Interview | Soziale Bewegungen / Organisierung - Parteien / Wahlanalysen - Andenregion «Es war eine Stimmung wie im Krieg»

Marxa Chávez berichtet von der Stimmung der Gewalt und Ohnmacht der Bevölkerung kurz nach den Präsidentschaftswahlen in Bolivien 2019

Marxa Chávez
Marxa Chávez beim Treffen des RLS-Netzwerks Grupo Permanente in Cayambe, Ecuador im Juli 2019 Foto: Ana Robayo, RLS-Regionalbüro Andenländer

Rosa-Luxemburg-Stiftung: Was geschah nach dem Wahltag, dem 20. Oktober 2019, als die digitale Schnellauszählung der Stimmen unterbrochen wurde?

Marxa Chávez: Das hängt vom Ort ab, an dem du gewesen bist – es war ein großer Unterschied, ob man in Cochabamba oder in La Paz oder in einer anderen Region war. In La Paz gab es am 20. Oktober eine große Versammlung, die sich gegen die Partei Movimiento al Socialismo (die Bewegung zum Sozialismus, MAS) richtete und eine Stichwahl forderte. Die Leute waren sehr wütend, denn der Vertrauensverlust in die MAS besteht schon seit 2016, als Evo Morales das Referendum vom 21. Februar missachtete. Als dann die digitale Schnellauszählung gestoppt wurde, sagten die Menschen: «Hier wird gerade etwas ausgeheckt, damit Evo im Amt bleibt. Wenn Evo schon eine nationale Volksabstimmung missachtet hat, dann ist er wohl auch zu einem Wahlbetrug fähig.»

Marxa Chávez lebt in La Paz in einem armen Viertel an einem Hang an der Grenze zu El Alto und damit auch geografisch «zwischen den Fronten». El Alto ist geprägt von Indigenen – das unmittelbar angrenzende La Paz, beherbergt, vor allem im Süden, die traditionelle mestizische und weiße Mittel- und Oberschicht. Sie arbeitet als Journalistin für linke alternative Medien und engagiert sich in feministischen Kollektiven.

Eine Woche lang konnte nicht einmal die Comunidad Ciudadana[1] und auch keine andere Partei klare Nachweise für einen Wahlbetrug vorlegen. Für viele war es der überzeugendste Beweis, als der Informatiker Edgar Villegas im Universitäts-Fernsehkanal Television Universitario zwölf Belege für einen Wahlbetrug präsentierte. Das war ein Skandal. Danach gingen ehemalige Funktionäre des Obersten Wahlgerichts (TSE) an die Öffentlichkeit und es gab viele Erklärungen von ehemaligen Mitarbeitenden, die zurücktraten und erklärten, sie wären zum Wahlbetrug gezwungen worden.

Es war ein Prozess zunehmender Polarisierung.

Es war ein sehr undurchsichtiges Geschehen – ein Prozess zunehmender Polarisierung. Es gab Straßenblockaden gegen den Wahlbetrug, die im Süden von La Paz, einer Wohngegend der Mittelschicht, drei Wochen andauerten.

Wer wurde da blockiert?

Es ging darum, die Normalität zu durchbrechen, den Bussen die Durchfahrt zu verweigern, die Ecke vor deinem Haus als Zeichen des Protests zu blockieren. Es waren Nachbar*innen, die da auf die Straße gingen. Die Demonstrationen und Versammlungen im Zentrum waren Massenproteste, an denen sich auch Kokabäuer*innen und Bergarbeiter*innen aus Potosí beteiligten wie letztlich alle Gruppen und Sektoren, die in den 14 Jahren Regierungszeit unter der MAS gelitten hatten. Auch Lehrer*innen aus den urbanen Gebieten und vor allem Studierende der Privatuniversitäten waren dabei, aber auch einige Studierende der öffentlichen Universitäten. Gleichzeitig war klar, dass es innerhalb dieser Bewegungen große Widersprüche gab.

Wie bewertest du das Verhalten von Evo Morales und der MAS in dieser Zeit kurz nach den Wahlen?

Es war ein Prozess: Evo wollte sich lange Zeit keiner Stichwahl stellen, obwohl das viele Leute forderten und selbst Anhänger*innen seiner Partei fragten: «Warum akzeptierst du keine Stichwahl?», aber weil er darauf bestand, dass es keinen Wahlbetrug gegeben habe und alles sauber abgelaufen sei, mobilisierte er soziale Organisationen, vor allem Bergarbeiter*innen und Kleinbäuer*innen, für Proteste und eine Konfrontation auf den Straßen. Viele meinten, dass er damit von offizieller Seite die Konflikte zwischen Ethnien und Klassen schürte, die zwar immer schon latent existiert haben, nun aber offen ausbrachen.

