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Von Konkurrenz und (Selbst-)Ausbeutung zu Zusammenarbeit und Fürsorge

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Maikongress der Kulturschaffenden
Maikongress der Kulturschaffenden

Stellen wir uns den Kapitalismus nach dem Coronavirus vor. Wird die Dystopie eines supereffektiven, optimierten globalen Arbeitslagers 24/7 Realität geworden sein? Wird sich die Prekarisierung der kreativen und der intellektuellen Arbeit weiter zuspitzen und den Grad der Vulnerabilität von Dienstleister*innen, wie Lieferkurieren oder Krankenpfleger*innen, an der Peripherie des globalen Arbeitsmarktes erreichen? Und wird sich jede*r kreative und geistige Arbeiter*in dem neuen, ultra-neoliberalen Modell der superintelligenten Maschinisierung und der totalen Kontrolle auf der Ebene der Netzinfrastruktur und algorithmischer Schnittstellen fügen müssen? Sollte es so kommen, wird es auch bei dieser transparenten, hypereffizienten Arbeitswelt eine graue Pufferzone der Unbestimmtheit geben wie in früheren Modellen, wo sie der Boheme, Hippies, Underground-Künstler*innen, anarchistischen Hausbesetzer*innen und Kunstaktivist*innen zukam? Oder werden diese überflüssigen Menschen, die nicht wettbewerbsfähig sind und denen es als Arbeiter*innen an Flexibilität und Multitasking fehlt, sozial degradiert und aussortiert – wenn nicht ins nackte Leben Geflüchteter oder Obdachloser, so ans Existenzminimum im Abhängigkeitsverhältnis zu anderen? Alleine schon diese Fragestellungen sind problematisch. Wir sind bereit, den Kapitalismus nach dem Coronavirus, nach dem Krieg, nach der Apokalypse zu imaginieren, aber wir sind nicht bereit, etwas nach dem Kapitalismus selbst zu imaginieren. Dieses bekannte Dilemma haben bereits der verstorbene Mark Fischer und der quicklebendige Slavoj Žižek dargelegt, doch das hat kein Umdenken ausgelöst, auch nicht bei der WHO. Werden die heutigen Turbulenzen und Weltuntergangsstimmung das Ende des Kapitalismus beschleunigen, wird das Coronavirus zum Commonvirus mutieren und die Menschheit damit in ein Coronazän befördern, wo kreative Zusammenarbeit [1] den Wettbewerb ersetzen wird und natürliche Empathie und soziale Anteilnahme Stumpfsinn und Megakonsum ablösen werden? Oder werden die globalen Konzerne aus der Zeit des Kapitalismus mit ihren vertikalen Strukturen den general intellect erneut privatisieren? Dieser Artikel beschränkt sich lediglich auf den Bereich der Kulturproduktion und die Kunstwelt, die hier einerseits als Versuchsfelder für neueste Formen der Ausbeutung und Körperkontrolle und andererseits auch als ein hypothetisches Feld für das Durchspielen verschiedener Varianten ontologischer Designs [2] betrachtet werden.

Roman Sergeevich Osminkin ist Kunst- und Lyriktheoretiker, Lyriker, Performance-Künstler und Kurator

Übersetzung: Gegensatz Translation Collective

In ihrem berühmten Artikel «Kunstpolitik: zeitgenössische Kunst und der Übergang zur Postdemokratie» bezeichnet Hito Steyerl zeitgenössische Kunstschaffende als Stoßarbeiter*innen der kreativen Tätigkeit – eine Metapher, die sich auf die Figur des hyperproduktiven Stachanow-Aktivisten aus der Stalinzeit bezieht, dessen Stoßarbeit der Inbegriff des «Arbeitsenthusiasmus: Schock, Attacke und Kampf» war. Die kreative Stoßarbeit in den zeitgenössischen Kulturfabriken verweist zudem auf die sinnliche Dimension des Schocks, da sie zu «affektiver Arbeit, mit einem Wahnsinnstempo ausgeführt, enthusiastisch, hyperaktiv und zutiefst beeinträchtigt» geworden ist. Steyerl greift zu diesem Vergleich weniger wegen der bestehenden Parallelen zwischen der kräftezehrenden Stachanow-Arbeit und der zum Burnout führenden Arbeit moderner «Brigaden kreativer Stoßarbeiter*innen, in die globale Zirkulationssphäre hineingeschleudert, die heute als die Welt der Kunst bekannt ist», sondern vor allem um zu zeigen, dass in beiden Fällen hinter der Stoßproduktion unbezahlte bzw. kostenlose Arbeit und eine zunehmend enthemmte Ausbeutung stehen. Das heißt, die kulturelle Produktion unter den Bedingungen des Semio-Kapitalismus ist zu einer Versuchsanordnung für die Erprobung neuer Formen einer noch flexibleren, effizienteren und produktiveren Arbeit geworden und die zeitgenössischen Kunstschaffenden zu einem globalen freiberuflichen Lumpenproletariat, zu Selbstunternehmer*innen und universellen Content-Lieferant*innen, die sich selbst unermüdlich auf einem schrumpfenden, überschwemmten Markt zu Dumpingpreisen feilbieten. Ein solches entterritorialisiertes und ideologisch abhängiges Subjekt soll laut Steyerl aus eigener Kraft die Schäden der «Katastrophengebiete des Stoßkapitalismus» beheben, während der Kapitalismus ununterbrochen weitere produziert, oder, um mit Naomi Klein zu sprechen, sich geradezu von Katastrophen ernährt [3].

