Nachricht | Europa - Südosteuropa Ein Ein-Parteien-Staat geführt von einer Ein-Mann-Partei?

Die Wahlen in Serbien 2020

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Ana Veselinović,

Foto: picture alliance / REUTERS | Marko Djurica

Die am 21. Juni 2020 abgehaltenen Regional-, Kommunal- und Parlamentswahlen in Serbien wurden durch einen beispiellosen Sieg der Serbischen Fortschrittspartei (SNS) und ihrer Kandidatenliste «Aleksandar Vučić - Für unsere Kinder» gekrönt.

Ana Veselinović arbeitet als Programmmanagerin im Belgrader Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Unterstützungs- und Glückwunschschreiben für diesen historischen Erfolg, die gesamte Opposition aus der Nationalversammlung verdrängt zu haben, blieben nicht aus und kamen von Vučićs politischen Verbündeten in der EU: den Staatschefs Österreichs, Ungarns und Sloweniens sowie von Donald Tusk, dem Vorsitzenden der Europäischen Volkspartei, der die SNS angehört.

Auf Grundlage von 97,23 Prozent der ausgezählten Stimmen bestätigte die serbische Wahlkommission (RIK) am 26. Juni, dass die SNS eine überwältigende Mehrheit von 60,68 Prozent der Stimmen und 189 von 250 Mandaten in der Nationalversammlung erhalten hat. Mit dem Gewinn von fast zwei Millionen Stimmen festigte Vučić die Macht der SNS, die nun die vollständige Kontrolle über die Legislative und die Exekutive übernimmt. Die SNS und der serbische Staatspräsident sind nun in der Lage, die Verfassung zu ändern und andere Gesetzesänderungen vorzunehmen, die seinen Interessen und jenen seiner Partei dienen.

Ein von der Sozialistischen Partei Serbiens (SPS), die bereits seit 2012 mit der SNS koaliert, geführtes Wahlbündnis kam mit 10,35 Prozent und 32 Sitzen auf den zweiten Platz. Wäre die Sperrklausel nicht von fünf auf drei Prozent gesenkt worden, wären - abgesehen von den vier Parteien nationaler Minderheiten, für die die andere Logik gilt - alle Parlamentssitze von Abgeordneten der Regierungskoalition eingenommen worden. Diese Absenkung brachte jedoch einen Neuankömmling ins serbische Parlament: Die Serbische Patriotische Allianz (SPAS) unter der Führung von Aleksandar Šapić, einem ehemaligen Wasserballprofi und amtierenden Bürgermeister von Neu-Belgrad. Während des Wahlkampfs nahm Šapić eine politisch neutrale Haltung ein, und gewann schließlich mit 3,86 Prozent der Stimmen 12 Sitze.

Eine Woche nach den Wahlen bleiben indes viele Fragen weiterhin unbeantwortet. Es ist immer noch nicht klar, ob die Wahlbeteiligung wenigstens bei 50 Prozent lag, und zu den lokalen und regionalen Ergebnissen liegen nur spärliche Informationen vor. Andererseits wurden massive Beschwerden wegen Unregelmäßigkeiten bei der staatlichen Wahlkommission eingereicht. Infolgedessen sollen die Wahlen in 234 Wahllokalen mit mehr als 200.000 Wählerinnen und Wählern wiederholt werden. Diese Neuauszählungen im zweiten Wahlgang könnten die Zusammensetzung der zukünftigen Nationalversammlung verändern, da zwei weitere Rechtsparteien nur knapp den Einzug ins Parlament verpasst hatten - die monarchistische «Bewegung für die Wiederherstellung des Königreichs Serbien» (POKS) und die durch den ehemaligen Wirtschaftsminister (2012-2014) Saša Radulović angeführten «Souveränisten».

Obwohl die Wahlbeteiligung von 47,9 Prozent die bisher niedrigste war, scheint selbst diese durch verschiedene Druckmittel der SNS erzwungen worden zu sein. Wie die CRTA, eine unabhängige Beobachtermission, berichtet, war der Wahltag durch zahlreiche Verfahrensverstöße gekennzeichnet. Die Zahl der Wahlunregelmäßigkeiten war im Vergleich zu den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2016 und 2017 höher, wobei mehr als 5 Prozent aller Wahllokale von Unregelmäßigkeiten berichteten.

Wahlbeobachter sprachen über Fälle wie das parallele Führen von Wahllisten in den Wahllokalen, organisierte Fahrten zu den Wahllokalen bei der so genannten «Karussellwahl», unterlassene Überprüfung von Wählerausweisen, Abweichung vom Prinzip der geheimen Stimmabgabe und sogar Stimmenkauf. Untersuchungen von CRTA zufolge gestand jede fünfte Person, dass sie in irgendeiner Weise unter Druck gesetzt wurde ihre Stimme abzugeben.

Die Vorteile absoluter Staatsmacht?

