Nachricht | Wirtschafts- / Sozialpolitik - Partizipation / Bürgerrechte - Stadt / Kommune / Region - Wohnen «Besser als jede Statistik ist Prävention»

Obdachlose sind Teil der Stadtgesellschaft, sie brauchen unsere Solidarität. Ein Gespräch mit Elke Breitenbach.

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Elke Breitenbach,

Elke Breitenbach informiert sich über den Einsatz des Duschmobils für wohnungslose Frauen in Berlin
Elke Breitenbach informiert sich über den Einsatz des «Duschmobils» für wohnungslose Frauen, welches seit September 2019 in Berlin unterwegs ist. Die Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales fördert das Duschmobil mit jährlich 125.000 Euro. Foto:  SenIAS

Deutschlandweit haben sich die Bedingungen für Wohnungslose durch die Corona-Pandemie drastisch verschärft. Verordnete Kontaktbeschränkungen und Abstandsregeln führten zu prekären Situationen, da die Wohnungen von Freunden und Bekannten als vorübergehende Bleibe wegfielen. In Berlin hatte sich der Senat bereits vor einem Jahr in «Leitlinien der Wohnungsnotfallhilfe und Wohnungslosenpolitik» dazu verpflichtet, die Bekämpfung der Wohnungslosigkeit zu verstärken. «Davon haben wir jetzt in der Corona-Pandemie profitiert», schätzt die Berliner Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales Elke Breitenbach heute ein. Im Interview spricht sie über die Situation, erste Erfolge und anhaltende Probleme.
 

Wohnungslose Menschen sind im Stadtbild nicht präsent. Dennoch ist Wohnungslosigkeit ein seit Jahren wachsendes Problem. Wie schätzt Du die Lage in Berlin ein?

Elke Breitenbach: Jeder Mensch, der Anspruch auf soziale Leistungen hat, hat das Recht auf Unterbringung. Zuständig dafür sind die Kommunen, in Berlin die Bezirke. Wir haben in Berlin im Jahr 2019 rund 34.000 wohnungslose Menschen untergebracht – in Obdachlosenheimen, Übergangsheimen oder anderen Unterkünften. Die Gründe für Wohnungslosigkeit sind so vielschichtig wie die betroffenen Personengruppen. War es früher vor allem der weiße Mann im mittleren Alter, sind es heute genauso Frauen, ältere Menschen, Familien mit Kindern, Pflegebedürftige. Im Stadtbild sichtbar sind Obdachlose. Viele finden nicht den Weg zu den Hilfestrukturen oder haben keinen Anspruch, wie beispielsweise Menschen aus Ländern der Europäischen Union. Sie nehmen ihr Recht auf Freizügigkeit wahr, kommen nach Berlin und scheitern bei der Arbeitssuche. Irgendwann ist das Geld alle und sie leben auf der Straße, weil sie keinen Anspruch auf soziale Leistungen haben. Hier fehlen europa- bzw. bundesweite Regelungen zur Unterstützung.

Während viele Städte versuchen, das Problem der Obdachlosigkeit klein zu reden oder zu ignorieren, hat sich Berlin mit den Leitlinien ambitionierte Ziele gestellt. Welche Intention wurde damit verfolgt?

Wir versuchen das System zu ändern. Denn wir haben die Erfahrung gemacht, dass es eine Vielzahl von Hilfsangeboten gibt, diese aber nicht dort ankommen, wo sie gebraucht werden. Deshalb haben wir uns mit allen Akteuren zusammengesetzt, die spezifischen Problemstellungen wie Gesundheitsversorgung, Straßenkinder, Bürger*innen aus der EU etc. erörtert und dann in Arbeitsgruppen Aufgaben und Lösungsansätze diskutiert. Daraus sind die Leitlinien entstanden. Jetzt kommt es darauf an, sie umzusetzen. Die Corona-Pandemie hat uns dabei vor neue Herausforderungen gestellt. Beispielsweise was die bisherige Unterbringung in Zweibettzimmern betrifft. Die Forderung nach einer Öffnung von Hotels, Pensionen und Ferienwohnungen für Obdachlose allein hilft uns nicht. Es bedarf weiterer Unterstützungsangebote.

In Kürze: Leitlinien der Wohnungslosenpolitik

Neben der Fokussierung auf die Ziele in der Wohnungslosenpolitik liegt der Schwerpunkt der Leitlinien auf den Maßnahmen zur Bekämpfung von Wohnungslosigkeit.