In der Welt des Katastrophenkapitalismus trägt jede weitere Katastrophe dazu bei, den Ausnahmezustand zu normalisieren und sich immer weiter dem digitalen Panoptikum zu nähern. Dort gibt es Bedarf an zeitgenössischen Kunstschaffenden höchstens als visuelle Gestalter*innen oder Auftragshersteller*innen von anästhetischem Content, doch keinesfalls als kritische Rebell*innen und Träger*innen (anti-)utopischer Visionen. Das größte Problem ist aber, dass die Solidarität untereinander und die Durchsetzung der eigenen Arbeitsrechte im Bereich der Kulturproduktion im strukturellen Widerspruch zu der künstlerischen Praxis als solche stehen.

Laut Steyerl «stellen der Opportunismus und der Wettbewerb bei dieser Arbeitsform keine Abweichungen dar, sondern machen ihre Struktur aus», und deshalb «gibt es in der künstlerischen Arbeit keinen automatisch verfügbaren Weg zum Widerstand und zur Selbstorganisation». Die Kehrseite des schöpferischen Enthusiasmus und des Konkurrenzgeistes der kreativen «Stachanow-Aktivist*innen» sind Burnouts, Konfliktpotentiale und der Kampf um die beschränkten und in der sich immer weiter ausbreitenden Krise zunehmend schrumpfenden Ressourcen.

Doch in unserer Corona-geprägten Endzeit ruft gerade diese Erschöpfung der früheren Formen der Kritik und des Widerstandes, gepaart mit dem verschärften Gefühl «der Zukunftslosigkeit der Gegenwart» (Madina Tlostanowa), viele in eine Problemlage geratene Kulturproduzent*innen regelrecht zur Politisierung auf, sowohl hinsichtlich ihrer Arbeitsplätze, die durch die Arbeit im Online-Modus von Zuhause aus mit ihrem Wohnraum zusammenfallen, als auch hinsichtlich neuer politischer Visionen [4]. Da die Pandemie die bisherigen Funktionsweisen des Kunstbetriebs transformiert hat, wird nun der blinde Fleck der zeitgenössischen Kunst – ihre eigene Politik – endlich sichtbar. Trotz (oder dank?) der Regierungsvorschriften zur Selbstisolation und Vereinzelung spüren nun viele Kulturproduzent*innen die dringende Notwendigkeit, sich zu organisieren und einander näher zu kommen.

In einzelnen Fällen haben sich Kulturschaffende bereits auch früher schon selbst organisiert, um ihre Rechte zu verteidigen. Hier möchte ich zwei Beispiele hervorheben, die in Russland eine besondere Rolle gespielt haben. So wurde 2011 von einer internationalen Gruppe von Kunstschaffenden, Kurator*innen, Kunstwissenschaftler*innen und Intellektuellen die kollektive Plattform ArtLeaks gegründet. Als Reaktion auf Ausbeutung und offensichtliche Verletzungen der Arbeitsrechte von Kulturschaffenden dokumentiert ArtLeaks solche Verstöße und verschiedene Arten des Machtmissbrauchs durch kulturelle Institutionen. Die Plattform hat eine eigene Zeitung sowie eine Webseite und ist bis heute aktiv. Ein weiteres Projekt aus der Vergangenheit, das heute einen Anlass zur Erneuerung und Weiterentwicklung hätte, sind die Maikongresse der Kulturschaffenden, die 2010 in Nischni Nowgorod und 2011 in Moskau stattgefunden haben. Die Kongresse bezogen eine explizit linke Position und hinterließen neben einer Webseite mit Informationen zu den realisierten Veranstaltungen und theoretischen Beiträgen über künstlerische Arbeit den in vielerlei Hinsicht bis heute relevanten methodischen Leitfaden: «Arbeit von Kulturschaffenden: rechtliche Aspekte». Die Maikongresse scheiterten damals zwar daran, gewerkschaftliche Formen des Arbeitskampfes für die eigenen Rechte direkt auf die zeitgenössische Kunst zu übertragen, ihre größte Errungenschaft bestand aber darin, Künstler*innen in Russland, die bis dahin durch die romantische Schöpferrolle definiert wurden, vielleicht zum ersten Mal als Arbeiter*innen zu subjektivieren. Im Gegensatz zu den in der Industrie oder bei Konzernen Beschäftigten, haben Kulturschaffende und künstlerische Arbeit in der Regel keine klare Gegenpartei, an die sie gewerkschaftliche Forderungen stellen und keine Instanz, gegen die sie Widerstand leisten könnten. Deshalb ist jedes Bündnis von Kulturschaffenden mit dem Ziel, ihre Rechte zu verteidigen, von vorneherein situativ und temporär.

