Nachricht | Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Westasien - Iran - Westasien im Fokus Kurdistan-Iran: Die kurdische Frage als Klassenfrage

Ein Gespräch mit dem Aktivisten Ardalan Bastani über die Lage der Kurd*innen in Iran

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Kinder als «Kolber» (Lastenträger) in Kurdistan-Iran.
Kinder als «Kolber» (Lastenträger) in Kurdistan-Iran. Der (illegale) Warengrenzverkehr ist für die Kolber oft lebensgefährlich.
  Foto: rojhelat.info

Schluwa Sama: Wenn es um Kurdistan geht, dann steht häufig die politische Unterdrückung von Kurd*innen in der Türkei, die Autonomie der Kurd*innen im Irak oder die Selbstverwaltung in Rojava/Nordostsyrien im Vordergrund. In all diesen Ländern war die Ausübung der kurdischen Identität zu unterschiedlichen Zeiten extrem eingeschränkt. Zu Kurdistan-Iran ist weniger bekannt. Welche Freiräume hattest du, als du im Iran aufgewachsen bist, deine kurdische Identität auszudrücken?

Ardalan Bastani: Im Iran können wir Kurdisch sprechen und auch kurdische Kleidung tragen. Es gibt auch kurdische Medien, obwohl diese alle von der iranischen Regierung gesteuert sind. In bestimmten Instituten kann man auch Kurdisch lernen und schreiben, aber nicht in der Schule. Was die kurdische Identitätsausübung im Iran betrifft, muss dies vor dem Hintergrund der Politik der iranischen Regierung betrachtet werden. Die iranische Regierung sieht sich als Vertreterin Gottes auf Erden und das Volk als eine «ummet» – also eine Gemeinschaft von Gläubigen. Daher ist deine Identität als Kurd*in erst einmal nicht in Frage gestellt. Trotzdem gibt es natürlich die kurdische Frage im Iran.

Schluwa Sama hat in Berlin, Marburg und London, Politik und Wirtschaft Westasiens und Nordafrikas studiert und anschließend in Sulaymaniya, Kurdistan-Irak, gearbeitet. Zurzeit promoviert sie zur politischen Ökonomie des Iraks und Kurdistans am Centre for Kurdish Studies, University of Exeter.

Ardalan Bastani stammt aus Bukan, Iran. Der 27-Jährige war im Iran innerhalb der Studentenbewegung aktiv bis er das Land 2014 verließ. Seit 2017 lebt er in Berlin und ist in der Kiezkommune Kreuzberg organisiert.

Wie sieht die «kurdische Frage» im Iran aus?

Während die Ausübung der kurdischen Identität zwar erlaubt ist, kommt es zur blutigen Unterdrückung, sobald man sich als eigenes Volk definiert. Seit dem Pahlavi-Regime und auch seit der Islamischen Revolution ist die kurdische Frage auch mit einer Klassenfrage verbunden, das heißt also, dass Kurd*innen, aber auch andere Minderheiten im Iran auch aufgrund ihrer Ethnie absichtlich ökonomisch unterentwickelt gelassen worden sind. Hinzu kommt, dass der Großteil der kurdischen Gesellschaft im Iran aus Arbeiter*innen besteht, es sind also Bäuer*innen, Tagelöhner*innen etc. Eine kleine Minderheit innerhalb der kurdischen Gesellschaft gehört zur Bourgeoisie.

Die kurdische Bourgeoisie ist für das iranische Regime?

Nicht immer, denn sie ist mit verschiedenen politischen Kräften verbunden, also neben Teheran auch mit irakischen Kurd*innen oder Gruppen in der Türkei. Es gibt also eine Bandbreite von Interessen, und einige Teile der Gesellschaft sind für und andere gegen das iranische Regime. Insgesamt ist diese Bourgeoisie wohlhabend im Vergleich zur Mehrheit der Bevölkerung Kurdistans. Da aber die Bevölkerung Kurdistans mehrheitlich zu einer ausgebeuteten Arbeiter*innenklasse im Iran gehört, war die Volksfrage, also die Frage der Unterdrückung des kurdischen Volkes, gleichzeitig eine Klassenfrage.

