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Die gesellschaftliche Explosion nach dem Tod von George Floyd

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Bill Fletcher,

Black Lives Matter protest in Columbus, Ohio.  CC BY 2.0, Becker1999 (Paul and Cathy)

In unmittelbarer Folge auf die Tötung George Floyds durch die Polizei von Minneapolis brachen überall in den USA Proteste aus und breiteten sich dann in verschiedenen Formen auch in andere Teile der Welt aus. Diese Aufstände werfen unvermeidlich die Frage auf: Was kommt als nächstes? Aber auch die Frage: Warum gerade jetzt?

Der Tod von George Floyd ereignete sich am Schnittpunkt einer Reihe von bedeutenden Entwicklungen, die vielleicht sogar Widersprüche sind: COVID-19-Krise; Wirtschaftskrise; mehrere Lynchmorde an Afro-Amerikaner*innen; Donald Trumps Hetzereien; ganz abgesehen von einer ökologische Krise. Ähnlich wie schon 1919, als die irreführend betitelte Spanische Grippe, die Nachkriegsdepression, Pogrome gegen Afro-Amerikaner*innen, der Generalstreik von Seattle und die Repressionen gegen Radikale zusammenspielten, ist es auch heute: Nicht ein Ereignis allein setzt die Dinge in Gang, sondern dieses eine Ereignis wird zum Funken im Pulverfass.

Bill Fletcher, Jr. ist Chefredakteur bei globalafricanworker.com, ehemaliger Präsident des TransAfrica Forum und lebenslanger linker Gewerkschafter. Übersetzt von Vincenzo Döring & Utku Mogultay für Gegensatz Translation Collective.

Die COVID-19-Krise und das Versagen der Trump-Regierung, sich dieser anzunehmen, war jedoch der erste Funke. Erst leugnete die Regierung den Ernst der Situation, später ignorierte sie die Notwendigkeit landesweiter Koordination, und letztendlich war die Angelegenheit für sie erledigt, als klar wurde, dass People of Color  überproportional von dem Virus betroffen sind. COVID-19 löste auch eine unterschwellige Wirtschaftskrise aus, die sich schon seit Jahren zusammenbraute. Eine Kombination aus Überproduktion von Gütern und Überakkumulation von Kapital führte, zusammen mit massiven Finanzspekulationen, zu schwerwiegender wirtschaftlicher Instabilität. Die weltweit wachsende Einkommens- und Vermögensungleichheit verschlimmert diese Situation noch. Das neoliberale Kapital kann einfach nicht anders: Selbst wenn seine Vertreter*innen die Vermögens- und Einkommenspolarisierung als Instabilitätsquelle identifizieren, sind sie nicht in der Lage, etwas dagegen zu unternehmen.

Ein weiterer Funke war eine Reihe von Lynchmorden an Afro-Amerikaner*innen, die in der Tötung George Floyds durch die Polizei von Minneapolis gipfelten. Hier ist es aber wichtig festzuhalten, dass nicht nur Afro-Amerikaner*innen Opfer von Lynchmorden werden. Die First Nations – die Ureinwohner Amerikas – leiden unverhältnismäßig stark unter Polizeigewalt. Seit der Katastrophe durch den Hurrikan Maria wird Puerto Rico, eine Kolonie der USA, von der Trump-Regierung auf eine Art und Weise behandelt, die dem Völkermord nahekommt. Die Liste ließe sich beliebig lange fortsetzen. Dem Großteil des weißen Amerikas sind Leben und Geschichte der von Rassismus Unterdrückten weiterhin egal – sie zählen nicht.

Donald Trump verschlimmert all unsere Probleme, da er nicht einmal vorgibt, sich für die Appelle der Unterdrückten zu interessieren. Stattdessen hat er die ärgsten Grausamkeiten widerwillig anerkannt, nur um dann «Antifa», der losen Gruppierung von linken Anti-Faschist*innen und Anarchist*innen, die Schuld für Plünderungen während der Aufstände zu geben – trotz eindeutiger Gegenbeweise und klarer Belege dafür, das rechte Kräfte versuchten, den Grundstein für einen Rassenkrieg in den USA zu legen. Trump kippt weiter Öl ins Feuer, um dann eine Krise auszurufen, die er bewältigen wird!