Ein besonderes Merkmal der wachsenden Solidarität und des Widerstands gegen die unhinterfragte Beschleunigung der Content-Produktion ist das radikale Umdenken der Grundlagen der Kunst und künstlerischer Praktiken sowie eine Beschäftigung mit Alternativen zum heutigen Kunstbetrieb, der sich in den Augen vieler Produzent*innen und Konsument*innen von Kunst diskreditiert hat. Kunstschaffende beschränken sich nicht nur darauf, vorhandene Institutionen zu kritisieren und ihre eigene Position als prekäre Arbeiter*innen zu reflektieren, sondern suchen auch nach Wegen und Formen der Zusammenarbeit, problematisieren die politische Ökonomie des Kapitalismus und verhandeln Fragen des Gemeinwohls. Auf der Agenda stehen nun sowohl Probleme der Beschäftigungsverhältnisse und der un- und unterbezahlten Arbeit als auch radikalere Forderungen nach einem bedingungslosen Grundeinkommen, nach öffentlichen Auftragsgarantien sowie nach einem Anteil am Staatshaushalt, womit auch die gesellschaftliche Legitimation und der soziale Beitrag der Kunst betont und Selbstachtung und Verantwortungsgefühl gestärkt werden sollen. Es gab allerdings in der jüngsten Zeit bereits vor der Pandemie erste Beispiele dafür, dass sich Kulturschaffende innerhalb größerer Kunstinstitutionen bzw. in der Filmindustrie vereinigt haben. So wurde im Oktober 2019 in Kiew die Gewerkschaft der Kunstvermittler*innen des PinchukArtCentre gegründet. Kunstvermittler*innen, die größte und prekärste Gruppe in der Organisationsstruktur des Kunstzentrums, vereinigten sich, um angemessenere Arbeitsbedingungen zu erreichen. Anastassija Dmitrijewskaja und Darja Getmanowa, die diesen Fall mehrere Monate lang studierten, bezeichnen ihn als «ein Paradebeispiel für eine erfolgreiche Medienkampagne, die den Protest sichtbar machte und eine starke Solidaritätswelle auslöste: Über den Konflikt schrieben solche Medien wie e-flux, artforum, KyivPost, im Namen der Warschauer Kunstinstitutionen sprach sich die polnische Gewerkschaftsorganisation ‹Arbeitsinitiative› für die Gewerkschaft aus, ebenso wie viele Kunstschaffende, sowohl aus der Ukraine als auch aus anderen Ländern» [5]. In der Filmindustrie fing die Diskussion noch früher an, und zwar mit dem Filmprojekt «Dau», das laut Kinokritikerin Marija Kuwschinowa solche Fragen ins Licht der Öffentlichkeit rückte wie die nach der Akzeptanz von unethischem Verhalten, nach der Zulässigkeit von nicht simulierter Gewalt, nach der Instrumentalisierung des menschlichen Körpers, nach dem Fehlen einer Konsenskultur und nach vielen weiteren Problemen. Damit wurden die gravierenden Unterschiede in der Filmproduktion in Europa oder den Vereinigten Staaten von Amerika und dem postsowjetischen Raum offengelegt. Gerade entstehen neue Perspektiven, eine neue Sprache, um zu artikulieren, dass angemessene Arbeitsbedingungen geschaffen werden müssen, dass Missbrauch und Ausbeutung verhindert werden sollen, dass Unterernährung, Krankheit oder Übermüdung nicht sein dürfen. Kuwschinowa unterstreicht, dass «es heute unmöglich geworden ist, das Genie eines Regisseurs zu genießen, wenn wir wissen, dass die Menschen am Set nicht bezahlt wurden oder die Arbeitsbedingungen schlecht waren. Kino wird von Menschen für Menschen gemacht, und es darf kein Experimentierraum auf Kosten anderer entstehen» [6].

Mitte März gründeten die Künstlerinnen und Forscherinnen Dascha Jurijtschuk und Nastja Dmitrijewskaja die medienaktivistische Vereinigung «Eiscafé». Sie haben ein kämpferisches Manifest im Namen von Arbeiter*innen «in der Wissensproduktion, in der körperlichen, emotionalen und affektiven Kunstarbeit, im Aktivismus und in der akademischen Welt» herausgebracht und betreiben einen Kanal für Aufklärungs- und Organisationsarbeit auf Telegram . Eine ihrer letzten Initiativen war die Diskussionstour «Vereinigungsmenge», bei der es um die Arbeit von selbständigen Kulturschaffenden und Bündnismöglichkeiten für die Verteidigung ihrer Rechte ging. Beteiligt waren die Organisator*innen der bereits erwähnten Mai-Kongresse Nikolaj Olejnikow und Jewgenija Abramowa, die internationale Plattform ArtLeaks, der LAFT Berlin und andere.