Also würdest du sagen, dass die kurdische Frage eher eine Frage der Selbstbestimmung von Arbeiter*innen ist ?

Vor allem ist die erste Frage hierbei die nach besseren Lebensbedingungen. Das heißt, es geht um das Fehlen einfacher Infrastruktur, seien es ausgebaute Straßen, Elektrizität, Wasser oder einfache Dienstleistungen. All das fehlt in Kurdistan, obwohl Teheran zum Beispiel schon seit langem hoch modernisiert ist.

Das iranische Regime ist ja für den Großteil der iranischen Bevölkerung ein repressiver, autoritärer Staat. Wie tritt der iranische Staat in Kurdistan auf? Gibt es hier erhebliche Unterschiede zum Rest des Iran?

Ja, die Unterdrückung in Kurdistan ist spezieller als in anderen Teilen des Iran. Das hat mit einer anderen politischen Lage in Kurdistan zu tun. In Kurdistan sind verschiedene politische Parteien aktiv. Das ist zum einen die Demokratische Partei Kurdistan (die nach dem zweiten Weltkrieg die erste kurdische Republik in Mahabad gegründet hat). Nach der islamischen Revolution gab es eine andere Partei, Komala, die sich später mit anderen iranischen Organisationen zusammengetan und 1985 die iranische kommunistische Partei gegründet hat. Die jüngste Partei ist die PJAK (Partiya Jiyana Azad a Kurdistanê‎ – Partei für ein Freies Leben in Kurdistan), die als Teil der PKK im Iran aktiv ist. Ansonsten gab es auch kleinere Parteien.

Viele Menschen sind diesen Parteien treu. Die Präsenz der Parteien bedeutet, dass es einfacher ist, sich in Kurdistan politisch zu organisieren als in anderen Regionen des Iran. Das hat natürlich eine Geschichte, denn wir hatten in Kurdistan fast zehn Jahre Partisanenkampf gegen das iranische Regime. So ein Kampf braucht «leninistisch» ausgerichtete Parteien. Mit diesem System haben wir gelernt, dass wir uns sofort organisieren können. Das bringt natürlich auch eine andere Form von Unterdrückung des iranischen Regimes, denn der bewaffnete Kampf ist kein Tabu im Vergleich zu anderen Teilen des Iran. Das bedeutet, dass wir in Kurdistan die Erfahrung gemacht haben, dass das iranische Regime nur mit der Waffe spricht. In anderen Teilen des Iran ist diese Form von Unterdrückung nicht vorhanden. Kurdistan ist daher historisch und bis heute ein Gebiet von Kriegsoperationen. Das ist Normalität für die Bevölkerung.

Das iranische Regime ist politisch repressiv, inwiefern drückt sich dies auch im ökonomischen Alltag der Menschen aus?

Das iranische Regime ist nicht nur politisch repressiv, sondern es betreibt auch eine ökonomische «Hungerherrschaft». Das Problem im Iran ist nicht nur, dass die Armen nichts zu essen haben, sondern auch, dass die, die gestern zu essen hatten, heute nichts mehr zu essen haben. Es gibt Zahlen, die behaupten, dass ca. 40 Millionen Iraner*innen unterernährt sind. Hinzu kommt eine hohe Inflation. Die Arbeitssituation hat sich auch sehr verschlechtert. Seit Ahmadineschad wird der Iran durch IWF-Projekte etc. geradezu verfolgt. Sie haben fünf IWF-Projekte im Iran durchgesetzt. Die Regierung wurde dafür jedes Mal belohnt, während sich eine brutale Privatisierung fortsetzt.

Als ich in der Schule war, war die Schule kostenlos wie vieles andere auch. Heute ist sie zwar auch kostenlos, aber die Schulen versuchen zum Beispiel ihren Hof zu verkaufen. Das Gleiche gilt für Krankenhäuser. Damals konnte man mit einer einfachen Arbeiter*innenversicherung im Krankenhaus versorgt werden. Seit etwa vier Jahren hat die Regierung aber auch die Arbeiter*innenversicherung eingesackt. Als Arbeiter*in kannst du dir vielleicht noch ein Aspirin oder eine Tablettte leisten. Seit 15 Jahren hat sich das alles rapide verändert.