Das alles passiert vor dem Hintergrund einer immer weiter um sich greifenden Umweltkatastrophe, die unter anderem auch zur COVID-19-Krise beitrug – und weiterhin zur Ausbreitung solcher Pandemien beitragen wird – denn sie zerstört die Lebensräume verschiedener Arten und zwingt sie dazu, woanders hin auszuweichen, sodass Krankheiten sich zwischen Arten übertragen können.

Die Situation war also überdeterminiert: Die Tötung von Floyd entfachte sie zwar, aber verursachte sie nicht.

Auch Trends in der politischen Rechten erscheinen angesichts der aktuellen Situation in klarerem Licht. Trump führt ein Bündnis von republikanischen Anhängern des Neoliberalismus und einer rechtspopulistischen Bewegung (die aus einem säkularem und einem religiösen Lager besteht). Dadurch entstehen große Konflikte für den Teil des herrschenden Machtblocks, der die rechtspopulistische Bewegung als von irrationalen Impulsen geleitet sieht und ihr zutraut, die globalen Allianzen zu zerstören, die seit dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut wurden. Trump befeuert diese rechte Bewegung, inklusive ihrer neofaschistischen Elemente, und entschuldigt ihr Verhalten, wie z. B. nach dem faschistischen Aufmarsch in Charlottesville, Virginia. Er konzentriert sich stattdessen auf die Gefahr, die angeblich von antifaschistischen Formationen ausgeht, und ignoriert gleichzeitig die neofaschistischen Provokateure, die die Proteste unterwanderten, um, wie bereits erwähnt, einen Rassenkrieg loszubrechen.

Auch erwähnenswert ist, dass Trump nicht einmal vorspiegelt, an Gerechtigkeit und nationale Geschlossenheit zu appellieren. So entfachte er die Begeisterung seiner rechten Anhänger*innen und ist nun wieder zurück auf Wahlkampftour, COVID-19 hin oder her.

Zwei abschließende Anmerkungen über die Explosion. Die Proteste in den USA waren überraschend multiethnisch. Zwar wurden die Aufstände von Afro-Amerikaner*innen geführt, aber sie mobilisierten auch andere Bevölkerungsgruppen und stellten die Bewegung in so manchen Fällen vor einige komplizierte politische Fragen, was das Verständnis von nationalistischer und rassistischer Unterdrückung betrifft und auch die spezifischen Formen, wie diese sich individuell auf rassistisch unterdrückte Bevölkerungsgruppen auswirken. Eine Tendenz hin zum Ethnonationalismus wird, falls wir nicht dagegen anarbeiten, die Chancen verringern, irgendeine Form von strategischer Einheit im Kampf gegen die weiße Vorherrschaft zu entwickeln.

Die Explosionen haben sich mittlerweile weltweit verbreitet. Erst schienen die Demonstrationen, ob nun im besetzten Palästina, in Paris oder in London, sich bloß mit den Protesten in den USA zu solidarisieren. Bei genauerer Betrachtung wird jedoch klar, dass die Demonstrationen nicht nur Solidaritätsbekundungen waren, sondern auch Ungleichheit, Polizeimissbrauch und verschiedene Formen von rassistischer und nationalistischer Unterdrückung in den jeweiligen Ländern anprangerten. In mancher Hinsicht könnte man sogar sagen, dass wir die Umrisse einer «Internationalen» des 21. Jahrhunderts zu sehen bekamen.