Bereits als in der affektiven Ökonomie erste Störungen auftraten und der Kultur- und Dienstleistungssektor absackte, meldeten sich Vertreter*innen der von der Pandemie besonders betroffenen darstellenden Künste zu Wort. Eine der ersten Initiativen warb unter dem Motto «Wir zählen Künstler*innen, damit ihr nicht jede Kopeke zählen müsst» für die Einführung des bedingungslosen Grundeinkommens für Kunstschaffende [7]. Die Initiator*innen erstellten für Selbstständige aus den darstellenden Künsten einen Fragebogen zur Erfassung der Art ihrer Tätigkeit. Zu dem Zeitpunkt, als dieser Artikel verfasst wurde [Ende Juni 2020], haben bereits 637 Personen diesen Fragebogen ausgefüllt, deren Berufe sich nicht allein auf den Bereich der darstellenden Kunst beschränken. Neben Tänzer*innen und Tanzmanager*innen, Choreograf*innen, Produzent*innen, Komponist*innen, Regisseur*innen, Schauspieler*innen und Performer*innen stehen auf der Liste auch Kurator*innen, Kritiker*innen, Digitalkünstler*innen, Programmierer*innen, Autor*innen, Dramatiker*innen, Filmemacher*innen usw. Einerseits ermöglicht es den Kreativen, durch eine derart breit angelegte Aktion aus dem Schatten zu treten, was alleine schon vor dem Hintergrund ihrer Unsichtbarkeit sowohl für den Kunstbetrieb als auch für den Staat von großer Bedeutung ist. Andererseits wird dadurch aber gleichzeitig das Erreichen eines der Ziele der Initiative erschwert, nämlich finanzielle Absicherungen in Form monatlicher Zuwendungen, die es den Kunstschaffenden erlauben würden, «selbst in der auftragslosen Zeit weiter Kunst zu machen». Alleine schon die Forderung von Kulturschaffenden nach Staatshilfen könnte als eine Viktimisierung der eigenen Berufsgruppe wahrgenommen werden, zumal die Pandemie den sozialen Darwinismus gegenüber noch schwächeren Gruppen der Gesellschaft entlarvt hat: Migrant*innen, Rentner*innen, alleinerziehenden Müttern, Menschen in psychiatrischen Einrichtungen und Strafgefangenen. Dennoch sieht die Mitinitiatorin und Choreografin Dina Chussein in dem von den Aktivist*innen vorgeschlagenen staatlichen Hilfsprogramm echte Impulse für die Kunstförderung, die sich auch auf andere berufliche und soziale Gruppen übertragen ließen.

Boris Groys postuliert, dass Künstler*innen traditionell nicht etwa damit beschäftigt seien, die Welt zu retten, sondern eher darin aufgehen würden, sie zu beweinen, zu beerdigen und sich mit ihrer Gestaltung nach dem Untergang zu beschäftigen. In Anlehnung daran ließe sich heute sagen, dass die Kunst gerade dabei ist, für sich überraschende Rettungsszenarien zu entdecken, vielleicht nicht für die ganze Welt, aber immerhin für einige ihrer instabilsten oder bedürftigsten Teile. Eine Reihe internationaler Online-Konferenzen, organisiert von einem unabhängigen internationalen Team, an dem auch die russischen Medienkünstler*innen Ildar Jakubow und Jelena Nikonole beteiligt waren, hieß entsprechend «Saving The World!». Zu den Zielen der Konferenz gehörte, «Vertreter*innen der Kultur- und Kreativwirtschaft, die ohne Unterstützung durch Staat oder Privatwirtschaft geblieben sind, zu helfen, neue Perspektiven und Lösungen für die gegebenen Umstände zu finden, sowie eine Plattform für die Vernetzung kreativer Köpfe zu bieten». Zwei dieser Online-Veranstaltungen, an denen führende Theoretiker*innen und Praktiker*innen aus den Bereichen Art & Science, Forschung und IT sowie Künstler*innen und Medienaktivist*innen teilgenommen haben, wurden jeweils über 100.000 Mal aufgerufen [8]. Eine der jüngsten Kunstinitiativen, Assembly [9], formulierte von vornherein weniger eng berufsspezifische, sondern ontologische Fragen: «Wie wird die Welt nach der Pandemie aussehen und welche Gemeinsamkeiten und Spaltungen werden bei der Aufarbeitung ihrer Folgen entstehen? Welche ethischen und ästhetischen Aufgaben stehen in diesem Zusammenhang vor der zeitgenössischen Kunst und Kultur?» Aktuell organisiert Assembly eine Diskussionsreihe unter dem Titel «Eine Landschaft im Wandel: die Wende zur Fürsorge und die neue Kollektivität», die über den YouTube-Kanal der Plattform syg.ma abrufbar ist. Im Herbst plant die Initiative, im St. Petersburger Stadtteil Petrograder Seite einen eigenen Raum zu eröffnen.

 
Um die Perspektive zu wechseln, weg von einem deskriptiven Monolog über Kulturereignisse und Projekte zum Schutz und Ausbau der Rechte von Kulturschaffenden bzw. allen Lebens, mit dem wir viel enger verknüpft sind, als es noch vor wenigen Monaten schien, sollen hier nun Vertreterinnen selbstorganisierter kreativer Plattformen und Projekte selbst zu Wort kommen.

Die folgenden Fragen beantworteten die Mitglieder der Medienaktivist*innen-Vereinigung «Eiscafé» Darja Jurijtschuk und Anastassija Dmitrijewskaja, die Koordinatorinnen des Kulturhauses «Rosa» Anna Awerjanowa und Natalja Rybalko sowie die Mitorganisatorin des «Studio 4.413» Marija Dmitrjewa:

1. Welche Auswirkungen hatte die Pandemie auf Sie (als Mensch bzw. biosozialer Körper) und auf Ihre Gemeinschaft, Vereinigung oder Plattform? Wie hat sich das Kollektiv gewandelt: Hat die Situation zu einer Distanzierung, zum Zerfall geführt oder umgekehrt zusammengeschweißt?

2. Welche neuen oder längst vergessenen Formen der Kreativität, der Kommunikation und der Selbstpräsentation betreibt nun ihre Gemeinschaft, Vereinigung oder Plattform: Kann der Wechsel ins Digitale stärkere, horizontale und globale Bündnisse ermöglichen, die nachhaltig sind? Entstehen dadurch mehr Möglichkeiten für die Selbstverwirklichung von unten, vergrößert oder verkleinert sich dadurch die Distanz zwischen den Menschen?