Welche Rolle spielen die US-Sanktionen dabei?

Sanktionen haben unser Leben schlimmer gemacht, aber Sanktionen alleine können nicht schuld sein. Die Hauptverantwortung liegt beim iranischen Regime. Darauf folgen die Sanktionen, die die Lage nochmal verschlechtern. Ganz konkret bedeuten die Sanktionen zum Beispiel, dass wir kaum Medikamente kaufen können. Natürlich sind die Sanktionen ein Mittel imperialistischer Politik, und es gibt kein Recht, diese durchzusetzen. Das hat nichts mit Menschenrechten oder Ähnlichem zu tun.

Im Iran gibt es seit 2018 zu verschiedenen Anlässen immer wieder Proteste. Zuletzt waren die Proteste auch in Kurdistan sehr stark. Wie erklärst du die Dynamik der Proteste allgemein und spezifisch für Kurdistan?

Gehen wir einmal zurück zu den Protesten von 2018. Das war die erste Welle von Protesten, die zehn Tage im Januar 2018, die ein wichtiger Punkt innerhalb der Protestbewegung waren. Das war ein wichtiges Ereignis nach der Islamischen Revolution, denn die Proteste haben in kleinen Städten des Iran, in Kurdistan, in Ahwaz, Khuzestan und Aserbaidschan stattgefunden und nicht in der Hauptstadt Teheran. Außer einer kleinen Stadt in der Nähe Teherans gab es in anderen Städten keinen Protest. Die Proteste haben also in armen, abgehängten Regionen, in denen die Minderheiten des Iran leben, stattgefunden. Die Antwort der Regierung war in diesen armen Gegenden auch sehr brutal mit einer hohen Zahl an Getöteten. Die Proteste haben in 80 Städten stattgefunden. Auslöser der Proteste war das fehlgeschlagene iranische Atomabkommen, da Trump ausgestiegen ist. Es gab eine große Propaganda im Iran, dass mit diesem Vertrag die Menschen mehr verdienen werden und sich die ökonomische Lage insgesamt verbessern wird. Das ist mit dem Platzen des Deals nicht eingetreten.

Das Kapital hat in den 15 Jahren die Privatisierung vorangetrieben, und diese Entwicklung konnte mit einem Vertrag nicht einfach rückgängig gemacht werden, denn der Neoliberalismus ist weiterhin in vollem Gange. Im Volk wurde trotz massiver Propaganda klar, dass sich hier nichts ändern wird. Die Menschen waren also hoffnungslos. Sie haben gesehen, dass die Regierung nicht mehr Gleichheit bringt und protestierten. Während und nach den Protesten wurde die Bedeutung von drei Bewegungen und deren Verbindungen untereinander immer deutlicher, nämlich die Arbeiter*innenbewegung, die Student*innenbewegung und die Frauenbewegung.

Kannst du uns zunächst mehr zur Arbeiter*innenbewegung im Iran erzählen?

Nach den Protesten von 2018 haben wir gesehen, dass die Arbeiter*innenbewegung sich stärker und schneller organisiert hat, besonders in drei großen Fabriken, einmal in einer Zuckerrohrfabrik in Khuzestan, in einer Fabrik der Stahlproduktion in Khuzestan und in einer Fabrik für landwirtschaftliche Maschinen in Arak, Zentraliran. Diese drei Fabriken waren auschlaggebend für eine Diskursveränderung innerhalb der Politik. Zuvor hat diese Arbeiter*innenklasse zum Beispiel Brot gefordert, wenn die kontinuierliche Auszahlung ihrer Gehälter zeitweise ausgesetzt wurde. Aber während dieser Proteste haben sie sich damit nicht mehr zufrieden gegeben. Sie haben zum Beispiel Parolen gerufen, in denen sie eine Räterepublik/Räteregierung gefordert haben. Das war ein Prozess, der Streik dauerte 60 Tage. Er wurde unterdrückt, und die Leute haben wieder angefangen zu arbeiten. Bis 2019 gab es diese Bewegung mit ihren Auf und Abs. 2019 kam es dann zur Benzinpreiserhöhung, was zu einem Auslöser für die Wut der Bevölkerung wurde. Dieser Protest hat zwar nur drei Tage gedauert, wurde aber brutal und blutig unterdrückt.

