Nachricht | Palästina / Jordanien - Westasien im Fokus Annexion, Besatzung, Corona

Historische Herausforderungen für die palästinensische Gesellschaft und ihre politischen Vertretungen

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Autorin

Helga Baumgarten,

Jericho, 22. Juni 2020: Kundgebung der Palästinensischen Autonomiebehörde gegen die Annexionspläne der israelischen Regierung.
Eine erste große Versammlung gegen die Annexion, mit einer Direktübertragung im palästinensischen Fernsehen, wurde von der PA am 22. Juni in Jericho organisiert. An der Großdemonstration nahm praktisch die gesamte diplomatische Vertretung bei der PA teil – auch das deutsche Vertretungsbüro hatte einen Diplomaten geschickt –, ein Novum in der palästinensischen Politik seit 1993. Jericho, 22. Juni 2020: Kundgebung der Palästinensischen Autonomiebehörde gegen die Annexionspläne der israelischen Regierung., picture alliance / REUTERS | Mohamad Torokman

Monatelang blickte die ganze Welt auf Israel und auf das magische Datum des 1. Juli 2020. Genau dann wollte der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu die in Donald Trumps sogenannten Jahrhundert-Plan vorgesehene Annexion großer Teile der besetzten Westbank beginnen. Das Datum verstrich und nichts passierte: Ein Anti-Klimax, der so gar nicht zum israelischen Premier passt. Oder ist diese Obsession mit Blick auf den 1. Juli, die Netanjahu monatelang geschürt hatte, die falsche Perspektive? Schließlich hat sich seit 1967 ein Besatzungsregime etabliert, das zum Dauerzustand wurde, und eine nur als kolonialistisch zu verstehende Siedlerbewegung entstand, die kontinuierlich expandierte und palästinensisches Land – legal, halblegal oder illegal – zu ihrem Eigentum machte.  

Die Politologin und Historikerin Helga Baumgarten unterrichtet seit vielen Jahren an der palästinensischen Universität Birzeit. Ihre Publikationen thematisieren den Nahostkonflikt, die palästinensische Nationalbewegung, den politischen Islam und die Problematik von Transformationen in der Arabischen Region.

Zumindest aber erreichte Netanjahu, dass die Palästinensische Administration (PA) in Ramallah seit Wochen und trotz der Corona-Pandemie gebannt auf den 1. Juli geschaut hat. Und zum ersten Mal in der Geschichte der in den 1990er Jahren geschlossenen Osloer Verträge zwischen Israel und der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) reagierte die palästinensische Regierung proaktiv auf israelische politische Pläne. Angesichts der vorgesehenen Annexion des gesamten Jordantales, mit Ausnahme von Jericho, und großer Teile der Westbank fasste die PA den folgenschweren Entschluss, die gesamten Osloer Verträge aufzukündigen. Selbst die für Israel relevante «Sicherheitskooperation» wurde gestoppt. Wird die PA diesen Beschluss aufrechterhalten können oder wird Israel eine Zurücknahme dieser Entscheidung durchsetzen? Oder ist dies als massive Drohung an Netanjahu zu verstehen, damit er von seinen Annexionsplänen, auch in der Zukunft, Abstand nimmt?

In der Zwischenzeit unternahm die palästinensische Führung fieberhaft Aktivitäten auf der Ebene der internationalen Politik und Diplomatie, da sie auf internationales Eingreifen gegen die israelische Politik setzte. Parallel dazu versuchte sie unter Führung von Fatah, der Partei mit einer starken Dominanz und Mehrheit in der PA, die palästinensische Bevölkerung in der Westbank zu mobilisieren. Der Schwerpunkt lag dabei im Jordantal, das zuoberst auf der Liste des zu annektierenden Landes steht. Auch nach dem Verstreichen des «Termins» setzt die palästinensische Regierung in Ramallah diese zweigleisige Politik fort.