3. Wie sehen Sie die Zukunft Ihrer Gemeinschaft, Vereinigung oder Plattform für kulturelle Produktion nach dem Ende der Pandemie (wenn es denn eintreten sollte)? Beschreiben Sie Ihre Ängste und Sorgen, Ihre sozialen Vorstellungen und Träume.

 
Nastja Dmitrijewskaja und Dascha Jurijtschuk (Initiative «Eiscafé»):

Frage 1:

Nastja Dmitrijewskaja: Die ersten zwei Monate der Selbstisolation in Moskau waren schwierig und lehrreich zugleich. Bei mir sind mehrere Veranstaltungen ausgefallen, die es mir erlaubt hätten, die Miete für das Zimmer zu bezahlen und zumindest etwas Essen zu besorgen. Aber da ich den Lockdown zusammen mit einer Freundin verbracht habe, konnten wir die Kosten teilen und das Geld hat uns gerade so für Essen und Miete gereicht. Geplatzte Pläne, neue kleine Freuden, die Beschränkungen, die Gefahr, die soziale Isolation, die Suche nach Beschäftigungen, der Ernst der Lage – all das wirft dich auf die Wahrnehmung der Welt aus der Kindheit zurück. Wir haben unsere Initiative genau zu dem Zeitpunkt gegründet, als in Russland offiziell die ersten Krankheitsfälle vermeldet wurden. Dabei wollten wir bereits im Dezember einen Telegram-Kanal einrichten. Und so ist die gesamte Erfahrung, die wir mit dem Projekt «Eiscafé» haben, in die Pandemiezeit eingebettet. Das ist bemerkenswert, denn gerade zu dieser Zeit sind diverse Initiativen und Bündnisse von Kunstschaffenden für ihre Arbeitsrechte entstanden. Deshalb sind sie und ihre Entstehungsgeschichte im russischen Kontext zu einem Schlüsselthema unserer Aufklärungsarbeit geworden. Es ist wichtig zu wissen, was bereits passiert ist, um weiterzukommen. Was die interne Dynamik unserer Vereinigung angeht, so fingen wir an, sehr viel zu telefonieren und sehr viel zu planen. Wir schreiben auch viel zusammen bzw. lektorieren uns gegenseitig, das hilft auch sehr und lässt dich nicht lange allein Trübsal blasen oder prokrastinieren.

Dascha Jurijtschuk: Wir alle versuchen, irgendwie durchzuhalten und nicht zu verzweifeln, aber seien wir mal ehrlich – es ist furchtbar. Die letzten Monate waren Geldsorgen mein ständiger Begleiter. Das Theater und die Reisen, durch die ich mich größtenteils finanziert habe, erscheinen jetzt völlig irreal und phantomartig. Die meiste Zeit habe ich Angst darum, ob ich im nächsten Monat Essen und Miete bezahlen kann. Ich überlege mir, welche Jobs ich bei welchen Entwicklungsszenarien der Krise machen könnte. Es ist klar, dass es nicht nur mir so geht. Meine Kolleg*innen aus der freien Theaterszene, Performer*innen, Künstler*innen kommen wirklich kaum über die Runden und leben in ständiger Sorge.

Frage 2:

Nastja Dmitrijewskaja: Ich glaube, wir waren radikale Verfechterinnen der Ausgangsbeschränkungen, denn bei uns gab es keine illegalen Treffen, Workshops etc. Ich persönlich fand es toll, dass wir während der Ausgangssperre das „Fernsehen“ bekommen haben, wir verdient haben – ich meine damit in erster Linie die offene Vortragsreihe von syg.ma. Aber das ist eher ein Instrument zur Ausstrahlung und nicht für Kommunikation. Ich würde das gerne mit den Zoom-Vorträgen auch in Zukunft beibehalten. Das ist das Einzige, was ich aus Zoom behalten möchte.

Dascha Jurijtschuk: Zufälligerweise wohne ich seit dem Beginn der Pandemie zum ersten Mal allein, wenn mich nicht alles täuscht. Auch davor habe ich mich manchmal einsam gefühlt, und während der Ausgangssperre war es besonders schwierig für mich. Am Anfang war ich natürlich froh, Zeit für mich zu haben, aber ich muss gestehen, dass mir sehr schnell klar geworden ist, dass es mir ohne die sozialen Praktiken, die für mein Leben grundlegend sind, sehr, sehr schlecht geht. Im April war ich ziemlich deprimiert. Deshalb sind das «Eiscafé» und die Initiativen, die während der Pandemie entstanden sind, darunter zur Organisation einer gewerkschaftlichen Vereinigung und zur Durchführung von Workshops und Konferenzen sowie die Diskussionsreihe «Vereinigungsmenge» über Zoom, und mein nahezu täglicher Telefonaustausch mit Nastja eine große Hilfe für mich.

Frage 3:

Dascha Jurijtschuk: Ich hoffe, dass unser Zorn und unser Wunsch nach gegenseitiger Unterstützung nicht vor lauter Enttäuschung, Zynismus oder aus Ressourcenmangel erlöschen, und dass wir es schaffen, Lebensformen zu entwickeln, die es uns erlauben werden, nachts ruhig zu schlafen und nicht vor Angst zu vergehen. Ich hoffe, dass das nicht nur in der Gemeinschaft der Kunstschaffenden passiert – ich wünsche das allen, die ihre Jobs verloren haben, die unter der Last schlecht bezahlter oder unbezahlter Arbeit zusammenbrechen.