Der serbische Staatspräsident Aleksandar Vučić führte den Wahlkampf für seine Partei fast allein. Aufgrund der Corona-bedingten Unterbrechung des Anfang März begonnenen Wahlkampfes lassen sich zwei verschiedene Phasen unterscheiden. Durch die Ausrufung des Ausnahmezustands in Serbien Mitte März sowie die Auflösung des Parlaments konzentrierten sich alle Entscheidungen bei der Exekutive, was es Vučić ermöglichte, öffentlichkeitswirksam die Position des Anführers oder «Chefs», wie er sich selbst in der Rolle des Präsidenten bezeichnet, einzunehmen. Analysen der Medienberichterstattung zeigen, dass Vučić und andere Amtsträger das Fernsehen absolut dominiert haben und mehr als 90 Prozent der Hauptsendezeit während des Ausnahmezustands vom 15. März bis zum 6. Mai einnahmen.

Im gleichen Zeitraum stieg der Fernsehkonsum im Vergleich zum Vorjahr um 40 Prozent. Diese Gelegenheit wurde genutzt, um das Bild des Präsidenten als eines mächtigen, fähigen und selbstbewussten politischen Führers zu vermitteln - eines Mannes, der die Dinge zum Laufen bringt. Mutig genug, das Ende der europäischen Solidarität zu erklären und sich an China und Russland zu wenden, um Hilfe in Form von Fachwissen, medizinischer Ausrüstung und Schutzausrüstung zu erhalten, aber auch als großzügiger Führer eines kleinen Landes, das acht Flugzeuge mit medizinischen Hilfsgütern als Zeichen der Dankbarkeit nach Italien schickt. Es gelang ihm, eine staatliche Einmalzahlung in Höhe von 100 Euro für jeden erwachsenen Bürger und zusätzlich 35 Euro für Rentnerinnen und Rentner, die während des Lockdowns besonders gelitten hatten, als sein persönliches Geschenk an die Menschen zu präsentieren. Zudem «exportierte» er fast ausnahmslos alle aggressiven Angriffe auf die Opposition an ihm genehme Journalistinnen und Journalisten privater Medien, die als SNS-Propagandamaschinen dienen. Eine Verleumdungskampagne gegen Dragan Djilas, den bekanntesten Politiker der Oppositionskoalition «Allianz für Serbien», ging so weit, ihn öffentlich als «Verbündeten des Coronavirus» zu denunzieren.

Die Ausbreitung des Corona-Virus offenbarte zudem das vor allem im Gesundheitssystem akute Problem der Abwanderung von Fachkräften, was die SNS und Aleksandar Vučić veranlasste, sich in der zweiten Phase der Kampagne vor allem darauf zu konzentrieren. In seiner «Fünfjahresversion» versprach Vučić eine glänzende Zukunft mit einer der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften Europas. In einem (später verbotenen) Fernsehspot versprach er einem kleinen Mädchen, ihren Papa von der «Arbeit im Ausland» zurückzubringen sowie das Durchschnittseinkommen bis 2025 auf 900 Euro fast zu verdoppeln. In der Zwischenzeit reichte CRTA acht Beschwerden bei der Anti-Korruptionsbehörde ein, in denen sie den Missbrauch öffentlicher Mittel und die Verletzung von Finanzierungsvorschriften vor allem durch SNS-Mitglieder anführte.

Ein großer Teil dieser Ressourcen wurde in die «get out the vote»-Kampagne der SNS investiert. Die SNS-Wahlzentrale nutzte in ganz Serbien telefonische Befragungen von Bürgerinnen und Bürgern zu Propagandazwecken. Die Partei richtete zwei große Callcenter ein und beschäftigte Hunderte von jungen Freiwilligen, deren Hauptaufgabe vor allem darin bestand, Menschen anzurufen um zu überprüfen, ob sie gewählt hatten. Um die Frage, woher die SNS an private Daten kam, entspannten sich folglich Kontroversen. Viele Menschen empfanden dies als eine schwere Verletzung ihrer Privatsphäre. Bezeichnend ist, dass die SNS nur Festnetz- und Mobiltelefonnummern verwendete, die von der staatlichen Telekommunikationsgesellschaft MTS betrieben werden - ein Bereich, in dem das klientelistische Netzwerk der Partei gut etabliert ist.

Auf die Frage, warum die Partei beschlossen habe, das Gesicht des Präsidenten in den Vordergrund des Wahlkampfes zu stellen, erklärte Vučić, dass Marketingexperten ihnen geraten hätten sich auf «das beste Produkt der Partei» zu konzentrieren.

Die Boykottkampagne der Opposition

Die Entscheidung der Opposition, die Wahlen zu boykottieren, wurde bereits im Januar 2019 getroffen, als eine Mehrheit der einflussreichen, aber ideologisch unterschiedlich verorteten Oppositionsparteien gemeinsam ein «Abkommen mit dem Volk» unterzeichnete. Sie forderten Pressefreiheit sowie die Erfüllung ihrer Forderungen an die Regierung, bestimmte Bedingungen für die Abhaltung freier und fairer Wahlen zu schaffen.