Wo geht es für die Bewegung hin? Widerstand gegen den Kapitalismus ist so unausweichlich wie unvorhersehbar. Es ist unklar, wann es eine gesellschaftliche Explosion geben wird, aber es ist klar, dass es sie geben wird. In Anbetracht der spontanen Eruptionen und der Tatsache, dass keine Organisation hinter ihnen steht, gibt es verschiedene Möglichkeiten.         

Die bei den Aufständen vorgebrachten Forderungen betreffen in erster Linie die Polizei, aber sie haben auch eine tiefergehende Ebene. Denn die Forderungen danach, der Polizei die Gelder zu streichen oder sie abzuschaffen, zeigen auch, dass die Leute sich weigern, sich mit den unbedeutenden Reformen zu begnügen, die in der Vergangenheit für gewöhnlich in Aussicht gestellt wurden– ein Beispiel hier wären Awareness-Trainings für Polizist*innen. Vielmehr stellen diese Forderungen einen Bereich des repressiven Staatsapparates grundlegend infrage. Da es sich um eine sehr breite Bewegung ohne zentrale Führung handelt, können diese Forderungen als Aufruf verstanden werden, die gesellschaftliche Rolle der Polizei neu zu überdenken. Dieser Aufruf umfasst, aber beschränkt sich nicht auf Maßnahmen zur Kürzung des Polizeibudgets, der Einschränkung polizeilicher Befugnisse, der Entmilitarisierung der Polizei und zur Entwicklung gemeinsamer Antworten auf gesellschaftliche Probleme. Ironischerweise zeugen diese Forderungen aber nicht unbedingt davon, dass die Leute, die sie geltend machen, sie auch in eine antikapitalistische Analyse miteinbeziehen.

Im Kern beschränken sich diese Forderungen nicht auf die Polizei. Tatsächlich drehen sie sich um das Wesen der Demokratie. Sie klagen die wachsende Ungleichheit an und den objektiv betrachtet genozidalen Kurs, auf den der Neoliberalismus hinausläuft. Und es sind Forderungen nach Gerechtigkeit und nach Wiedergutmachung des Schadens, den 500 Jahre rassistische und nationalistische Unterdrückung hinterlassen haben.

Die Gewerkschaftsbewegung befindet sich angesichts dieser Mehrfachkrisen seit einiger Zeit in einer relativen Schockstarre, besonders seit dem Aufstieg Trumps und dem Beginn der COVID-19-Krise. Einige Gewerkschaften wie z.B. UNITE HERE haben durch den pandemiebedingten Wirtschaftskollaps viele Mitglieder verloren und wurden somit stark getroffen. Keine Gewerkschaft konnte bisher erfolgreich eine geeinte Reaktion auf die Wirtschaftskrise infolge von COVID-19 entwickeln – auch wenn die Gewerkschaften der Krankenpfleger*innen eine wichtige Rolle dabei spielten, das Ausmaß der Krise zu verdeutlichen. Auf die Proteste im Anschluss an den Tod von George Floyd reagierten Teile der Gewerkschaftsbewegung mit generell solidarischen Statements, in denen sie das Problem der weißen Vorherrschaft thematisierten und die Polizeigewalt verurteilten. Intern haben solche Stellungnahmen aber auch Gegenwind von konservativeren Gewerkschaftsmitgliedern hervorgerufen, insbesondere in Hinblick auf die offene Kritik an der Polizei. Diese Widersprüche verschärften sich noch dadurch, dass zunehmend die Forderung laut wurde, die Polizeigewerkschaften aus dem Landesverband der AFL-CIO auszuschließen und auch aus anderen landesweiten Gewerkschaften wie der American Federation of State, County & Municipal Employees (AFSCME), der Service Employees International Union (SEIU) und der American Federation of Government Employees (AFGE).

