Nachricht | Parteien / Wahlanalysen - Südosteuropa Neue Linkspartei in Serbien

Mit der Transformation der «Sozialdemokratischen Union» (Socijaldemokratska unija) auf ihrem 12. Parteitag vom 5./6. September 2020 in Belgrad, wurde die «Partei der radikalen Linken» (Partija radikalne levice - PRL) gegründet.

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Logo der «Partei der radikalen Linken» (Partija radikalne levice - PRL)
Logo der serbischen «Partei der radikalen Linken» (Partija radikalne levice - PRL)

Über die Partei, ihre Vorgeschichte und ideelle Konstitution, sprach Marko Kostanić, Redaktionsmitglied des linken Zagreber Internetportals BILTEN, mit Ivan Velisavljević. Er ist Parteivorstandsmitglied der PRL, Dramaturg und Filmschaffender.

Marko Kostanić: Kannst Du uns kurz die Vorgeschichte der Parteigründung erläutern?

Ivan Velisavljević: Die «Sozialdemokratische Union» (SDU) wählte sich vor 5 bis 6 Jahren einen neuen Vorstand, und machte einen programmatischen Kurswechsel nach links. Die Stützpfeiler der SDU bildeten Arbeiter*innen der Betriebe «Jugoremedija» aus Zrenjanin und «Prvi maj» aus Pirot. Unterstützt wurden sie dabei von Ivan Zlatić, einem langjährigen Aktivisten des Koordinationsrats der Arbeiterproteste und damaligen Vorsitzenden der SDU. Der Koordinationsrat entstand 2009 in Rača (Kragujevac) und wurde bald darauf zu einem Sammelpunkt für Arbeiter*innen aus ganz Serbien, die sich der Privatisierung und anhaltenden Übervorteilung von Arbeiter*innen und Kleinaktionären widersetzten. Nachdem einige neue Mitglieder, zu denen auch ich gehöre, dem Parteivorstand beitraten, mit der Idee, den Transformationsprozess in eine antikapitalistische, linke Arbeiterpartei voranzutreiben, beteiligte sich die SDU an der Gründung der Gemeinschaftsbewegung «Ein Dach über dem Kopf» (um gegen Zwangsräumungen und für ein Recht auf Wohnung zu kämpfen), engagierte sich aber auch auf der Liste der lokalpolitischen «Initiative Ne da(vi)mo Beograd»[1], die an den Lokalwahlen in Belgrad 2018 teilnahm. 2018 rief die SDU alle linken Kräfte im Land zum vereinten parlamentarischen Kampf auf. Dieser Aufruf beinhaltete eine Selbstkritik der langjährigen Entwicklung der SDU, aber auch die Entscheidung, an die positiven Aspekte ihrer Geschichte, etwa ihre Antikriegs- und antinationalistische Politik vom Ende der 1990-er Jahre, anzuknüpfen. Dieser Transformationsprozess stieß auf positive Resonanz bei Mitgliedern von Organisationen wie dem «Levi samit Srbije» (Linkes Summit Serbien) und «Diem 25», sowie den Studierendenbewegungen in Novi Sad und Belgrad … Einige dieser Leute wurden dann in die Parteiführung integriert. Die gemeinsame Arbeit an der Transformation dauerte dann noch ein Jahr, bevor die Neugründung unter neuem Namen vollzogen werden konnte. Einen außerordentlichen und einen ordentlichen Parteitag später ist es dann endlich passiert.

Was sind die nächsten unmittelbaren Schritte? Worin soll der Wiedererkennungswert der Partei liegen?