Das war ein historischer Bruch: Bergarbeiter*innen, die die Studierenden mit Dynamit bewarfen; in Cochabamba Fabrikarbeiter*innen gegen Kokabäuer*innen. Solche Konfrontationen auf den Straßen hatten wir in dieser Heftigkeit noch nicht gesehen. In der zweiten Woche der Proteste kamen dann von der MAS angeforderte Bäuer*innen-Organisationen nach La Paz, um gegen die Nachbarschaftsblockaden im Süden der Stadt vorzugehen und dadurch ihre Stärke zu demonstrieren.

In diesen drei Wochen der Proteste, bevor die Polizei meuterte und Morales zurücktrat, ging die Polizei gemeinsam mit den regierungstreuen Organisationen gegen die Blockaden im Süden von La Paz vor. Von unseren Stadtvierteln aus, die am Hang liegen, beobachteten wir dieses absurde Geschehen, das wie ein Ping-Pong-Spiel war: «jetzt marschieren die aus La Paz», «jetzt kommen die aus El Alto herunter.»

Wir dachten: Jetzt kommt ein Bürgerkrieg.

Am Freitagabend, kurz nach dem ersten Aufstand der Polizei in Cochabamba, wendete sich die MAS an all ihre Anhänger*innen: «Die MAS ruft all ihre Mitglieder aus dem ganzen Land auf, nach la Paz zu kommen, um den Prozess des Wandels[2] zu verteidigen». Wir dachten: «Es wird noch schlimmer. Jetzt kommt ein Bürgerkrieg. Es werden eine Millionen Leute von der MAS kommen.» Aber letztendlich kam fast niemand. 

Das heißt, dass die MAS-Gruppen kaum Mobilisierungskraft hatten?

Genau. Die Anti-Wahlbetrugs-Proteste waren riesig. Die MAS hingegen hatte zwar Geld und Ressourcen, aber obwohl sie ihre Anhänger*innen aus Oruro, Potosí und Sucre nach la Paz holten, waren ihre Demonstrationen viel kleiner. Ich schlug mich auf keine der beiden Seiten. Ich fühlte mich weder von den Anti-Wahlbetrugs-Märschen und -Blockaden repräsentiert, weil ich die Klassenwidersprüche innerhalb dieser Bewegung sah, noch von denen der MAS, denn ich fand es nicht legitim, Menschen mit Staatsgeldern zu Demonstrationen zu transportieren.

 

Chronik der wichtigsten Ereignisse rund um die Präsidentschaftswahlen 2019 in Bolivien CC BY 3.0, Rosa-Luxemburg-Stiftung

Was geschah an dem Tag des Rücktritts von Evo Morales, am 10. November, nach dem Polizeiaufstand und der Aufforderung des militärischen Oberbefehlshabers William Kaliman zur Amtsniederlegung?

An dem Tag war ich unterwegs und versuchte, das Geschehen zu filmen. Auf derselben Straße gab es Leute, die um die Wiphala[3] geweint haben, und Leute, die gefeiert haben. Ich verstand gar nichts mehr. Da waren weiß gekleidete Leute, Mitglieder der religiösen Gruppen, die gegen den Wahlbetrug waren, und beteten: «Gott schütze uns vor dem Wahlbetrug!»

Dann folgten die Plünderungen. Es war fünf Uhr nachmittags und im Zentrum von La Paz flohen verängstigte Menschenmengen. Die Feierstimmung kippte in Angst um. Es war ein sehr gewalttätiger Tag. La Paz verbrachte zwei Tage in Schrecken und Angst. Noch nie hatte ich so viel panische Angst in der Stadt gesehen: die Barrikaden an allen Ecken und die ständige Furcht, dass dich jemand überfallen könnte; die Stigmatisierung der Leute aus El Alto, die kamen und von den Leuten sofort für die Plünderungen und Überfälle verantwortlich gemacht wurden. 

Weiß man, wer die Plünderer*innen waren?

Das war in dem Moment schwer zu sagen. Es wurde gemunkelt, dass es Leute der MAS waren – zumindest am Sonntag und Montag, an den Tagen der Angst in La Paz. An diesen beiden Tagen gab es Brandanschläge gegen die Häuser oppositioneller Politiker*innen und Journalist*innen. Danach kam es in anderen Regionen wie in Cochabamba und Potosí ebenfalls zu Brandanschlägen auf die Häuser von MAS-Funktionär*innen.

