Nachricht | Arbeit / Gewerkschaften - Osteuropa - Südosteuropa - Europa solidarisch - 30 Jahre Transformation in Osteuropa Von Ost nach West

Wie die post-kommunistische Migration Europa verändert

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Arbeitergesuch, Rijeka, Kroatien, 2018, an einer Bushaltestelle
«Zur Arbeit in Deutschland werden gesucht: Schlosser, Schweißer, Elektriker, LKW-Fahrer, Mechaniker, Installateure und andere Handwerker»
(Rijeka, Kroatien, 2018, an einer Bushaltestelle) Foto: Ulf Brunnbauer, Montage: RLS

Im Frühjahr 2020 schlossen die Regierungen der EU aufgrund der Covid-19-Pandemie eine Grenze nach der anderen. Sofort stellte sich heraus, wie abhängig das europäische Wirtschaftsmodell von (süd-)osteuropäischen Arbeitskräften geworden ist. In Deutschland als Land, das in den letzten Jahrzehnten wie ein regelrechter Zuwanderungsmagnet fungierte, wurde dies besonders augenfällig. Die Spargelbäuer*innen fürchteten im April um ihre Ernte, denn dafür sind sie auf zigtausende Saisonarbeiter*innen aus Polen, Rumänien, Bulgarien und der Ukraine angewiesen. Und da Deutschland ein Land der Spargelesser*innen ist und die Landwirtschaftsverbände mächtige Lobbyisten sind, hat es nicht lange gedauert, bis die Bundesregierung eine Ausnahme von ihrem Einreisestopp aus Rumänien machte, um rund 80.000 rumänische Erntehelfer*innen ins Land kommen zu lassen.

Prof. Dr. Ulf Brunnbauer ist Wissenschaftlicher Direktor des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung und Inhaber des Lehrstuhls Geschichte Südost- und Osteuropas an der Universität Regensburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Gesellschaftsgeschichte des Balkans im 19. und 20. Jahrhundert, vor allem Migrationsgeschichte sowie Geschichte der Arbeit.

Für einen kurzen Moment schien es, als ob eine gesellschaftliche Debatte über die sozialen Kosten des Spargels starten würde, denn dieses eh weitgehend geschmacklose Gemüse kommt auf dem Rücken von ausgebeuteten Saisonarbeiter*innen auf den Teller der Deutschen. Kaum war der Spargel gegessen, und die rumänischen Erntehelfer*innen vergessen, geriet die nächste heilige Kuh der deutschen Konsument*innen in ein schiefes Licht: billiges Fleisch. Im Juni entwickelten sich die Schlachthöfe des Großbetriebes Tönnies zu Corona-Hotspots, im Hauptwerk infizierten sich mehr als 1.400 Arbeiter*innen – auch sie aus dem östlichen Europa, die meisten aus Rumänien. Mit einem Mal interessierten sich Öffentlichkeit und Politik für die miserablen Arbeits- und Lebensbedingungen von Arbeitskräften, die über ein System von Sub- und Subsubunternehmen in deutschen Großschlachthöfen unter unzumutbaren Bedingungen arbeiten und oftmals in ebenso unzumutbaren Behausungen wohnen müssen. Nicht nur der Spargel, sondern auch das Schnitzel hat einen hohen sozialen Preis, den die Gesellschaft akzeptiert, weil es scheinbar nur die Arbeitskräfte aus Ost- und Südosteuropa sind, die diesen bezahlen (von den ökologischen Kosten einmal ganz zu schweigen).

Aufgrund von Covid-19 fehlten plötzlich Arbeitskräfte in großen Niedriglohnsektoren in den wohlhabenderen Ländern Europas. Einblicke in Arbeitsbedingungen, die üblicherweise im Verborgenen bleiben, eröffneten sich, wenigstens für einen Augenblick. Und im Zentrum standen jeweils Arbeitskräfte aus den «neuen» Mitgliedstaaten der Europäischen Union, also die postsozialistischen Länder Ost- und Südosteuropas. Die Zahl der Beispiele, bei denen die Reisebeschränkungen schlagartig deutlich machten, wie wichtig ost- und südosteuropäische Arbeitsmigrant*innen in essentiellen Berufsfeldern in Westeuropa sind, ließe sich beliebig ausdehnen: In Österreich etwa organisierte die Regierung hastig Sonderzüge aus Rumänien, denn ohne Pflegekräfte von dort würde die Heimpflege zusammenbrechen. Für die betroffenen Arbeitskräfte traten nun zu ohnehin schwierigen Arbeits- und Lebensbedingungen noch die Bürden des Reisens in Corona-Zeiten hinzu.

