucht und Vertreibungen in dieser ohnehin massiv vom Klimawandel betroffenen Region. Allein im vergangenen Jahr flohen beispielsweise in Äthiopien und Somalia rund eine Million Menschen aufgrund von Naturkatastrophen.

Unter den insgesamt 17,2 Millionen Menschen, die im Jahr 2018 aufgrund von Naturkatastrophen und Extremwetterereignissen innerhalb ihres Landes vertrieben wurden, halten die Philippinen, China und Indien mit fast zehn Millionen Menschen den traurigen Rekord. Aber es sind auch gar nicht mehr nur die armen Regionen dieser Welt, in denen Klimakrise und Vertreibung Hand in Hand gehen. In den USA mussten 1,2 Millionen Menschen 2018 ihre Heimat aufgrund von Naturkatastrophen verlassen, global ist es das Land mit der vierthöchsten Rate. Die Zerstörung Australiens durch die massiven Buschfeuer haben wir alle hoffentlich noch vor Augen. Auch dort mussten zahlreiche Ortschaften evakuiert werden.

Auch wenn der Klimawandel nicht unmittelbar jedem Unwetter zuzuordnen ist, so sind derartige Extremwetterereignisse in den letzten Jahrzehnten aufgrund der globalen Erwärmung häufiger und in ihren Auswirkungen massiver geworden. Die Klimakrise wiederum verschärft bereits existierende soziale Ungerechtigkeiten. Schon heute werden Lebensgrundlagen ganzer Regionen vernichtet. Viele Menschen geraten in die Armutsfalle. Chancen verschwinden, ihr jemals zu entkommen. Bisher viel zu wenig beachtet ist der Umstand, dass die Klimakrise bereits heute weltweit zu Flucht und Vertreibung führt. Es handelt sich dabei nicht um ein Zukunftsszenario, sondern um eine bittere Realität.

Betrachtet man die Zusammenhänge von Klimakrise und Migration, wird von kritischen Stimmen oftmals das Argument bemüht, dass die Gründe nicht eindeutig einzuordnen sind. Sicherlich handelt es sich in vielen Fällen um das Zusammentreffen von mehreren Gründen wie Dürren, Hunger, militärischen Konflikten. Es kann auch nie um die Frage gehen, ob der eine Fluchtgrund schwerer wiegt als der andere. Im Zentrum muss stattdessen stehen, wie die Weltgemeinschaft dafür sorgen wird, dass die Menschenrechte der Betroffenen geschützt werden.

In den kommenden Jahrzehnten werden Millionen oder sogar Milliarden Menschen wegen der Klimakrise migrieren (müssen), im globalen Süden um ein Vielfaches mehr als im globalen Norden. Am stärksten betroffen sind diejenigen, die am wenigsten dazu beigetragen haben. Mit institutionalisierter Kälte, wozu eine verfehlte Klimapolitik wohl auch gezählt werden muss, schauen die Industrienationen zu, so auch die EU. Die Forderung nach einem verlässlichen Schutz der Rechte der betroffenen Länder, Regionen, Communities und Individuen berührt eine der Kernforderungen von Klimagerechtigkeit.

Trotz der zunehmenden wissenschaftlichen Erfassung der Schnittstellen von Klimakrise und Flucht bleibt es eine Herausforderung, genau festzulegen, wer aufgrund von Klimafolgen fliehen muss. Folglich weichen die Angaben über zukünftige globale Entwicklungen stark voneinander ab. Zahlen, die genannt werden, reichen von 25 Millionen bis zu einer Milliarde Menschen, die im Jahr 2050 wegen der Klimakrise migrieren müssen. Die meisten von ihnen werden innerhalb ihrer eigenen Länder umsiedeln, nur sehr wenigen wird die Flucht nach Europa oder in die USA gelingen. Für das Finden internationaler oder auch nationalstaatlicher Politikansätze ist die Kenntnis der Zahlen wichtig. Aus der Perspektive der Betroffenen muss es jedoch vor allem um den Schutz ihrer Rechte gehen. Und hier gibt es bisher zu wenig konkrete Ansätze und Maßnahmen.

Immerhin sind die Zusammenhänge von Klimakrise und Flucht inzwischen Bestandteil mehrerer multilateraler Prozesse geworden, so zum Beispiel des „Global Compact for Migration“ oder auch der UN-Klimarahmenkonvention. Das bahnbrechende Urteil des Menschenrechtsausschusses vom Januar dieses Jahres stellt klar fest, dass das Recht auf Asyl nicht verweigert werden darf, wenn Menschen aufgrund des Klimawandels um ihr Leben fürchten müssen. Derzeit existiert aber keine rechtlich bindende Konvention, welche die Rechte von Klimamigrant*innen international schützt. Den vielen Binnenmigrant*innen wäre durch eine internationale Konvention vermutlich nicht geholfen.

Die Betroffenen fordern zu Recht, dass die Verursacher der Klimakrise, das heißt Industriestaaten und fossile Unternehmen, für die Folgen Kompensationen zahlen und Verantwortung übernehmen. Zur Forderung nach einem „Recht auf Bewegungsfreiheit“ kommt die Forderung nach einem „Recht auf Migration in Würde“. Das verlangt beispielsweise der vom kompletten Versinken im Meer bedrohte Staat Kiribati. Die Bewohner*innen von Tuvalu fordern hingegen ein „Recht auf Bleiben“. Die Verursacher der Klimakrise müssen also dafür sorgen, dass sie ihre Heimat nicht verlassen müssen.

Zentral ist hier die Bereitstellung zusätzlicher Gelder für Länder, aus und in denen Menschen wegen des Klimawandels vertrieben werden oder umgesiedelt werden müssen. Der Aufbau sozialer Sicherungssysteme in den betroffenen Staaten bekommt durch die Klimakrise eine weitere drängende Bedeutung, die Einführung von Katastrophenwarnsystemen und Technologietransfers sind unabdingbar.

Aber was ist, wenn eine Anpassung an den Klimawandel nicht mehr möglich ist und der gesamte Staat, wie im Fall einiger pazifischer Inseln zu befürchten, aufgrund des Klimawandels verschwindet? Vergleichbar mit dem Nansen-Pass, der nach dem Ersten Weltkrieg Staatenlosen den Zugang zu einer neuen Nationalität ermöglichte, sollen Klimapässe hier eine mögliche Lösung bieten. In diesem Fall muss es Aufgabe der Industrieländer sein, entsprechende Pässe auszustellen, denn der Verursacher zahlt. Auch wenn diese Themen vielleicht technokratisch und weniger sexy klingen, als für den Kohleausstieg zu demonstrieren (was weiterhin wichtig bleibt), ist es essenziell, dass wir auch hier in Deutschland politischen und öffentlichen Druck auf die Bundesregierung ausüben, damit sie sich in dieser Richtung bewegt.

Gerade als Linke sollten wir uns aber auch klarmachen, was es heißt, wenn wir rufen, Fluchtursachen sollen konsequent bekämpft werden. Schauen wir nämlich auf die Klimakrise, so gilt es, diese dort zu bekämpfen, wo sie vor allem erzeugt wurde – nämlich bei uns. Und wenn wir dann mit allerhand transformatorischen Modellen liebäugeln, wie zum Beispiel dem Green New Deal, dann müssen wir ganz im Sinne der Klimagerechtigkeit internationalistisch mitdenken, dass wir die sozialen und ökologischen Kosten nicht einfach in den globalen Süden externalisieren können.