Hintergründe: Osloer Verträge statt Zwei-Staaten-Lösung

1988 beschloss der palästinensische Nationalrat (PNC), das palästinensische Parlament in der Diaspora, einen palästinensischen Staat in den 1967 von Israel besetzten Gebieten anzustreben. Nur wenige Jahre später, nach der ersten Intifada, dem Aufstand der palästinensischen Bevölkerung gegen die Besatzung, ließ sich die PLO 1993 auf einen  innerpalästinensisch umstrittenen Kompromiss mit der damaligen israelischen Regierung unter Yitzhak Rabin ein. Die PLO erkannte den Staat Israel an, aber Israel erkannte die PLO lediglich als alleinige Vertretung der Palästinenser*innen an, ohne territorialen Bezug. Konkret wurde vereinbart, dass in einem Prozess über fünf Jahre eine palästinensische Administration aufgebaut würde, während die israelische Armee sukzessive Rückzugsbewegungen aus den besetzten Gebieten machen wollte. Alle strittigen Punkte wie der Umgang mit Ost-Jerusalem, den Siedlungen, den Grenzen sowie den palästinensischen Flüchtlingen wurden aufgeschoben. Beschlüsse zur Errichtung eines palästinensischen Staates sucht man in diesen Verträgen vergeblich und bis heute stehen 61 Prozent der Westbank, mit einem expandierenden Netz von Siedlungen, unter israelischer Herrschaft, nur 18 Prozent werden von der PA kontrolliert, während 21 Prozent unter geteilter Administration sind. Zwar ist Palästina inzwischen bei den Vereinten Nationen als Staat aufgenommen und 138 Staaten, darunter Schweden als erster EU-Mitgliedsstaat, haben Palästina anerkannt – am Status quo vor Ort hat das nicht das Geringste geändert.

Fatah, die mit Abstand größte palästinensische politische Gruppierung und Partei, zeichnet sich für die Oslo-Verträge verantwortlich und kontrolliert seit ihrer Entstehung die PA in Ramallah. Hamas, die zweitgrößte palästinensische Partei, hat «Oslo», wie die Verträge und der ganze jahrelange Prozess sowie die daraus hervorgegangenen Strukturen vor Ort schlicht genannt werden, von Anfang an entschieden abgelehnt. Nach dem Wahlerfolg der Hamas bei den Parlamentswahlen im Jahr 2006 und als Folge der Nichtbereitschaft von Fatah, die politische Kontrolle an Hamas abzugeben, kam es zu einem massiven Konflikt zwischen beiden Akteuren und zur geographischen Trennung: Hamas kontrolliert seitdem den Gazastreifen, Fatah die Westbank. Die tatsächliche Herrschaft über beide Gebiete liegt allerdings – direkt oder indirekt – weiterhin in israelischer Hand.

Annäherung von Fatah und Hamas

Erst die Sorge um eine bevorstehende Annexion und das endgültige Ende auch nur der Vorstellung einer Zwei-Staaten-Lösung hat Anfang Juli völlig überraschend zu einem neuen, vertieften Versuch einer Annäherung zwischen Fatah und Hamas geführt. Ob diese Bemühungen allerdings von Dauer und erfolgreich sein werden, bleibt abzuwarten, es ist schließlich bei Weitem nicht der erste Versuch. Auf welche politische Strategie werden sich die beiden historischen Gegenspieler einigen, wenn sie sich denn einigen können? Haben sie überhaupt eine Alternative? All dies wird sich erst in den kommenden Wochen und Monaten abzeichnen.

