Nachricht | Verfolgung von Armut im Nationalsozialismus

Peter Nowak rezensiert in der Tageszeitung Neues Deutschland am 16.12.2009 ein Buch, das an die Verfolgung armer Menschen durch die Nazis in der »Aktion Arbeitsscheu« erinnert. und fragt nach den Kontinuitäten bis heute.

»Wie reagieren Sie auf Betteln?« Mit dieser Frage beginnt die Politikwissenschaftlerin Claudia von Gelieu ihren Einleitungsbeitrag in einem Buch, das ein historisches Thema aufgreift und doch erschreckend aktuell ist. Auf 350 Seiten behandeln Wissenschaftler, Aktivisten der Erwerbslosenbewegung und linker Gruppen den Umgang mit Armut – in der
Regel eine Geschichte der Verfolgung und Stigmatisierung der Armen.
Heute, wo die viel zitierte Verarmung von Teilen der Bevölkerung durch den Verkauf von Obdachlosenzeitungen, das Sammeln von Flaschen und verschiedene Arten des Bettelns sichtbar wird, ist ein solches Buch dringend notwendig.
Dieter Meier informiert in seinem Beitrag über die »Aktion Arbeitsscheu Reich«. So bezeichneten die Nazis zwei Verhaftungswellen, durch die im April und Juni 1938 mehr als 10 000 Personen als sogenannte Asoziale in Konzentrationslager verschleppt wurden. Die Berliner Filmemacherin Andrea Behrendt zeigt am Beispiel des Jugendkonzentrationslagers für Mädchen und Frauen in Uckermark auf, dass es noch viele vergessene Orte des NS-Terrors gibt.

Verfolgung ging weiter

Die Beiträge des Buches verdeutlichen, dass für die meisten Opfer die Verfolgung nach 1945 nicht zu Ende ging. So war in der DDR, wie Rechtsanwalt Sven Korzillus belegt, »asoziales Verhalten« noch im Strafgesetzbuch von 1968 verankert. In Westdeutschland trafen die in der NS-Zeit als asozial Verfolgten in den Behörden oft auf das gleiche Personal, das sie weiter mit Schikanen und Sanktionen belegte. Wie aus der Antwort einer Kleinen Anfrage der Bundestagsabgeordneten der LINKEN Ulla Jelpke hervorgeht, haben von den mehreren zehntausend Opfern der Asozialenverfolgung nur 205 Personen eine Entschädigung von insgesamt 2554 Euro erhalten. Wenn sich der Berliner Polizeipräsident Dieter Glietsch in seinem Buchbeitrag »vor den Opfern der als asozial stigmatisierten Menschen, die Opfer polizeilicher Verfolgung im Nationalsozialismus wurden«, verneigt, sind die Menschen, die nach 1945 weiter ausgegrenzt wurden, nicht gemeint. Das ist allerdings bei den übrigen Beiträgen im Buch erfreulicherweise anders.


Bezüge zu heute
Neben der historischen Geschichtsaufarbeitung werden immer wieder Bezüge
zur Gegenwart gezogen. So widmet sich der Stadtsoziologe Volker Eick unter der Überschrift »Hartz IV kommt jetzt in Uniform« dem Randgruppen-Management in der neoliberalen Stadt. »Kein Mensch ist asozial« heißt das Motto des Aufsatzes von Anne Allex, in dem sie die Schaffung eines europäischen Ortes der Erinnerung mit gleichem Titel anregt. Diesem Anliegen widmet sich auch der Arbeitskreis »Marginalisierte – gestern und heute« in Berlin. In einer Zeit, in der von Stützen der bürgerlichen Gesellschaft wie dem Vorstandsmitglied der Bundesbank Thilo Sarrazin oder dem Philosophen Peter Sloterdijk der Klassenkampf von oben gepredigt und der Hass auf die Ausgegrenzten verstärkt wird, liefert das Buch wichtige Gegenargumente und historische Fakten.

Anne Allex u. Dietrich Kalkan (Hg). »ausgesteuert - ausgegrenzt ... angeblich asozial«, AG Spak Verlag Neu-Ulm 2009, 351 Seiten, 28 Euro.