... die Student*innenbewegung?

Eine weitere der sehr progressiven Bewegungen ist die Student*innenbewegung. Wir haben etwas Ähnliches wie den ASTA (Allgemeiner Studierendenausschuss) im Iran, also Student*innenräte. Seit 2017/18 konnten wir sehen, wie sich diese Räte sehr nach links bewegen. Am Student*innentag, dem 7. Dezember 2018, haben sie eine Demonstration an der Universität Teheran organisiert. Das war eine Solidaritätsdemo, einerseits mit Frauen, die gegen den Zwangshijab protestierten und außerdem in Solidarität mit der Arbeiter*innenbewegung in den Zuckerrohr- und Stahlfabriken. Auch 2019 haben sie wieder am Student*innentag demonstriert, wieder mit der Parole «Von Teheran nach Chile über den Irak kämpfen wir zusammen gegen den Neoliberalismus».

... die Frauenbewegung?

Es kamen 2018 individuelle Proteste gegen den Zwangshijab dazu. Das waren zwar keine Massenproteste, aber sie waren wichtig für die Frauen, die sich bisher nicht geäußert haben. Am 8. März, dem Frauentag, haben sich Frauen organisiert und gegenüber dem Arbeitsministerium eine Kundgebung abgehalten. Das war ein neues Zeichen und eine Abgrenzung vom liberalen Feminismus, wie er sich bei Masih Alinejad (eine iranische politische Aktivistin aus der Diaspora, die für die US-Agentur zu Globalen Medien arbeitet) zeigt. Es war klar, dass diese Frauen, die sich vor dem Arbeitsministerium organisiert haben, keinen bürgerlichen Feminismus, der sich für bestimmte Frauenrechte einsetzt, vertreten, sondern einen klassenbewussten Feminismus, der sich für alle Frauen im Iran stark macht, besonders für marginalisierte Frauen, die sonst keine Beachtung finden. Die Frauenbewegung entwickelte sich also auch in einen Klassenkampf. Der Protest des 8. März wurde brutal niedergeschlagen, und einige Aktivistinnen wurden festgenommen und haben hohe Gefängnisstrafen bis zu zehn Jahren erhalten. Diese Unterdrückung zeigt auch, dass es für die Regierung gefährlich ist, wenn sich die Frauenbewegung mit der Arbeiter*innenbewegung verbindet. 

In europäischen Diskursen ist die Stellung der kurdischen Frau ein häufiges Thema, wobei die kurdische Frau als besonders progressiv dargestellt wird – an sich schon ein orientalistisches Bild. Das mag auch an der Berichterstattung über die politische Organisierung von Frauen in Rojava, Nordostsyrien und der Türkei, Nordkurdistan liegen. Wie sieht die Situation von kurdischen Frauen im Iran tatsächlich aus? Wie steht es mit ihrer Organisierung?

Ich lehne es ab zu sagen, dass die kurdische Frau eine bessere Stellung innerhalb der Gesellschaft hat als andere Frauen. Nur weil Frauen bewaffnet sein können, heißt dies nicht, dass sie eine geachtete soziale Stellung haben. Das ist eher ein bestimmter Orientalismus, ein weißer Blick, der unbedingt etwas anderes sehen will. Insgesamt ist die soziale Lage der Frauen im Iran nicht gut. Zum Beispiel gibt es immer noch Genitalverstümmelung von Frauen, Zwangsheirat oder andere Formen von Frauenfeindlichkeit wie häusliche Gewalt und Ehrenmorde. Dann gibt es natürlich auch progressive Teile der Gesellschaft in Städten, wo es Frauenorganisationen gibt, die sich für Frauenrechte stark machen – was teilweise reformistisch ist. Aber innerhalb dieser Gesellschaft sind diese reformistischen Aktivitäten auch eine Revolution.

Zurück zu den Protesten in Kurdistan-Iran 2019, deiner Ansicht nach gingen sie von der Arbeiter*innenbewegung aus und nicht von der kurdischen Bewegung?