Am Sonntag, dem 10. November, liefen schließlich 30 Männer mit Stöcken durch meine Straße und bedrohten alle, was zu großer Angst führte. Einige holten ihre Waffen heraus. In anderen Gebieten engagierten Leute private bewaffnete Sicherheitsdienste, um sich zu schützen. Es war eine Stimmung wie im Krieg. Zusätzliche Panik entstand, weil es in vielen Zonen kein Wasser gab und die Kommunikationsnetze sowie das Fernsehen ausfielen. Nur WhatsApp funktionierte und darüber wurde man mit einer Mischung aus echten und falschen Nachrichten bombardiert. Alle Ladeninhaber*innen, die konnten, schlossen ihre Geschäfte.

Was passierte schließlich mit den Demonstrationen, die in der Nacht nach dem Rücktritt von Evo Morales, am 11. November, von El Alto nach La Paz zogen?

Es war ungefähr halb sieben am Abend, als sie durch unser Viertel zogen. In dem Moment war die Lage so angespannt, dass wir alle zitterten. In allen Bereichen der Stadt hörte man die Alarmsysteme und der Vorsitzende unserer Nachbarschaftsvereinigung und die anderen Nachbar*innen entschieden, dass wir die Leute durchlaufen lassen und versuchen würden, unsere Häuser zu schützen, obwohl einige wenige dafür waren, die Demonstrationszüge anzugreifen. Man hörte Böller knallen und alle sagten: «Sie gehen. Sie marschieren weiter.» Sie waren auf dem Weg ins Zentrum von La Paz. Kurz darauf griff dann das Militär ein.

Das Militär hat alle Menschen, die nach La Paz zogen, gestoppt?

Die Polizei ging voraus und attackierte die Leute mit Tränengas. Danach verlagerte sich das gesamte gewalttätige Geschehen nach El Alto und in die Randbezirke von La Paz. Am 11. November erklärte die Polizei in einer Fernsehansprache, dass die Gruppen aus El Alto bewaffnet wären und die Polizei sie nicht stoppen könne – also forderten sie das Eingreifen der Armee. Sofort darauf meldete sich Jeanine Añez, als sie noch nicht einmal Präsidentin war, im Fernsehen zu Wort und wendete sich an das Militär: «Wir bitten Sie einzugreifen und die Bevölkerung zu verteidigen, denn in der Stadt herrscht Chaos.»

Ich spürte, dass viele erleichtert waren, als das Militär eingriff. An vielen Orten waren die Menschen müde und verängstigt durch die Aufruhrgruppen, so dass viele das Militär und die Polizeieinheiten mit Tränen der Freude empfingen. An vielen Orten applaudierten die Leute sogar den Soldat*innen. Aber dann folgte die nächste Phase der Gewalt – dieses Mal verübt durch die Armee in Form von gezielter Repression. Wir befanden uns im Kreuzfeuer: Erst hatten wir Angst vor den MAS-Gruppen und dann vor dem Militär.

Ein emblematisches Beispiel für die Gewalt der Armee waren das Massaker in Senkata, einem Ortsteil von El Alto. Was kannst du uns darüber berichten?

Die große Blockade in Senkata begann am Donnerstag nach dem Rücktritt von Evo Morales. Sie blockierten genau den Ort, von dem aus die Benzin- und Gasversorgung von La Paz und El Alto geregelt wird, und paralysierten damit beide Städte. Ich glaube, es waren sowohl parteilose Leute, die die Machtergreifung von Añez am 12. November ablehnten, als auch Mitglieder der MAS. Dann begab sich die Armee in die Bezirke, die die Wahlhochburgen der MAS sind, nicht nur nach Senkata. Wir haben viele Zeug*innenaussagen, die von paramilitärischen Gruppen berichten – von Truppen, die aus Soldat*innen und Polizist*innen zusammengesetzt waren, begleitet von zivilen Gruppen, die aus den Anti-Wahlbetrugs-Protesten hervorgegangen waren und sich radikalisiert hatten, um die Bewegungen niederzuschlagen, die sich seit dem 10. November zur Unterstützung von Evo Morales formierten. Es gab Tote, Verletzte und Festnahmen im Zuge dieser «Befriedung» von Senkata und den Randbezirken von La Paz durch das Militär.