Ich möchte, dass diejenigen, die über Ressourcen verfügen, und seien diese auch noch so unbedeutend, aufmerksam und fürsorglich mit denen umgehen, die nichts mehr haben.

Nastja Dmitrijewskaja: Ja, bei diesem Wunsch kann ich jedes Wort unterschreiben. Wir werden weiterhin hinterfragen, wie und zu welchen Konditionen die Ressourcen in den Bereichen der künstlerischen und der intellektuellen Produktion verteilt werden. Und wir würden natürlich sehr gerne dazu beitragen, dass unsere Freund*innen und Kolleg*innen sich stärker vernetzen und mehr Einfluss bekommen.
 

Natalja Rybalko und Anna Awerjanowa (Kulturhaus «Rosa»):

Frage 1:

Natalja Rybalko: Während des Lockdowns konnte ich mich auf das Wichtigste konzentrieren, meine Gedanken und meinen Tagesablauf ordnen, zur Ruhe kommen. Die Räumlichkeiten vom Kulturhaus «Rosa» rückten in dieser Zeit in weite, geradezu unerreichbare Ferne, aber dafür sehne ich mich umso mehr danach. Ich bin froh, dass das Kulturhaus für seine Gäste sorgen und viele Veranstaltungen in Online-Formate umstellen konnte. Jetzt muss man Wege suchen, alle in den Offline-Modus zurückzuholen, hoffentlich ohne Einbußen.

Anna Awerjanowa: Die Selbstisolation, die radikale Erstarrung gehörten früher ebenso fest zu meiner Routine wie die regelmäßigen affektiven Ausbrüche daraus. Doch zu Beginn der Pandemie wurde dieses romantische Auf und Ab durch ein imaginäres Lineal mit immer kleineren Maßeinheiten, also künstlichen Ereignissen, gestört. Die Kunstarbeiter*innen spürten eine große Erleichterung, als sie aufhörten, ihre Körper im Rhythmus eines immer schneller werdenden Event-Managements hin und her zu werfen. Und jetzt hat sich das binäre Gatter verbogen, die Topologie von Innen und Außen, genauso wie die gewohnte Regressionszeit entmischen sich. Es wird immer schwerer, auf sich zu achten und loszulassen, Selbstfürsorge zu praktizieren und Grenzen zu überschreiten, und auch über neue Maschinen nachzudenken. Die Gemeinschaft hat die imaginäre Grenze des Ichs überwunden, indem sie sich durch die Neuerfindung der Freundschaft und mithilfe der neuen Web-Routine reintegriert hat. Nicht alle waren dieser Herausforderung gewachsen, aber die Erfahrung einer höfischen, poetischen Spannung hilft uns.

Frage 2:

Natalja Rybalko: Wir mussten alle Vorträge und Seminare ins Netz verlagern, auf die Plattform Zoom. Dieses Online-Format hat dazu geführt, dass wir jetzt auch das alte Offline-Format der Vorträge hinterfragen. Müssen wir zu den alten Offline-Vorträgen zurückkehren, oder ist es für alle einfacher, von Zuhause aus zuzuhören und an den Diskussionen teilzunehmen? Ich denke, dass jetzt jede*r Dozent*in und auch wir als Kurator*innen uns die Frage stellen müssen, was wir anbieten können, und welche Affekte wir berühren können, um Veranstaltungen im Offline-Format zu rechtfertigen. Wir haben versucht, die Isolation mithilfe von Pfänderspielen zu reflektieren: Wir haben uns gegenseitig im Lockdown Aufgaben gestellt, um dabei die Gegenstände um uns herum aufs Neue und anders zu erleben, Nähe zu erfahren oder die eigene Unruhe und Hilflosigkeit zu verbalisieren. Ich denke nicht, dass man hier davon sprechen kann, was besser oder schlechter ist. Es handelt sich um etwas anderes, und es erfordert eine andere Herangehensweise und Einordnung. Vielleicht wird das Online-Format uns helfen, physische Präsenz neu schätzen zu lernen, unser soziales Umfeld anders wahrzunehmen, vielleicht auch die Bedeutung unserer gegenseitigen persönlichen Grenzen zu überdenken.

Anna Awerjanowa: Wir haben alles dafür getan, damit die Arbeitsgruppen vom Kulturhaus «Rosa» ihre praktischen Lehrveranstaltungen über Zoom weiterführen, aber diese Mission ist gescheitert. Die Zoom-Quarantäne fiel mit dem Abschluss der kollektiven Arbeit der «Schule der partizipativen Kunst» zusammen, eines Labors für postsowjetische Studien. Dieses Format disziplinierte die Kommunikation und die Affekte und machte es möglich, Menschen zu hören, für die es schwierig war, ihre Position in einer anderen Situation zu äußern. Durch den neuen Modus wurde es schwieriger, taktisch auszuweichen oder in Anwesenheit abwesend zu sein. Für manche wurden diese Verhältnisse unerträglich. Jetzt steht uns die Phase der kollektiven künstlerischen Produktion bevor, die unser Exit aus dem Lockdown sein wird. Ich hoffe sehr, dass sich dieser Prozess im Kulturhaus «Rosa» offline umsetzen lässt. Es wurde mit innovativen, grenzüberschreitenden Events experimentiert, so etwa mit Online-Bällen. In unserer emotionalen Ausweglosigkeit haben wir sogar Zoom-Bomber*innen angelockt, indem wir den ungeschützten Veranstaltungs-Link im Netz geteilt haben. Ich bin dankbar für die Unterstützung, die wir uns gegenseitig geleistet haben, als wir über unsere aktuellen Erfahrungen gesprochen haben, um die Container-Funktion für die psychischen Belastungen unter unseren Genoss*innen gemeinsam zu übernehmen.

