Nachricht | Deutsche / Europäische Geschichte - Türkei «Über alles Bisherige hinaus»

Der Militärputsch in der Türkei am 12. September 1980. Ein Rückblick von Ismail Küpeli.

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12.9.1980: Panzer an einer Straße in den Tagen nach dem Putsch in der Türkei.
Panzer an einer Straße in den Tagen nach dem Putsch in der Türkei. Am 12. September 1980 hatte das Militär unter der Führung des Generalstabschefs Kenan Evren in einem Militärputsch die Macht übernommen.  picture-alliance / dpa | Seren Oguz

Am 12. September 1980 putschten die Militärs in der Türkei und Zehntausende wurden Opfer der folgenden gewaltsamen Repressionswelle gegen Linke und Oppositionelle. Die Folgen von Putsch und Diktatur prägen nicht nur die Türkei bis heute, sondern haben auch die deutschtürkischen und deutschkurdischen Communities in Deutschland entscheidend verändert. Zehntausende, die damals aus der Türkei flüchteten, und ihre Nachkommen prägten die türkeistämmigen Communities und politisierten diese.

Audiofeature zum Militärputsch in der Türkei im September 1980

Mitwirkende

Ismail Küpeli,

Dauer

9:57

Details

Ein Rückblick von Ismail Küpeli.

Doch zuvor ein Rückblick auf die früheren Putsche, die ebenfalls einscheidend für das politische und gesellschaftliche Leben in der Türkei waren. Die Armee hat seit der Gründung der Republik Türkei 1923 eine besondere Stellung inne, nicht zuletzt, weil ohne ihre militärischen Erfolge diese Republik so gar nicht entstanden wäre. Zudem wurde die Republik bis zum Jahr 1950 von Generälen aus der Zeit des «türkischen Befreiungskrieges» beherrscht, zuerst von Mustafa Kemal und danach von Ismet Inönü. Nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte sich ein Mehrparteiensystem. Die Staatspartei «Cumhuriyet Halk Partisi» («Republikanische Volkspartei») unter Inönü verlor die ersten Mehrparteienwahlen 1950 gegen die moderat-islamische und konservative «Demokrat Parti» («Demokratische Partei») und wurde Oppositionspartei.

Ismail Küpeli ist Promotionsstipendiat der Rosa-Luxemburg-Stiftung am Institut für Diaspora- und Genozidforschung der Ruhr-Universität Bochum.

Die Regierung der «Demokratischen Partei» führte das Land einige Jahre recht erfolgreich und sorgte für ein gewisses ökonomisches Wachstum. Die Bevölkerung war zunächst mit dieser Regierung zufrieden und störte sich auch nicht daran, dass die «Demokratische Partei» eine stärker islamische Politik verfolgte. So erklang etwa der Gebetsruf nicht mehr auf Türkisch, wie unter Mustafa Kemal verordnet, sondern entsprechend der islamischen Tradition auf Arabisch. Ab Mitte der 1950er Jahre brach das ökonomische Wachstum jedoch zusammen, die Unzufriedenheit in der Bevölkerung wuchs und es kam zu Massenprotesten. Darauf reagierte die Regierung mit einem immer stärker werdenden autoritären Kurs. Nach gewaltsamen Auseinandersetzungen sahen die Militärs den passenden Zeitpunkt gekommen und putschten am 27. Mai 1960 gegen die Regierung. Unter der Militärherrschaft wurden Ministerpräsident Adnan Menderes und zwei seiner Minister hingerichtet und die «Demokratische Partei» verboten. Die Putschisten verordneten eine neue Verfassung, die eine Reihe von unabhängigen öffentlichen Institutionen schuf und die politischen Freiheiten erweiterte, etwa durch das Recht, Gewerkschaften zu bilden. Deshalb gilt einigen Türk*innen der Putsch von 1960 als «links».

In den 1960er Jahren wuchsen in der Türkei, wie auch in vielen anderen Ländern der Welt, linke und linksradikale Bewegungen. Bei der Parlamentswahl 1965 konnte mit der «Türkiye İşçi Partisi» («Arbeiterpartei der Türkei») eine linke Partei ins Parlament einziehen und stellte 15 Abgeordnete. Die Militärs sahen in den Linken die neue Gefahr für den Staat und erwarteten von der Regierung, dass sie die Gefahr eindämmt. Die Regierung war allerdings dazu nicht in der Lage. 1971 griffen die Militärs ein, allerdings setzten sie nicht auf einen «klassischen» Militärputsch wie 1960, sondern auf ein Memorandum, mit dem sie den Rücktritt der gewählten Regierung und die Bildung einer neuen überparteilichen Regierung forderten. Ansonsten würden die Militärs selbst die Macht ergreifen. Die Regierung trat wie gewünscht zurück und für die nächsten zwei Jahre regierten verschiedene überparteiliche Technokratenregierungen. Sie erfüllten die Forderung der Militärs nach einer repressiven und gewaltsamen Ausschaltung der linken und linksradikalen Kräfte.