Im Mittelpunkt der Kampagne stand die Infragestellung der Legitimität der Wahlen unter dem autoritären Regime von Aleksandar Vučić, wobei man sich weitgehend auf internationalen Druck stützte. Angesichts der politischen Kräfteverhältnisse in der EU und der aktuellen Coronavirus-Krise war dies allerdings eine äußerst riskante Wette.

Da sich die Wahlbedingungen nicht wesentlich verändert hatten, blieb die Mehrheit der Opposition konsequent, während eine Unterzeichnerin, die «Bewegung der freien Bürger» (PSG), ihre Entscheidung überdachte und sich doch an den Wahlen beteiligte, mit 1,5 Prozent Stimmenanteil aber nur einen mehr als bescheidenen Wahlerfolg errang.

Durch den Boykott gelang es der Opposition, die Wahlbeteiligung um bis zu neun Prozentpunkte zu senken. In Belgrad lag sie bei rund 36 Prozent, was die niedrigste Wahlbeteiligung aller Zeiten ist. Der Boykott der Opposition beeinflusste auch das Bild vom Zustand von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Serbien. Zwar verhalf der Boykott einigen politischen Emporkömmlingen wie der «Bewegung für die Wiederherstellung des Königreichs Serbien» (POKS) dazu, potenziell einige Parlamentssitze zu gewinnen, doch hatte die Boykottentscheidung auch schwerwiegendere politische Folgen. Sie entzog allen großen Oppositionsparteien die öffentliche finanzielle Unterstützung und schnitt sie von jedweder institutionellen Politik ab.

Die «Allianz für Serbien», als das Rückgrat der Boykottkoalition, setzt sich zusammen aus der einst stärksten politischen Partei Serbiens, der heute stark de-legitimierten liberalen und «pro-europäischen» Demokratischen Partei (DS) und ihren Ablegern. Selbst nach ihrer Wahlniederlage 2012 war sie noch einflussreich und genoss die Unterstützung von mehr als 20 Prozent der Wählerschaft. In den folgenden Jahren schwächte sie sich zusehends durch interne Streitigkeiten, Führungskonflikte und Korruptionsskandale. Einige ihrer Mitglieder wurden vom Vučić-Regime kooptiert, wie z.B. der Belgrader Stadtmanager Goran Vesić, während andere ehemalige DS-Führer beschlossen, einen politischen Neuanfang zu machen, jeder in seiner eigenen politischen Organisation. Dazu gehören Dragan Djilas, Boris Tadić, Zoran Živković, Vuk Jeremić, Borko Stefanović und Zoran Lutovac. Es versteht sich von selbst, dass diese Dynamik die politische Stärke der liberalen Opposition völlig lahmlegte und all diese «alten Asse» an den Rand der politischen Bedeutungslosigkeit stellte.

Größere Zukunftsprobleme

Am Tag nach den Wahlen zerbrach indes schon das Image des «erfolgreichen» Coronavirus-Managements von Vučić. Das unabhängige Journalistennetzwerk BIRN veröffentlichte einen Artikel, in dem nachgewiesen wurde, dass die offiziellen COVID-19-Statistiken geschönt wurden. Zwischen den offiziellen Daten zur Gesamtzahl der täglichen Infektions- und Todesfälle und jenen, die vom zentralen Informationssystem der Regierung vorgelegt und von dieser veröffentlicht wurden, lag eine immense Diskrepanz.

Die erneute, unkontrollierte Ausbreitung des Coronavirus wurde einige Tage nach den Wahlen deutlich und offenbarte die wirklichen Schwächen des serbischen Gesundheitssystems. Mehrere Städte riefen den Ausnahmezustand aus und kehrten zu strengen epidemiologischen Maßnahmen zurück. Gleichzeitig überschwemmen seit vergangener Woche schwere Regenfälle ganz Westserbien und verursachen enorme Verluste in der Landwirtschaft, aber auch in der kommunalen Infrastruktur wie Straßen und Brücken. Schließlich wurden die EU-Beitrittsverhandlungen aufgrund der Verzögerung des Reformprozesses und der Besorgnis über die Rechtsstaatlichkeit und die Unabhängigkeit der Justiz auf Eis gelegt, bis Verbesserungen in diesen Bereichen zu erkennen sind.

Es dauerte lediglich eine Woche, bis sich nach dem Erdrutschsieg der SNS bei den Wahlen ernsthafte Risse im Regime zeigten. Schneller als irgendjemand aus der Opposition hätte erwarten können, offenbart die aktuelle Situation neue Nachweise der autoritären Herrschaft von Aleksandar Vučić. Wer jedoch aus dem ideologisch vielfältigen Spektrum der Vučić-Gegner neue politisch Relevanz generieren kann, bleibt abzuwarten. Notwendig wird es dafür sein, politische Alternativen zu artikulieren und mit der Bevölkerung direkt zu erarbeiten.