Zu den wichtigsten Maßnahmen gehören:

  • Schaffung von berlinweiten Vorgaben/Qualitätsmanagement für den Prozess der Übernahme von Mietschulden, einschließlich eines Controllings
  • Umsetzung eines bezirksübergreifenden Fachstellenkonzeptes der Sozialen Wohnhilfen
  • Einführung einer Berliner Wohnungsnotfallstatistik, inklusive der Durchführung einer Zählung von auf der Straße lebenden Menschen
  • Erhöhung des Bestands an Trägerwohnungen
  • Ganzjährige Planung und Koordination der Kältehilfe, u.a. durch die Koordinierungsstelle
  • Gewährleistung einer bedarfsgerechten und qualitätsgesicherten Unterbringung im Rahmen einer gesamtstädtischen Steuerung
  • Evaluation und Verstetigung des modellhaften Angebots einer „Krankenwohnung“ für erkrankte Wohnungslose
  • Niedrigschwellige medizinische und zahnmedizinische Versorgung weiterentwickeln und leichterer Zugang von wohnungslosen Menschen zum Hilfesystem
  • Ausbau der bestehenden niedrigschwelligen Hilfen um weitere Notunterkünfte insbesondere für Frauen sowie Notunterkünfte für Familien mit Kindern
  • Schaffung besonderer Wohnangebote für junge wohnungslose Menschen

Mit der «Nacht der Solidarität» hat Berlin erstmals versucht, sich einen zahlenmäßigen Überblick zu verschaffen und gleichzeitig den Hilfebedarf zu ermitteln. Ist das gelungen?

Wir haben ein Zeichen gesetzt: Obdachlose sind Teil der Stadtgesellschaft, wir sind mit ihnen solidarisch. Deshalb haben wir in Anlehnung an eine ähnliche Aktion in unserer Partnerstadt Paris diesen Namen gewählt. Unser Ziel war es, Hotspots der Obdachlosigkeit zu finden und zu prüfen, ob wir die richtigen Hilfeangebote an der richtigen Stelle anbieten. Es haben sich mehr ehrenamtliche Helfer gemeldet, als wir einsetzen konnten. Insgesamt wurden knapp 2000 Obdachlose gezählt. Ich war am Bahnhof Zoo und habe mit einem Mann gesprochen, der seit über 30 Jahren auf der Straße lebt. Die Erkenntnisse der Zählung helfen uns, ein neues Verständnis zu entwickeln für einen dauerhaften, solidarischen Umgang mit den Menschen auf der Straße und ein Verständnis für ihre Bedürfnisse.

Wie geht es jetzt weiter? Gibt es im nächsten Jahr auch eine «Nacht der Solidarität»?

Viele Obdachlose sind verunsichert, sie haben oft keine guten Erfahrungen mit staatlichen Stellen gemacht. Ein Mindestmaß an Vertrauen ist notwendig, sich zählen oder befragen zu lassen und Hilfe anzunehmen. Eine Momentaufnahme reicht nicht aus. Unsere Aktion fand im Winter statt, wir haben beispielsweise in den Einrichtungen der Kältehilfe gezählt. Die Befragung war freiwillig.

2021 bereiten wir die «Nacht der Solidarität» für das Frühjahr vor.

Die Corona-Pandemie hat die Situation der Obdachlosen überall verschärft. Wie haben sie reagiert?

Wohnungslosen Menschen zu sagen, sie sollen zu Hause bleiben, klingt wie ein Hohn. Einerseits sind sie dem Ansteckungsrisiko komplett ausgesetzt, andererseits wurde für sie mit der Pandemie die Situation noch prekärer. Für Obdachlose haben wir die Kältehilfe verlängert und für mehr als 400 von ihnen neue Notunterkünfte geschaffen, zum Beispiel in einer Jugendherberge – und das für 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Wir haben unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Wer ein Dach über dem Kopf hat, ist nicht automatisch für Beratungs- und Unterstützungsangebote offen. Viele können sich ein anderes Leben als auf der Straße nicht mehr vorstellen. Hinzu kam, dass viele Beschäftigte flächendeckend im Homeoffice gearbeitet haben. Das betraf auch die Beschäftigten der sozialen Wohnungshilfe in den Bezirken, Sozialarbeiter*innen, Ehrenamtliche. Wir werden die 24/7-Angebote jetzt evaluieren und über neue Möglichkeiten nachdenken. Es gibt die Idee der «Tiny Houses» für Obdachlose, für deren Umsetzung man geeignete Flächen braucht. Denn eine Zimmerbelegung mit zwei und mehr Personen ist unter Pandemiebedingungen nicht möglich.

Das «Housing First» Konzept wird ja seit fast zwei Jahren in Berlin praktiziert. Wie fällt die aktuelle Bilanz aus und wie hat das Konzept unter Pandemiebedingungen gewirkt?