Vor allem im Kampf für Arbeiter*innen-Rechte, aber auch im Kampf für ein Recht auf Wohnung. Daran erkannt man uns schon jetzt. Wir haben, als grundlegendes Programmdokument, eine Deklaration zu Arbeiter*innen-Rechten verabschiedet. Demnächst folgt auch die Gründung des Arbeiterjugendverbandes, einer autonomen Jugendorganisation innerhalb der Partei. Die Deklaration für regionale Solidarität, die wir gemeinsam mit der slowenischen «Levica», der «Radnička fronta» (Arbeiterfront) und der «Nova Ljevica» (Neue Linke) aus Kroatien unterschrieben haben, betont die Zusammenarbeit linker Akteure in der Region, den Kampf gegen Chauvinismus und das Schüren von ethnischem Hass, sowie eine antifaschistische Ausrichtung. Wir werden uns aber auch in Kämpfen um Umweltschutz, Gesundheitswesen und Bildung engagieren … Und vor allem auch für die Emanzipation der Frauen. Neben den Programmzielen in dieser Domäne sind wir entschlossen, auch innerhalb der Partei nach feministischen Prinzipien zu agieren. Wir sind wohl die einzige Partei in Serbien, bei der im kollektiven Parteivorstand Frauen die Mehrheit stellen (drei von fünf Mitgliedern), und deren Statut die gleiche Vertretung von Frauen und Männern in allen Führungsorganen vorschreibt. Daher erwarte ich, dass die Arbeit unserer festen und autonomen Räte – der Frauenfront, des Arbeiterjugendverbandes, des Rates für soziale Fragen, des Rates für internationale Zusammenarbeit – die Grundpfeiler unseres Wiedererkennungswertes bilden werden.

Was sagt die Wahl des Adjektivs «radikal» darüber aus, wie ihr die politische Szene in Serbien seht? Warum muss die Linke nominal radikal sein, um als echte Linke erkannt zu werden?

Weil die Realität furchtbar und die Linke desavouiert ist. Die Linke ist kompromittiert, weil sie für die meisten Menschen noch immer in Verbindung mit der SPS von Milošević/Dačić und Vulins «Sozialistenbewegung» steht. Diese Parteien aber sind schon seit langer Zeit Teil jeder Regierungskoalition. Und jede dieser Regierungen hat eine Privatisierungs- und Sparpolitik betrieben, den Abbau von Arbeitnehmerrechten forciert, ein Hohelied auf das Bruttosozialprodukt gesungen, Chauvinismus als Nationalinteresse ausgegeben – bei gleichzeitiger Bestrebung eines EU-Beitritt. Und aus Sicht der Realität, in der die meisten Menschen leben: wenn man hört, dass es Arbeiterinnen in Supermärkten nicht erlaubt ist, sich hinzusetzten; dass Arbeiter*innen in Fabriken dazu gezwungen wurden, während der Pandemie ohne die vorgeschriebenen Schutzmaßnahmen zu arbeiten; dass an einem einzigen Tag mehr als 300 Arbeiter*innen gesetzeswidrig entlassen wurden, aber aus Angst von einer Klage absehen; dass praktisch jede Woche auf Baustellen ein Arbeiter umkommt und das dann kaschiert wird; dass der Mindestlohn nicht zum Überleben ausreicht; dass ein Viertel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebt; dass ausländischen Investoren Grundstücke, Gebäude und Firmen geschenkt bekommen, und mit Subventionen überschüttet werden; dass der einheimischen Mafia ermöglicht wird, ungestört den öffentlichen Sektor und strategische Ressourcen zu plündern … Wenn man all das hört, an welche gemäßigten Forderungen nach einem besseren Kapitalismus soll man da noch glauben? Auf welche vernünftigen und mit zager Stimme vorgetragenen Forderungen irgendeiner sozialdemokratischen Linken, die vermeintlich die Lebenslage all dieser entrechteten Menschen verbessern wird, soll man da noch hoffen? Sich in Serbien als radikaler Linker zu bekennen, heißt der Linken ihre Selbstachtung zurückzugeben. Auch wenn das Adjektiv «radikal» vorbelastet scheint[2]. Das ist ein Kampf um Deutungshoheit. Auf den müssen wir uns einlassen.

 

Der kollektive Vorstand der «Partei der radikalen Linken» - PRL
Der kollektive Vorstand der «Partei der radikalen Linken» - PRL

Kann man euch mit anderen politischen Akteuren in der Region und Europa vergleichen? Hattet ihr konkrete Vorbilder oder Inspirationsquellen?