Die linke Oppositionspartei «Arbeiterpartei der Türkei» wurde verboten und führende Politiker*innen der Partei wurden zu langen Haftstrafen verurteilt. Über elf Provinzen wurde das Kriegsrecht verhängt, darunter Istanbul und Ankara. Insgesamt wurden über 10.000 Menschen inhaftiert, von denen viele gefoltert wurden. Die von den Militärs gewünschte Ausschaltung der linken Kräfte gelang trotzdem nicht, stattdessen wurde die Gesellschaft radikalisiert und die politischen Konflikte wurden deutlich gewalttätiger ausgetragen. In den politischen Konflikten der 1970er Jahre wurden über 5000 Menschen getötet.

1973 endete die Phase der Technokratenregierungen. Das Kriegsrecht wurde aufgehoben und Parlamentswahlen wurden abgehalten. In den folgenden Jahren bis zum Militärputsch von 1980 erlebte die Türkei zahlreiche kurzlebige Koalitionsregierungen, die allesamt die politische Krise und die Gewaltkonflikte nicht lösen konnten.

Nachdem die Militärs 1960 die Staatsmacht für lediglich ein Jahr übernommen und 1971 formell gar keine Machtübernahme vollzogen hatten, gingen sie 1980 über alles Bisherige deutlich hinaus. Die Regierung wurde abgesetzt, alle Parteien wurden verboten, führende Politiker*innen erhielten lange Betätigungsverbote. Insgesamt wurden über 650.000 Menschen festgenommen, von denen Tausende gefoltert wurden – über 170 Menschen starben durch die Folterungen. 517 Menschen wurden zum Tode verurteilt und fünfzigmal wurde die Todesstrafe vollstreckt. Der linke Gewerkschaftsbund DISK war eine von über 23.500 Vereinigungen, die nach dem Militärputsch verboten wurden. Die Militärs setzten eine neue Verfassung durch, die dem von ihnen kontrollierten Nationalen Sicherheitsrat weitergehende Kompetenzen in der Außen- und Sicherheitspolitik gewährte. 1983 wurden Parlamentswahlen abgehalten, bei denen die liberal-konservative «Anavatan Partisi» («Mutterlandspartei») siegte und die Regierungsmacht erlangte. Das Land war durch den Putsch scheinbar in eine «Friedhofsruhe» versetzt.

Allerdings begann 1984 die «Arbeiterpartei Kurdistans» (PKK) den bewaffneten Kampf gegen den türkischen Staat. Die Türkei war nicht in der Lage, die PKK militärisch auszuschalten, und es begann ein langer Krieg. Bis zum Teilrückzug der PKK-Kämpfer*innen aus der Türkei 1999 wurden etwa 37.000 Menschen in diesem Konflikt getötet, darunter Tausende von Zivilist*innen. Die militärischen Misserfolge im Kampf gegen die PKK und die Unfähigkeit, die ökonomischen Krisen zu lösen, brachten ab Ende der 1980er Jahre die Regierungen reihenweise zur Fall.

In Folge des Putsches, der Repressionswelle und schließlich des Krieges in den kurdischen Gebieten flohen Zehntausende aus der Türkei und Hunderttausende wurden zu Binnenvertriebenen gemacht. Dabei war und ist Deutschland eines der Hauptzielländer für die Geflüchteten aus der Türkei. Die Ankunft der linken Geflüchteten in Deutschland politisierte die türkischen und kurdischen Communities weiter. Als Reaktion auf den scheinbaren Linksruck der türkeistämmigen Bevölkerung in Deutschland setzte der türkische Staat auf den Ausbau seiner Strukturen in Deutschland. So wurde etwa 1984 der Moscheeverband DITIB gegründet, wobei DITIB von der türkischen Religionsbehörde Diyanet kontrolliert wird und für die Verbreitung der staatlich kontrollierten Lesart des Islams verantwortlich ist. DITIB und andere türkischen Einrichtungen sollten die als eher unpolitisch angesehene «Gastarbeiter»-Community, die in den 1960er und 1970er nach Deutschland migriert war, wieder an den türkischen Staat anbinden. Dies war teilweise erfolgreich und wir sehen bis heute eine Aufspaltung zwischen den Nachkommen der sogenannten «Gastarbeiter*innen» einerseits und den Nachkommen der politischen Geflüchteten andererseits.

Der Linke in der Türkei kämpft indes bis heute mit den Folgen des Militärputsches von 1980 und der darauffolgenden repressiven rechten Umgestaltung der türkischen Gesellschaft. Insbesondere die staatliche Instrumentalisierung der Religion für die Machtsicherung und die Prägung vieler Generationen mit der türkisch-islamischen Ideologie hat schlussendlich das konservativ-religiöse Lager weiter gestärkt. Dies ist einer der Faktoren, die den Erfolg der Regierungspartei AKP unter Recep Tayyip Erdoğan erklären können. Die AKP kann einen relevanten Teil der türkischen Bevölkerung mit ihren türkisch-islamischen Parolen für sich mobilisieren, während Linke nach jahrzehntelanger rechter Regierungspolitik geschwächt dastehen.

So bleibt die Aufarbeitung des Militärputsches von 1980 und deren Folgen eine wichtige Aufgabe, sowohl für linke Kräfte in der Türkei als auch für Linke in Deutschland, die in der sogenannten «postmigrantischen» Gesellschaft quer über ethnische und kulturelle Grenzen für eine bessere Gesellschaft kämpfen wollen.