Zunächst finden die Proteste seit 2018 bis heute überall im Iran statt. Es mag sein, dass die Menschen, die protestieren, verschiedene Interessen haben und dass den Kurd*innen, die protestieren, ihre Identiät wichtig ist. Gleichzeitig ist zu bedenken, dass es in den letzten 20 Jahren nicht zu solchen Protesten wie in den letzten zwei Jahren gekommen ist, obwohl die kurdische Identität sich nicht erst gestern entwickelt hat. Das heißt also, dass die kurdische Identität während dieser Proteste gegen soziale Ungerechtigkeit zum Ausdruck kam, aber nicht die Hauptursache für die Wut der Menschen ist. Daher sind die Proteste in Kurdistan unbedingt als Teil der Arbeiter*innenbewegung im ganzen Iran anzusehen.

Gibt es denn Allianzen in Form von tatsächlicher Organisierung oder symbolischer Solidarität zwischen unterschiedlichen Regionen im Iran?

Es gibt eine große Solidarität zwischen Kurdistan, Khuzestan, und verschiedenen Städten im Iran innerhalb dieser Proteste. Wir können Solidarität nicht so definieren, dass Leute in Bukan auf die Straße gehen, um für die Menschen in Teheran ihre Parolen zu rufen. Solidarität ist, dass die Menschen in Kurdistan auch zur gleichen Zeit auf die Straße gekommen sind, als in anderen Städten des Iran protestiert wurde, um dem Repressionsapparat im Iran gemeinsam gegenüberzutreten. Denn im Iran ist es so, dass die Polizei von einer Stadt in eine andere Stadt geschickt wird. Wenn es also in allen Städten Proteste gibt, dann wird auch dieser Polizeiapparat nicht mehr funktionieren. Das heißt, Kurdistan hat während der Proteste große Solidarität gezeigt, wie auch all die anderen Städte sich mit Kurdistan solidarisiert haben. Obwohl viele politische Organisationen, die eher kurdisch-nationalistisch sind, daraufhin hinarbeiten, dass Kurdistan sich getrennt fühlt von anderen Bevölkerungen und Städten des Iran, habe ich die Hoffnung, dass sie dies nicht schaffen.

Wer sind die kurdischen Nationalist*innen und wie schätzt du ihre Stärke innerhalb des Iran ein?

Im Allgemeinen sind die kurdischen Nationalist*innen durch verschiedene kurdischeParteien organisiert. Dies sind die DKP-Iran (Demokratische Partei Kurdistan-Iran) die PUK (Patriotic Union of Kurdistan) und die PJAK (zur PKK zählend). Diese Parteien sind damit auch quasi pro-Bourgeoisie. Eine Ausnahme ist die Komala Partei, die als linke politische Partei das Interesse der Arbeiter*innenklasse im Blick hat. Besonders vor 2018 und in ihrer Propaganda waren sie stark. Aber während der Proteste hatten sie ihre Berechtigung verloren, da sie den Menschen wenig Veränderung anbieten konnten. Zudem war in der Symbolik der Proteste auch klar, dass es sich nicht um eine Identitätsbewegung handelt, sondern um Proteste gegen soziale Unterdrückung, für Brot und Gleichheit. Zum Beispiel sind in Mariwan viele Menschen «Kolber», also Menschen, die als Lastenträger Waren über die Grenzen schmuggeln. Ein junger Kolber von 14 Jahren ist diesen Winter (2019/20) in Mariwan im Schnee auf seiner Route verschwunden und gestorben. Daraufhin waren ca. 10 000 Menschen bei seiner Beerdigung auf der Straße. Interessanterweise haben die Leute Brot mitgebracht und es gezeigt. Das allein ist schon ein wichtiges Zeichen, worum es der Protestbewegung in Kurdistan geht.

Die kurdische Frage ist oft mit der Frage von kurdischer Autonomie vom jeweiligen Zentralstaat verbunden bzw. mit der Idee eines eigenen kurdischen Staates. Welche Tendenzen siehst du in der kurdischen Bevölkerung im Iran?