Die konkrete Inspirationsquelle sind für uns die Menschen, denen wir täglich begegnen, mit denen wir zusammen kämpfen, die letztendlich auch unsere Mitglieder sind: jene, die gerade noch über die Runden kommen, entrechtet, wütend, ohnmächtig sind, unter zeitlich befristeten Arbeitsverträgen oder fiktiven Kurzarbeitszeitvertrӓgen angestellt sind, die von Leiharbeitsagenturen wie Sklaven verramscht werden; die Armen, von der Angst belagert, aus ihrem einzigen Zuhause auf die Straße geworfen zu werden, verschuldet, in Angst vor der Entlassung, ohne Zukunft in Serbien, mit dem Wunsch ihr Studium zu beenden und aus dem Land zu fliehen … Unter den politischen Parteien stehen uns in der Region auf jeden Fall diejenigen am nächsten, die ich schon genannt habe, mit denen wir die Deklaration zur regionalen Solidarität unterschrieben haben.

Lass uns am Ende noch auf eine konkrete Frage eingehen. Nach Präsident Vučićs Debakel in Washington, dominiert die Kosovofrage auch weiterhin die serbische politische Szene. Habt ihr eine Position und Strategie zu dieser Frage entwickelt? Oder glaubt ihr, dass sie in der Anfangsphase taktisch umgangen werden sollte?

Wir glauben nicht, dass diese Frage umgangen werden sollte. Es wäre aber anmaßend zu behaupten, wir hätten DIE Antwort auf die sogenannte Kosovofrage. Offensichtlich hat sie die halbe Welt nicht, aber wir sind entschlossen in der Haltung, dass sie antinationalistisch angegangen werden muss. Es muss über alle kontroversen und komplexen Fragen verhandelt werden, einschließlich jener, die über die begrenzte Frage des Status des Kosovo hinausgehen. Und das sind Fragen darüber, wie Menschen unter der konstanten Anspannung eines «eingefrorenen Konflikts», dem Schüren von Hass und Unverständnis ihr Leben bewältigen. Die eigentliche Frage für uns ist: Wie stellen wir uns die serbisch-albanischen Verhältnisse in der Zukunft vor, und wie diese Zukunft selbst? Als kapitalistische Peripherie billiger Arbeitskraft, in der ethnische Konflikte brodeln, von denen die nationalistischen Eliten und die mit ihnen verbundenen organisierten Kriminellen auf beiden Seiten der «administrativen Übergänge» profitieren? Oder werden es Verhältnisse sein, die auf einem gemeinsamen Ausgangpunkt begründet sein werden – dem Anliegen, an die jahrhundertealte Tradition eines Zusammenlebens anzuknüpfen, das auf gegenseitiger Anerkennung und Zusammenarbeit basiert? Wir denken, diese zweite Option ist der richtige Weg ist, und dass ein gesellschaftlicher Dialog darüber auf breitester Basis angestoßen werden muss. Aber wir sind auch der Meinung, dass dieser Dialog weder von den hiesigen nationalistischen Eliten, noch unter dem Protektorat der NATO, der EU, Russlands oder irgendeiner anderen Großmacht bestimmt werden sollte. Deshalb setzten wir uns, neben einem Dialog jenseits nationalistischer Deutungsmuster, vor allem auf gesellschaftlicher und nichtstaatlicher Ebene, auch für Verhandlungen über den Status des Kosovo unter dem Schutzschirm der UN ein, sowie für den Abzug der NATO vom Kosovo.


Das Interview ist ursprünglich erschienen auf dem linken Zagreber Nachrichtenportal BILTEN.

Aus dem Serbokroatischen ins Deutsche übersetzt von Stipe Ćurković. Stipe Ćurković ist Mitglied des «Zentrums für Arbeiterstudien» und Übersetzer aus Zagreb.


[1] Ein Wortspiel. Ohne die Silbe in Klammern gelesen, bedeutet der Name in etwa «Wir geben Belgrad nicht her» oder «Wir geben Belgrad nicht auf»; mit Klammern aber – «Würgen wir Belgrad nicht».

[2] Bezieht sich auf die Srpska radikalna stranka (Radikale Partei Serbiens), oft auch verkürzt Radikali (die Radikalen) genannt. Ihr Gründer, Hauptideologe und Präsident ist der in Den Haag für Kriegsverbrechen verurteilte großserbische Nationalist und ehemalige Vizepremier Serbiens Vojislav Šešelj.