Die Diskussionen innerhalb des linken Flügels der Arbeiterbewegung über mögliche Reaktionen auf die Krise sind bis jetzt zu keinem übergreifenden Konsens gelangt. Das hat auch mit der schwachen und fragmentierten nationalen Linken zu tun. Die Democratic Socialists of America (DSA), die bei weitem größte linke Gruppe (mit rund 60.000 Mitgliedern), ähnelt eher einem Bündnis als einer geschlossenen, nationalen Organisation. Sie besteht aus sehr unterschiedlichen Fraktionen und verfolgt eine uneinheitliche Strategie. Die DSA und andere linke Kräfte versuchten, den Protestierenden in verschiedenem Maße Unterstützung zu bieten, sowohl in politischer als auch in organisatorischer Hinsicht. Und selbstverständlich gingen die Mitglieder der unterschiedlichen linken Organisationen auch in großen Zahlen auf die Straßen. Aber bis jetzt gibt es nicht die eine Organisation, die behaupten könnte, die Bewegung anzuführen.

Falls der Zusammenhalt linker und progressiver Kräfte durch die Proteste nicht gestärkt wird, besteht die Gefahr, dass die politische Rechte den schließlichen Niedergang der Bewegung als Chance zum Gegenangriff nutzt. Eine Analogie dazu wären die Nachwirkungen der Arbeiteraufstände 1919 in Italien, auf die der Faschismus folgte.

Neben einer breiten vereinigten Front mit dem Ziel, Donald Trumps Wahlsieg im November zu verhindern, sind daher zwei Antwortstrategien dringend notwendig: Erstens brauchen wir eine starke Antirepressionskoalition, die sich in der momentanen Situation jeder weiteren Diskussion über Militäreinsätze entgegenstellt; die die Entmilitarisierung und Umstrukturierung der Polizei fordert; die Gerechtigkeit für die Opfer von Lynchmorden (durch Polizei oder durch andere) verlangt; und die sich gegen die Austeritätspolitik auflehnt. So eine Koalition muss von neuen sowie alten Organisationen aufgebaut werden, von den gerade neu entstehenden und den schon länger bestehenden Kräften, die ihre Forderungen nach sofortigen Veränderungen gemeinsam gegenüber dem Staat geltend machen. Der Kampf gegen Austerität ist dabei keine Nebensache – denn Austerität hat sich zunehmend zur republikanischen Antwort auf den wirtschaftlichen Zusammenbruch entwickelt und ist eine weitere Ursache für die Wut und den Frust, die die Menschen auf die Straßen treiben. Wir müssen mit der Austeritätspolitik brechen, um vorwärtszukommen.

Zweitens muss die bewusste, sozialistische Linke zu Stärke und Geschlossenheit finden. Die Proteste nach Floyds Tod haben gezeigt, dass viele Menschen aus unserer potenziellen Basis auch Teil von Etwas sind, das man eine linke, radikale Massenbewegung nennen kann. Zwar sind diese Leute größtenteils nicht ideologisch motiviert, aber sie wollen grundlegende Veränderungen des Systems. Ob sie diese grundlegenden Veränderungen sofort erwarten, ist zweitrangig gegenüber ihrer Wut und Ungeduld mit gemäßigter demokratischer Politik und Rhetorik, der zufolge wir nur Babyschritte in Richtung Gerechtigkeit machen können.

In Anbetracht dieser Basis für eine linke Massenbewegung muss die organisierte, aber auch fragmentierte sozialistische Linke Wege und Mittel finden, ihre Unstimmigkeiten zu überwinden und zusammenzufinden. Nur so können wir Einfluss nehmen auf die Gründung einer Antirepressionskoalition oder anderer solcher Initiativen. Die Herausforderungen, denen wir in einer Situation wie dieser begegnen, sind so gewaltig, dass sie von der sozialistischen Linken einen beispiellosen Grad an Organisation erfordern, obwohl es alles andere als klar ist, ob die sozialistische Linke auch bereit ist, diesen Weg einzuschlagen.

Die Antworten auf diese Fragen sind nicht dem Schicksal überlassen, sondern hängen davon ab, welche Handlungsoptionen die sozialistische Linke ergreift oder auch meidet.