Also es gibt tatsächlich diejenigen, die einen kurdischen Staat bevorzugen. Dazu gehört die kurdische Elite. Für die Arbeiter*innenklasse ist dies anders, und das hat auch mit ihrem Arbeitsalltag zu tun. So arbeiten sie im Sommer zum Beispiel in Kurdistan und im Winter in eher industriellen Gebieten in der Nähe Teherans. Auch kurdische Student*innen leben einen großen Teil ihres Studiums in anderen Städten außerhalb Kurdistans. Diese Begegnungen im gemeinsamen Alltag verschiedenster Menschen führt auch zu einer bestimmten Verbundenheit miteinander. Ich meine damit, dass du im Iran in einem großen Land mit vielen anderen Bevölkerungsgruppen lebst. Trotzdem gibt es auch Kurd*innen, die sehr gut organisiert sind innerhalb von Parteien und einen eigenen Staat oder zumindest Föderalismus durchsetzen wollen. Ich glaube, dass es in dieser Situation eine gut organisierte Linke braucht. Dann hätten die Nationalist*innen weniger Chancen. Ich denke nicht, dass wir Kurd*innen kein Recht darauf haben, unser Land zu gründen aber ich bin der Meinung, dass ein Iran mit Gleichheit und links-progressiver Ordnung tausendmal besser ist als ein Land, in dem wir unter der Herrschaft unserer eigenen Bourgeoisie leben und kurdische Arbeiter*innen von anderen Arbeiter*innen getrennt sind.

Wie schätzt du denn die transnationale kurdische Verbundenheit ein ? Also wie sind Kurd*innen im Iran mit ihren kurdischen Nachbarn im Irak und der Türkei verbunden?

Hier gibt es zwei verschieden Ebenen. Die eine Ebene ist die Verbindung zwischen unseren Parteien, die eine lange Geschichte hat, die bis in die 1970er Jahre zurückreicht. Die KDP, die von Barzani geführte Partei im Irak, hat heute einen sehr schlechten Ruf im Iran, denn ca. 1967/68 haben sie den Anführer des Revolutionskomitees der KDP-Iran (Kurdistan Democratic Party-Iran), Soleyman Moeini, umgebracht und die Leiche an den Shah geschickt. Diese Geschichten sind den meisten Kurd*innen im Iran bekannt. Daher gelten die KDP-Leute heute mehrheitlich als Verräter*innen. Auch im Irak haben sie ja an verschiedenen Tötungen teilgenommen, so zum Beispiel zusammen mit dem türkischen Geheimdienst gegen Mitglieder der PUK in der Region Hakkari.

Die iranisch-kurdischen Parteien waren besonders mit der PUK befreundet, denn sie waren zusammen in den Qandil-Bergen als Partisan*innen und waren auch solidarisch miteinander im Kampf. Diese Verbindung hat sich irgendwann geändert, inbesondere, da die eine Seite (im Irak) an die Macht kam und die andere Seite (im Iran) sich weiterhin in der Opposition befand und es bis heute ist. Die Politik der PJAK wird von der PKK formuliert und durchgesetzt. Die PJAK hat zwar einige wenige Operationen durchgeführt, und sie haben auch einige politische Gefangene, aber gesamtgesellschaftlich spielen sie im Iran keine große Rolle. Sie sind im Iran eher der Gegensatz zu dem, was die PYD in Nordostsyrien heute darstellt. Es ist schwierig nachzuvollziehen, was sie im Iran wollen. Denn zu einer Zeit, in der das iranische Volk auf die Straße geht, schreiben sie über Demokratisierung im Iran etc. Sie reden damit auch mit dem Regime. Das Regime weiß selbst, dass es keine Demokratisierung geben wird, aber die PJAK tut so, als ob das möglich wäre. Die einzige Sprache des iranischen Regimes ist die Unterdrückung.

Dann gibt es noch eine andere Verbindung zwischen den Menschen an sich, besonders zwischen den Kurd*innen im Iran und im Irak, denn wir sprechen die gleiche Sprache und uns vereint die gleiche Kultur. Daher ist unsere Verbindung hier stärker als mit der Türkei. Kurd*innen in der Türkei sprechen einen anderen Dialekt des Kurdischen, haben eher unterschiedliche Traditionen. Vielleicht geht das auch darauf zurück, dass hier die Grenze zwischen dem Osmanischen und dem Iranischen Reich verlief.