Kurs gegen Annexion

Vorerst halten sowohl Fatah als auch Hamas am bisherigen Kurs gegen die Annexion fest: Sie intensivieren ihre Bemühungen auf der Ebene der internationalen Politik, wobei die PA und Fatah vor allem die Arabische Liga und die Staaten im Norden des Internationalen Systems versuchen zu aktivieren, während Hamas Verbindungen zur Türkei, zu Katar und zum Iran intensiviert. Zudem versuchen sie die Bevölkerung in den Palästinensischen Gebieten zu mobilisieren, und zwar in Form von Demonstrationen und Versammlungen, sowohl in Gaza als auch in der Westbank. In letzterer gibt es allerdings seit dem 3. Juli wieder einen flächendeckenden Lockdown, um die massiv in die Höhe geschnellten Zahlen von Corona-Fällen wieder unter Kontrolle zu bekommen. Eine erste große Versammlung gegen die Annexion, mit einer Direktübertragung im palästinensischen Fernsehen, wurde von der PA am 22. Juni in Jericho organisiert. An der Großdemonstration nahm praktisch die gesamte diplomatische Vertretung bei der PA teil – auch das deutsche Vertretungsbüro hatte einen Diplomaten geschickt –, sicher ein absolutes Novum in der palästinensischen Politik seit 1993. Auf der Rednerliste stand an erster Stelle der UN-Vertreter in Jerusalem, gefolgt von einem Vertreter der EU sowie von den diplomatischen Vertretungen Russlands, Chinas, Japans, Jordaniens und der palästinensischen Gesellschaft in Israel. Dabei bleibt natürlich die Frage, ob diese Unterstützung praktische Folgen zeigen wird und Israel zum Verzicht auf die Annexion bringen kann. Oder anders formuliert, bleibt es bei Worten, denen keine Taten folgen?

Praktische Auswirkungen einer möglichen Annexion

Für die palästinensische Gesellschaft in der Westbank verändert sich, auch bei einer möglichen zukünftigen Annexion, in welchem Umfang auch immer, zunächst einmal nichts. Die Siedlungen werden, wie schon seit Jahren, weiter expandieren und palästinensisches Land «stehlen». Die Siedler*innen werden nach wie vor, und im Prinzip ungehindert von der israelischen Armee, Tag für Tag Palästinenser*innen attackieren, töten, ihren Besitz zerstören und ihnen das Leben zur Hölle machen. Aus diesem einfachen Grund gab es bis dato, mit Ausnahme der besagten Großveranstaltung in Jericho, auch keine größeren spontanen Demonstrationen der palästinensischen Zivilgesellschaft, der «palästinensischen Straße» oder gar einen großflächigen Gewaltausbruch gegen Siedler*innen und Besatzung. Geändert hat sich in den letzten Wochen jedoch die Unverfrorenheit der Siedler*innen, meist geduldet von der israelischen Armee, bei der Zerstörung von palästinensischem Eigentum, Besetzung palästinensischen Landes, Übergriffen auf die dort lebenden Menschen. Das trifft sowohl auf die von den Annexionsplänen direkt betroffene Westbank als auch auf Ost-Jerusalem zu.

Langfristige politische Folgen der Annexion

Eine Annexion, wann immer sie umgesetzt wird, würde das endgültige Ende der Zwei-Staaten-Lösung signalisieren, der Lösung, die von der PA, von einer klaren Mehrheit in der palästinensischen Gesellschaft in der Westbank, seit 2006 auch von der Hamas und der Gesellschaft im Gazastreifen, und nicht zuletzt von der internationalen Gemeinschaft, allen voran der EU, als einzige Lösung des sogenannten israelisch-palästinensischen Konfliktes betrachtet wird.

Für die Palästinenser*innen, ob in der Westbank, in Ost-Jerusalem oder im Gazastreifen, geht es zuerst und vor allem um das Ende der Besatzung, die die Palästinenser*innen nun schon seit 53 Jahren unterdrückt hält und ihrer Freiheit beraubt. Und es geht, oft übersehen, um das Ende der israelischen Siedlungspolitik. Daran gekoppelt ist die klare Absicht, endlich einen unabhängigen Staat Palästina aufbauen zu können, der als vollwertiges Mitglied in die Vereinten Nationen aufgenommen wird.