Das, was uns 2020 plötzlich über die enge Verbindung von West und Ost im heutigen Europa bewusst wurde (und womöglich bald wieder verdrängt werden wird), ist Ergebnis einer Entwicklung, die mit dem Ende des Staatssozialismus eingesetzt und die europäischen Arbeitsmärkte fundamental verändert hat – und zwar in Ost sowie West. Die Transformation der einst staatsozialistischen Ökonomien und ihrer politischen Systeme blieb für den Rest Europas alles andere als folgenlos, auch wenn das Bewusstsein für diesen Prozess im alten Westen schwach ausgeprägt ist. Der Wiener Historiker Philipp Ther spricht völlig zurecht von einer Ko-Transformation – die Migration von Ost nach West ist ein zentraler Aspekt davon. Plötzlich wurde dieser Teil Europas voll in den Welt- und europäischen (Arbeits-)Markt integriert.

Mit dem Fall des sogenannten Eisernen Vorhanges, und damit dem Ende der Ausreisebeschränkungen in den einst staatssozialistischen Ländern, begann eine Ost-West-Wanderung, die in einer Analyse des Weltwährungsfonds als «präzedenzlos» bezeichnet wurde. In Bezug auf Geschwindigkeit, Ausmaß und Dauerhaftigkeit dieser Migrationsbewegung lassen sich weltweit kaum ähnliche Beispiele finden. Von 1990 bis 2015 sind rund 20 Millionen Menschen aus den Ländern des östlichen und südöstlichen Europa gen Westeuropa abgewandert, viele davon gut ausgebildet. Ursache in den frühen 1990ern war der massive wirtschaftliche Einbruch, der mit der Transformation von Planwirtschaften in Marktökonomien einherging. Arbeitslosigkeit, kollabierende Sozialsysteme und niedrige Löhne waren für viele Menschen Motiv genug, ihr Glück im Ausland zu versuchen. Es dauerte bis Ende der Dekade, bis die Region wieder das Wohlstandsniveau von 1989 erreicht hatte, allerdings mit deutlich höherer Ungleichheit. Die teils überstürzt, teils korrupt durchgeführten Privatisierungen führten zum Untergang vieler Betriebe, insbesondere in der Schwerindustrie, die im Staatssozialismus von den Regierungen massiv privilegiert worden war. Dort, wo auf Restrukturierungen verzichtet wurde, resultiert das in der Regel auch nur in der Verlängerung der Agonie, nicht aber der Rettung von Arbeitsplätzen.

Die Migration flaute nicht ab, als die meisten Ökonomien der Region wieder auf einen Wachstumspfad zurückkehrten und manche sogar, vor allem dank ausländischer Investitionen, eine veritable Reindustrialisierung erlebten (in Polen und der Slowakei, zum Beispiel, ist heute der Anteil der in der Industrie Beschäftigten größerer als in Deutschland). Dies hatte drei wesentliche Gründe: Zum einen erleichterte der Beitritt zur EU die Abwanderung deutlich. Auch wenn den neuen Mitgliedsländern teils mehrjährige Übergangsfristen für die Freizügigkeit auferlegt wurden – gerade Deutschland weigerte sich, seinen Arbeitsmarkt gleich zu öffnen und machte so seinen Nachbarn im Osten klar, Europäer*innen zweiter Klasse zu sein –, kamen die Bürger*innen der neuen Mitgliedsländer früher oder später in den Genuss der Niederlassungsfreiheit in allen EU-Staaten. Sie sollten davon massenhaft Gebrauch machen, nach dem EU-Beitritt gingen die Abwanderungszahlen stark nach oben. Rumänien beispielsweise verzeichnet heute rund 3,7 Millionen Staatsbürger*innen, die im Ausland leben (davon mehr als 750.000 in Deutschland), im Jahr 2000 waren es eine Million, und das bei etwas weniger als 20 Millionen Gesamtbevölkerung. Von 2013, dem Jahr des EU-Beitritts Kroatiens, bis 2019 haben rund 200.000 Menschen das Land verlassen, mehr als 5 Prozent seiner Bevölkerung.

Wir wissen aus der Forschung, dass Migration Migration verursacht, weshalb sie weitergeht, auch wenn sich die wirtschaftlichen Bedingungen im Heimatland verbessern: Abgewanderte Familienmitglieder, Freund*innen und Nachbar*innen berichten von den Möglichkeiten anderswo und unterstützen ihre Verwandten und Bekannten beim Nachzug. Solche Netzwerkeffekte sind ein zweiter Grund, warum die Abwanderung aus Ost- und Südosteuropa weiter voranschreitet.