Wie schätzt du inzwischen die Lage ein? Die Situation ist nun ruhiger – es ist jedoch unklar, was passieren wird.

Ich glaube, was bei all dem verloren gegangen ist, ist die Geschichte des Gaskriegs 2003 und des Kriegs um das Wasser im Jahr 2000[4], die unsere grundlegenden politischen Forderungen und unsere Art der Organisation zwischen 2003 und 2005 geprägt hatte: unsere Forderungen nach der Vergemeinschaftung von Wasser, nach Dekolonisation, nach Anerkennung der indigenen Territorien – all das sind Forderungen, die weiter gehen als eine Reform des Staates. Die kollektive Erinnerung daran und die gemeinsame soziale Basis, die wir durch diese langen Kämpfe schufen, ist zerstört. Evo selbst hat die sozialen Organisationen zerstört und viele Leute an der Basis sagten, «ich werde nicht irgendwelche Typen der MAS verteidigen, die sich an unserem Geld bereichert haben». Deshalb gab es nicht die großen Mobilisierungen, die Evo sich für die «Verteidigung des Prozesses» erhofft hatte.

Du hast gesagt, dass Du Dich bei all dem keiner der Seiten zugeordnet hast. Geht das anderen Leuten auch so oder handelt es sich dabei um eine kleine Minderheit?

Ich weiß nicht, wie sehr wir in der Minderheit sind, aber wir sind auf jeden Fall nicht die Mehrheit, denn die meisten haben sich auf die eine oder andere Seite geschlagen. Unsere Position ist nicht, «in der Mitte» zu stehen, sondern auf der Seite tiefer gehender Kämpfe. Uns geht es darum, den Kampf wiederaufzunehmen, den die der MAS-Regierung nahe stehenden Organisationen aufgegeben haben. Als feministische Kollektive stehen wir dafür, diesen Zwei-Fronten-Konflikt zu entschärfen. Wir können nicht rechtfertigen, was die MAS in 14 Jahren Regierungszeit falsch gemacht hat: ihre Pakte mit dem Agrobusiness, die erst zu all dem geführt haben, was wir jetzt durchmachen, zu all dieser Gewalt. Wir lehnen die Paramilitarisierung sowohl von der einen als auch von der anderen Seite ab. Unsere Position ist davon geprägt, sich den tiefer gehenden Prozessen zuzuwenden: gegen das Agrobusiness; gegen Feminizide, die Allianzen zwischen dem kapitalistischen Staat und dem Patriarchat; gegen die Verdrängung der indigenen Bevölkerung; gegen die extraktivistischen Projekte, von denen viele mit Morales begonnen haben und nun – wie im Fall des Gensaatguts – vom Regime von Añez weitergeführt werden. Das ist unsere Agenda, die wir seit 20 Jahren verfolgen, seit dem Wasserkrieg. Darin sind wir uns als feministische Kollektive einig.


[1] «Bürgerliche Gemeinschaft», Partei des Präsidentschaftskandidaten Carlos Mesa.

[2] Als Prozess des Wandels («proceso de cambio») oder schlicht «der Prozess» wird das politische Vorhaben bezeichnet, für das die Regierung Evo Morales stand und das mit den sozialen Kämpfen um Wasser und Gas Anfang der 2000er Jahre begann: die Errichtung eines integralen Plurinationalen Staates über den Weg einer sozialen, ökonomischen und politischen Transformation und den Bruch mit alten Hegemoniestrukturen der postkolonialen Eliten des Landes. Protagonist*innen dieses Prozesses sollten diejenigen Gruppen und Klassen sein, die historisch benachteiligt und von der Macht ausgeschlossen waren.

[3] Nach dem Rücktritt von Evo Morales wurde die Wiphala-Fahne, ein wichtiges Symbol der indigenen Kultur und seit 2009 Nationalsymbol Boliviens, vom Regierungsgebäude und allen öffentlichen Institutionen geholt und in manchen Fällen auch verbrannt.

[4] Der Wasserkrieg ereignete sich in Cochabamba im Jahr 2000, als sich soziale Bewegungen der Privatisierung des Trinkwassers durch den multinationalen Konzern Bechtel widersetzten. Der Aufstand, der sich 2003 am geplanten Export von Gas über chilenische Häfen entzündete – der so genannte Gaskrieg –, führte zum Sturz des Präsidenten Gonzalo Sánchez de Lozada. Er setzte auch damals das Militär ein, um die Blockade des Treibstoffdepots in Senkata zu beenden, insgesamt starben über 60 Menschen bei dem Militäreinsatz.