Mit unserem drei Jahre dauernden Modellprojekt «Housing First Berlin» stellen wir wohnungslosen Menschen Wohnraum zur Verfügung. Träger sind die Neue Chance gGmbH und der Sozialdienst katholischer Frauen. Viele waren skeptisch ob des angespannten Berliner Wohnungsmarktes. Doch die städtischen Wohnungsgesellschaften und die Deutsche Wohnen stellten Wohnungen zur Verfügung. Die Idee dahinter: Wir vermitteln Menschen in eigenen Wohnraum und im Gegenzug lassen sie sich beraten und erhalten ein flexibles Unterstützungsangebot. Ziel ist es, dass sie über Transferleistungen in der Lage sind, die Miete aufzubringen. So bekommen sie die Chance, sich ein anderes Leben aufzubauen. Ende Juni hatten wir 61 Personen erfolgreich vermittelt. In der Pandemie haben wir von den Erfahrungen natürlich profitiert.

Ein anderes Angebot sind «Trägerwohnungen». Wie hat sich dieses entwickelt?

Der Bedarf ist auch hier größter als das Angebot. Es gibt lange Wartelisten. Rund 60 Menschen, etwa die Hälfte davon Frauen, nutzen derzeit dieses Angebot. Im Grunde handelt es sich um eine Form des betreuten Wohnens. Und darin liegt das Problem. Bisher wurden Trägerwohnungen wie Gewerberäume behandelt mit den entsprechenden Kosten. Viele gibt es seit Jahrzehnten und da gilt auch hier: je größer die Wohnungsnot, desto höher die Miete. Für die Träger ein echtes Problem. Das versuchen wir zu ändern. Es ist aber schwer, diese Räume in Wohnraum zu umzuwandeln oder neue Mietwohnungen zu finden. Aber mit Wohnungen allein ist es nicht getan, wir brauchen auch mehr Sozialarbeiter*innen für Begleitung und Beratung.

Wie ist die Rückendeckung aus dem Senat für die Projekte?

Rot-Rot-Grün hat die Mittel für Wohnungslose enorm aufgestockt. Das eröffnet neue Möglichkeiten, ändert aber nichts am strukturellen Problem der Mietenentwicklung. Wir brauchen ausreichend bezahlbaren Wohnraum in der Stadt. Und wenn jemand aufgrund von Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Rente die Miete nicht mehr bezahlen kann, müssen die Hilfsangebote greifen. Letztlich kann auch keine Senatsverwaltung anweisen, das geschützte Wohnsegment auszubauen. Wir sind auch hier auf das Entgegenkommen der Vermieter angewiesen.

Gibt es spezielle Maßnahmen für von Wohnungs- und Obdachlosigkeit bedrohte Geflüchtete?

Viele Studien haben eine strukturelle Diskriminierung von Geflüchteten am Wohnungsmarkt nachgewiesen. Vor allem sogenannte statusgewandelte Geflüchtete haben große Probleme bei der Wohnungssuche. Zuständig für ihre Unterbringung sind die Bezirke. Derzeit einziger Ausweg ist das Anmieten immer neuer die Unterkünfte wie Pensionen oder Hostel, um Wohnungslosigkeit zu verhindern. Letztendlich müssten wir immer mehr Unterkünfte bauen, um genügend Plätze vorzuhalten. Besser wäre jedoch, es gelingt eine Unterbringung in Wohnungen. 

Berlin ist deutschlandweit Vorreiter für eine progressive Wohnungs(losen)politik. Wie ist das Interesse anderer Großstädte bzw. Bundesländer? Welche Rolle spielt die Bundesregierung?

Es gibt durchaus Interesse. Beispielsweise haben Mitarbeiter*innen der Hamburger Verwaltung an der Vorbereitung und Durchführung der «Nacht der Solidarität» teilgenommen. Die Bundesregierung spielt im Zusammenhang mit einer bundesweiten Wohnungslosenstatistik eine positive Rolle. Aber besser als jede Statistik ist Prävention. Die Mietengesetzgebung, die dazu führt, dass Menschen beispielsweise schnell ihre Wohnung verlieren können, ist eine bundesgesetzliche Regelung. Die Arbeits- und Sozialgesetzgebung, die dazu führen, dass Menschen im Niedriglohnsektor, Arbeitslose und Hartz-IV-Bezieher die Miete nicht bezahlen können, ist ebenso eine bundesgesetzliche Regelung. Und auch die Rentengesetzgebung, in deren Folge vor allem Menschen mit sogenannten gebrochenen Erwerbsbiografien sich im Alter ihre Wohnung nicht mehr leisten können, ist ein Bundesgesetz. Hier ist ganz klar die Bundespolitik gefordert.

Gibt es internationalen Austausch mit anderen Städten?

Ja, mit unserer Partnerstadt Paris. Und wir schauen interessiert nach Finnland. Mit einem nationalen Programm zur Eindämmung der Langzeitwohnungslosigkeit ist es dort gelungen, die Zahl der Obdachlosen deutlich zu senken. Ein Kernstück war das «Housing First Konzept».  Insofern tauschen wir hier regelmäßig Erfahrungen aus.