Aber dahinter verbirgt sich noch ein dritter Grund: Trotz des relativ hohen Wirtschaftswachstums der letzten Jahre und teils stark steigender Löhne in den «neuen» Mitgliedstaaten ist die Ungleichheit in Europa insgesamt noch immer extrem; von Skandinavien im Norden bis Mittelitalien im Süden zieht sich ein Wohlstandsband, östlich von ihm liegen jedoch einige der ärmsten Gegenden der EU, durchbrochen nur durch die Großstadtregionen, vor allem die Hauptstädte. Schon alleine der Blick auf die Durchschnittslöhne eröffnet eklatante Differenzen: Nach einem Bericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung lag 2019 das durchschnittliche Arbeitnehmerentgelt in Bulgarien bei 9.100 € pro Jahr, in Rumänien bei 12.300 €, Ungarn 13.700 €, Polen 14.900 € und Kroatien 16.200 € – im Durchschnitt der EU aber bei 38.400 €, in Deutschland bei 43.000 € und Österreich 46.700 €. Die realen Unterschiede sind insofern noch größer, als der Wohlstand in den neuen Mitgliedsländern sehr ungleich verteilt ist. Einige Regionen in Bulgarien und Rumänien, aber auch der Ostslowakei, sind regelrechte Armenhäuser, auch im Vergleich zu den jeweiligen Landeshauptstädten. Bulgarien, Litauen, Lettland und Rumänien haben innerhalb der EU die größte Einkommensungleichheit – und weisen mit die höchsten Emigrationsraten in Europa auf. Wohl nirgendwo sonst in der Welt gibt es in einer politisch-rechtlichen Union derart krasse Lohnunterschiede innerhalb sehr überschaubaren Distanzen.

Für die von Abwanderung besonders stark betroffenen Länder ist diese mittlerweile zum Problem geworden; lokale Unternehmer beklagen zunehmende Probleme bei der Rekrutierung qualifizierter Arbeitskräfte. Die eine positive Folge der Abwanderung, dass nämlich die Löhne stark steigen, nimmt wiederum diesen Ländern ihren zentralen «Wettbewerbsvorteil», aufgrund dessen so viele westliche Industrieunternehmen Teile ihrer Fertigung dorthin verlagert haben, nämlich billige Arbeit. Ohne die abgewanderten Hochqualifizierten («brain drain») fehlt aber das Humankapital für einen Sprung nach oben in der Wertschöpfungskette. Die starke Auswanderung beschleunigt darüber hinaus den Rückgang der Bevölkerung, der teils dramatische Ausmaße angenommen hat. Bulgarien hat heute zwei Millionen weniger Einwohner als vor dreißig Jahren, und bis 2050 wird ein Rückgang um weitere 20 Prozent prognostiziert. Ganze Landstriche verwaisen und insgesamt stellen sich damit wachsende Finanzierungsprobleme für die ohnehin schwachen Wohlfahrtsstaaten. Als Konsequenz sind in Rumänien, Polen und Ungarn einer Umfrage aus dem Jahr 2019 deutlich mehr Menschen über Auswanderung als über Einwanderung besorgt.

Auf der anderen Seite profitieren die westeuropäischen Ökonomien von den Arbeitskräften aus Ost- und Südosteuropa, die bereit sind, große Mühsal zu ertragen, weil die Arbeit in der Fremde ihre einzige Möglichkeit ist, das Leben ihrer Familien zu verbessern. Nur so können sie ihren europäischen Traum, so bescheiden er ist, verwirklichen. Warum sollten sie schlechtere Lebensbedingungen hinnehmen als ihre Ko-Europäer*innen? Der «polnische Klempner» wurde in Großbritannien regelrecht sprichwörtlich. In Deutschland stechen Osteuropäer*innen nicht nur den Spargel und schlachten das Vieh, sie kümmern sich in wachsender Zahl auch um die Kranken und Alten; 60 Prozent der Ärzt*innen und des Krankenpflegpersonals, das im letzten Jahrzehnt in Deutschland aus dem Ausland rekrutiert wurde, kommen aus Rumänien, Ungarn, Bulgarien, Polen und der Tschechischen Republik. Die Gesundheitssysteme dieser Länder wiederum verspüren einen wachsenden Mangel an medizinischem Personal.

In einer Welt, die den Modellen der Ökonomen folgt, sollte die starke Abwanderung aus dem östlichen in das westliche Europa irgendwann zu einem neuen Gleichgewicht führen. Nur fügt sich die reale Welt selten solchen Theorien. Wie die Corona-bedingten Schlaglichter auf das Migrationsgeschehen im laufenden Jahr zeigen, ist die Ost-Westwanderung Ausdruck der strukturellen Ungleichheit, die das vermeintlich zusammenwachsende Europa auszeichnen; und die seinen Zusammenhalt gefährdet, da die Mischung aus Ungleichheit und Migration eine toxische ist, an beiden Polen des Migrationsgeschehen, im Auswanderungs- sowie dem Einwanderungsland: Es gibt kaum einen besseren Nährboden für rechten Populismus (wie etwa das Brexit-Votum gezeigt hat, als englische Nationalisten gegen osteuropäische Zuwanderer Stimmung machten). Das billige Schnitzel hat nicht nur einen sozialen, sondern auch einen politischen Preis – in Ost und West, solange einem europäischen Arbeitsmarkt nicht ein europäischer Sozialstaat zur Seite gestellt wird.