Frage 3:

Natalja Rybalko: Unsere Aufgabe ist es, denjenigen sozialen Austausch zu ermöglichen, die ihn vermissen, und dabei alle nötigen Sicherheitsmaßnahmen zu gewährleisten. Wir werden alle Veranstaltungen neu konzipieren müssen, um das Offline-Format wieder zu beleben. Ich habe Angst, dass die Onlinewelt uns ganz verschlucken wird, und hoffe, dass der Bedarf an persönlichem Austausch noch mehr wächst.

Anna Awerjanowa: Was wissen wir heute über die Magie des Lehrens und der Wissensvermittlung? Welche Rituale machen ein Ereignis aus, welche Produktionsarten lassen sich leicht technologisieren, welche Theorie hat keinen kollektiven Körper nötig und welche entsteht aus einer hormonellen Ursuppe? Vor kurzem haben wir beim Workshop «Ästhetische Verwandtschaften» mit Anastassija Rjabowa und Katerina Beloglasowa uns verhasste Filme besprochen. Aus vielen Alternativen haben wir «Harry Potter» gewählt und versucht, ihn mithilfe der Einbildungskraft radikal zu retten. Ich hoffe, dass es uns gelingt, spürbar zu machen, warum wir Kollektive bilden, und das Gefühl der Achtsamkeit und der Wahrnehmungsschärfe zu bewahren. Ich hoffe, dass die Translokalität, die wir in unserer Selbstorganisationsgruppe anstreben, aber für die wir und befreundete Gemeinschaften bisher kaum Ressourcen hatten, unsere zentrale strategische Ausrichtung und eine Quelle der Kraft sein wird. Der kollektiven Routine wird ein besonderer ästhetischer Stellenwert zukommen, der nicht mehr durch künstlich geschaffene Bedürfnisse vereinnahmt wird. Das Gefühl der Koexistenz unterschiedlicher Umfelder und der bewusste Umgang mit kommunikativen Zusammenkünften, Ereignissen und Zufällen werden sich etablieren. Und das hinter dem Bücherregal gefundene, verstaubte Bonbon wird dir zuzwinkern.

 
Marija Dmitrijewa, Mitorganisatorin des «Studio 4413»: (die Antworten können von der Meinung anderer Beteiligter abweichen)

Frage 1:

Das «Studio 4413» hat in den ersten zwei Monaten der Pandemie sein Veranstaltungsprogramm eingestellt. Ein Online-Angebot hatten wir nicht, da wir uns im virtuellen Lärm der vielen Ereignisse ziemlich ratlos fühlten. Wir wollten nicht zu den digitalen Kompromisslösungen für Treffen und Veranstaltungen beitragen. Während des Lockdowns ist deutlich geworden, dass das Format unserer Plattform äußerst materiell und fragil ist, in vielerlei Hinsicht geht es hier auch um das Zwischenmenschliche, was bisher unsere Auswahl an Veranstaltungen, Treffen, Workshops, Teerunden, Partys und Laboren geprägt hat. Wir hatten nie ein trockenes kuratorisches Programm für unseren Raum oder die Absicht, als Projektmanager*innen zu fungieren. Alles ergab sich eher zufällig, ohne Regelmäßigkeiten und in spontaner Kommunikation. Neugier und Lust waren unsere wichtigsten treibenden Kräfte. Nur ca. 15 Prozent der Veranstaltungen wurden langfristig geplant. Da es nun keine Möglichkeiten für Offline-Austausch gab, setzte der Puls der Potenzialitäten aus. Wir waren gezwungen, schon geplante Veranstaltungen bis auf Weiteres zu verschieben, und tauchten in den Zustand der Ungewissheit ein. Die einen schlossen langwierige Projekte ab, die anderen erlernten neue Techniken – es war schwer, über Pläne zu reden. Wir haben mehrere Aktionen in der Stadt gemacht, ohne die Studio-Bewohner*innen einzubinden, und wir standen im physischen Kontakt zu Katrin Nenaschewa und ihren Projekten sowie der Schule für moderne Kunst Paideia, die während der Ausgangssperre in einen hybriden Kommunikations-Modus übergegangen waren. Als Residenz waren wir für Gäste von außerhalb geschlossen.

Frage 2:

Die leeren Straßen der Stadt schienen ein spannendes Feld für die Interaktion mit der Umwelt zu sein. Was Zoom betrifft, so wird mir langsam schlecht davon. Drei bis vier Konferenzen pro Tag sind normal geworden und nach drei Wochen fing ich an, es zu hassen. Es ist ja bequem, durch die digitalen Korridore zu gleiten und sie zu verlassen, ohne sich entschuldigen zu müssen, aber die Unbestimmtheit der Ereignisse machte mir zu schaffen. Ein deutlicher Vorteil war es, dass Menschen, die früher räumlich und zeitzonenmäßig weit weg waren, jetzt oft an meinem Alltag teilhatten. Aber es zog mich so richtig herunter, über Online-Tools mit Menschen kommunizieren zu müssen, die nur zehn Minuten von mir entfernt waren, und deren physische Anwesenheit für mich wichtig und gewohnt war – ihr Geruch, ihre Körperlichkeit, die gemeinsamen Praktiken. Es war schwer, damit klarzukommen. Nüchtern betrachtet, sind Online-Ereignisse gut dafür, unterschiedliche Sphären unkompliziert zusammenzufügen – das kann man an der Zusammensetzung der Konferenzteilnehmer*innen sehen. Die Grenzen zwischen der akademischen Welt und dem Aktivismus von Unten, zwischen Theorie und Praxis werden durchlässig. Aber es lässt sich kaum über stabile, enge oder hormonelle Beziehungen in diesem Umfang sprechen, die nicht durch eine Materialität gestärkt wären. Es ist zwar möglich, aber es wird dauern, und man wird die früheren Erfahrungen einbüßen. Andererseits ist es eine gute Gelegenheit, um große Online-Initiativen anzustoßen und voranzutreiben, die Transformationsprojekte fördern und entwickeln, um bestehende politische und kulturelle Beschränkungen zu überwinden. Außerdem ist die unfreiwillige Digitalisierung des Alltags anscheinend zu einem äußerst radikalen Filter geworden. Ich glaube, die Wahl der Menschen, mit denen wir gegen die Regeln des Lockdowns verstoßen haben, war von großer Bedeutung. Es ist eher unwahrscheinlich, dass es eine völlig willkürliche Entscheidung war, natürlich mit Ausnahme derjenigen, die in Zweck-Gemeinschaften leben.

Frage 3:

Wir haben das Studio stets nicht als Ergebnis, sondern als eine Art Entwicklung gesehen, als einen Wandel der Akteur*innen und der Umstände, und deshalb konnte auch nichts «falsch» laufen. Eher ist mir klarer geworden, was mir in diesem Prozess wichtig war bzw. ist und welche Präferenzen ich hatte bzw. habe.


Quellen

[1] Vgl. Jeremy Rifkine, «Die dritte industrielle Revolution. Die Zukunft der Wirtschaft nach dem Atomzeitalter», Frankfurt a.M. 2011. S. insbesondere den Begriff kooperatives Gemeingut (collaborative commons). Man könnte ihn auch als Austauschgemeinschaften übersetzen – es geht um die gemeinschaftliche Produktion und Nutzung gemeinsamer Güter und Ressourcen.

[2] Den Begriff ontological design entwickelt der österreichische Designtheoretiker und ‑philosoph Tony Fry. In der Aufsatzsammlung «Design in the Borderlands» (2014) wird dieser Begriff im erweiterten Sinne als die Arbeit mit dem natürlichen und sozialen menschlichen Dasein, mit dem Menschen in all seiner Zerbrechlichkeit und mit all seinen Beschränkungen ausgelegt; eine Arbeit, die die Frage aufwirft: was es bedeutet, Mensch zu sein im Verhältnis zu anderen Menschen sowie zu artifiziellen und natürlichen Objekten und Kategorien des sozialen Daseins, etwa Zeit, Raum, Verkörperung oder Performativität.

[3] Vgl. Naomi Klein, «Die Schock-Strategie: Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus», Frankfurt a.M. 2011 sowie ihren kürzlich erschienenen Artikel «Coronavirus Is the Perfect Disaster for ‹Disaster Capitalism›»,

[4] S. mehr dazu in Madina Tlostanowa, «‹Wie erlangen wir die politische Einbildungskraft zurück?› Unhaltbare Theorien, lokale Praktiken und ‹Mutopien› der postdemokratischen Welt».

[5] S. mehr dazu in «Gewerkschaft der Kunstvermittler*innen des PinchukArtCentre. Eine Geschichte in zwei Teilen»: syg.ma/@nastya-dmitrievskaya/profsoiuz-miediatorov-pinchukarttsientra-istoriia-v-dvukh-chastiakhsyg.ma/@nastya-dmitrievskaya/profsoiuz-miediatorov-pinchukarttsientra-chast-vtoraia

[6] Transkription von Maria Kuwschinowas Beitrag in «Distanz und Proxy-Anwesenheit. Ein runder Tisch des Labors für Kunstkritik»

[7] «Wir sind eine Gruppe von Künster*innen und Kurator*innen aus dem Bereich der darstellenden Künste. Im Moment arbeiten wir an einem Brief an die Regierung mit dem Vorschlag, im Rahmen eines Experiments das bedingungslose Grundeinkommen für selbständige Künster*innen einzuführen, also für diejenigen von uns, die keine feste Stelle bei einer staatlichen Institution und keine andere dauerhafte Beschäftigung im Kunstbereich haben. Wir möchten an die Regierung mit einer mit Zahlen belegten Initiative herantreten, und deshalb erstellen wir gerade eine Datenbank selbständiger Kunstschaffender.» – readymag.com/u3108917560/ubiart 

[8] Aufzeichnungen aller Videos der Konferenz mit Verdolmetschung ins Russische abrufbar unter: vk.com/epizodspace

[9] «Ein Raum, der gleichzeitig als ein inklusives Kreativlabor und als eine Einrichtung zur Entwicklung und Erforschung diverser Kunst-, Forschungs- und Diskussionspraktiken fungiert. Wir interessieren und begeistern uns für mobile interdisziplinäre Formate an der Grenze von Kunst und Öffentlichkeit, aus denen neue Wissens- und Erfahrungsformen entstehen können.» – assembly.city