Für die EU geht es dagegen eher um eine friedliche Beendigung dessen, was sie als israelisch-palästinensischen Konflikt verstehen. Die Zwei-Staaten-Lösung wird als bester Schutz Israels betrachtet und vor allem aus der Perspektive Israels gesehen, die Situation der Palästinenser*innen spielt dabei eine weitgehend untergeordnete Rolle. Der Status quo kann, auf diesem Hintergrund, schlicht beibehalten werden.

Internationale Reaktionen auf die Annexion

Auch ohne erste Schritte in Richtung Annexion seitens der Regierung Netanjahu wird entscheidend sein, welche Reaktionen von außen kommen. Jordanien unter König Abdallah hat inzwischen eine zentrale Rolle übernommen mit seiner Kontaktaufnahme zum amerikanischen Kongress. Er hat Israel unmissverständlich klargemacht, dass Jordanien eine Annexion absolut ablehnt. Inzwischen haben auch die Demokrat*innen im Kongress, im Unterschied zu einer Mehrheit der Republikaner*innen, ihre Ablehnung der Annexion deutlich formuliert. Auch die EU signalisiert ein deutliches Nein, wobei unklar ist, ob dies von konkreten Maßnahmen gegen Israel untermauert wird.

Mögliche Reaktionen in der Westbank

Steht ein weiterer Aufstand der Palästinenser*innen, eine dritte Intifada bevor? Die PA, und an erster Stelle Premierminister Mohammad Shtayyeh, setzen derzeit auf die Proklamation der vollständigen Unabhängigkeit der palästinensischen Gebiete. Ob dies vor allem als Drohgebärde gegen Israels Annexions-Pläne zu verstehen ist und was daraus tatsächlich folgen wird, ist offen. Die entscheidende Frage heute ist, welchen Kurs die PA und Fatah gemeinsam mit der Hamas sowie mit allen palästinensischen politischen Organisationen, innerhalb und außerhalb der PLO, nach Abschluss ihrer Einigungsgespräche, die ja noch in vollem Gang sind, einschlagen werden.

Eine Minderheit in der palästinensischen Gesellschaft, sowohl in der Westbank, in der Diaspora, aber auch unter den Palästinenser*innen in Israel, argumentiert in eine völlig andere Richtung. Ihre politische Perspektive ist nicht die Zwei-Staaten-Lösung, diese betrachten sie schon seit Jahren als Chimäre, sondern eine Ein-Staaten-Lösung. In diesem Lösungsmodell würden jüdische Israelis und Palästinenser*innen in einem Staat auf der Basis vollständiger Gleichheit zusammenleben. Vertreter*innen dieses Ansatzes rechnen dabei mit massiver Unterstützung aus der internationalen Gemeinschaft, nicht zuletzt auch von jüdischen Organisationen in den USA und in Europa, wo die Debatte über die Ein-Staatenlösung – wie derzeit auch in Israel – breit und kontrovers geführt wird.   

Wie weiter?

Entscheidend wird, wie immer in der Vergangenheit, die Politik Israels und Netanjahus sein. Ist Netanjahu bereit, die Annexion rücksichtslos durchzusetzen? Oder wird er alles beim Alten lassen, also bei einer Situation, in der Israel ungehindert seinen Siedlungskurs fortsetzen kann – mit oder ohne palästinensische Kooperation aus Ramallah? All dies muss auf dem Hintergrund der neuen Corona-Welle sowohl in Israel als auch in der Westbank gesehen werden. Sie könnte Netanjahu eine politische Hintertür öffnen, um seine Annexionsabsichten zunächst einmal auf absehbare Zeit zu verschieben. Dies führt abschließend zu der zentralen Frage, ob nämlich die internationale Gemeinschaft, die EU, und nicht zuletzt auch Deutschland endlich einsehen, dass Israel ohne massiven internationalen Druck nichts an seiner Besatzungspolitik ändern wird? Die internationalen Akteure werden sich entscheiden müssen: Geht es ihnen wirklich um die Aufrechterhaltung internationalen Rechts und damit auch um die Rechte der von der Besatzung unterdrückten Palästinenser*innen?