Interview | Krieg / Frieden - Zentralasien Ein neuer Krieg um Bergkarabach

Über die aktuelle Eskalation, die Hintergründe und die Möglichkeiten einer Befriedung des Konflikts

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Autor

Heiko Langner,

Stepanakert, Berg-Karabach, 28. September 2020: Eine ältere armenische Frau sitzt in einem Bombenbunker zum Schutz vor dem Beschuss.
«Übrigens hat Rosa Luxemburg in ihrer Schrift über ‹Die russische Revolution› bereits hellsichtig erkannt, dass ein ethnizistisches Verständnis von Selbstbestimmung mit einer internationalistischen Klassenpolitik unvereinbar ist.» Stepanakert, Nagorno-Karabakh, 28 September 2020: An older Armenian woman sits in a bomb shelter to protect herself from the fighting., picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Karo Sahakyan

Seit dem letzten Wochenende eskaliert der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um Bergkarabach zum offenen Krieg. Dadurch wird dieser sonst oft nicht beachtete Konflikt in Deutschland wahrgenommen. Anlass genug für uns, mit Heiko Langner, der sich seit Jahren mit dem Bergkarabachkonflikt befasst, über die aktuelle Eskalation aber auch die Hintergründe und möglichen Pläne zur Befriedung des Konflikts zu sprechen.

 
Rosa-Luxemburg-Stiftung: Heiko, kannst Du eingangs kurz die Entstehung des Konfliktes schildern?

Heiko Langner ist Politikwissenschaftler und beschäftigt sich seit langem mit dem Bergkarabachkonflikt. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter für die Bundestagsabgeordnete Helin Evrim Sommer.

Heiko Langner: Die historischen Ursprünge des Konflikts reichen bis in die Zeit der bürgerlichen Revolution im zaristischen Russland vor 115 Jahren zurück. Seinerzeit entluden sich die sozialen Klassenwidersprüche zwischen den aserbaidschanischen Landarbeitern, die auf der Suche nach Arbeit massenhaft vom Land in das damals weltweit größte Erdölförderungsrevier um Baku migrierten, und der ortsansässigen, entstehenden armenischen Handelsbourgeoisie erstmals in gewalttätigen Auseinandersetzungen. Der im Kern soziale Konflikt wurde später als Folge der sowjetischen Nationalitätenpolitik schnell ethnisiert, weil der Staatsaufbau nach nationalen Territorien hierarchisiert wurde, also «national in der Form, sozialistisch im Inhalt». Dadurch entwickelte sich ein ausgeprägter «Matrjoschka-Nationalismus», bei dem die einzelnen Nationalitäten um die Flächengröße und den politischen Status ihrer jeweiligen Gebietskörperschaften miteinander konkurrierten. Übrigens hat Rosa Luxemburg in ihrer Schrift über «Die russische Revolution» bereits hellsichtig erkannt, dass ein ethnizistisches Verständnis von Selbstbestimmung mit einer internationalistischen Klassenpolitik unvereinbar ist. Tatsächlich läutete dann Ende der 1980er Jahre der Konflikt zwischen den Sowjetrepubliken Armenien und Aserbaidschan um das zu Aserbaidschan gehörende, armenische Autonomiegebiet Bergkarabach den staatlichen Zerfall des sowjetischen Vielvölkerreichs ein. Daraufhin führten die unabhängig gewordenen Republiken Armenien und Aserbaidschan von 1992 bis 1994 einen offenen, blutigen Krieg. In dessen Ergebnis verlor Aserbaidschan die Kontrolle über das Gebiet sowie weitere sieben umliegende aserbaidschanische Bezirke an Armenien, in denen ein politisches De-Facto-Regime installiert wurde, das bis heute jedoch kein Staat anerkannt hat. Mehrere Resolutionen des UN-Sicherheitsrats und der UN-Generalversammlung bestätigen, dass das gesamte Gebiet völkerrechtlich weiterhin zu Aserbaidschan gehört und somit von Armenien bzw. dem De-Facto-Regime widerrechtlich besetzt ist.

Welche Pläne gibt es zur Befriedung des Konfliktes? Welche Schritte sehen sie vor und woran scheiterte bisher die Umsetzung?

Die Friedensverhandlungen zwischen Armenien und Aserbaidschan werden seit dem Waffenstillstand 1994 von der OSZE-Minsk-Gruppe geführt. Dabei handelt es sich um einen informellen Zusammenschluss von 13 OSZE-Teilnehmerstaaten, darunter befinden sich auch Deutschland und die Türkei. Den Co-Vorsitz teilen sich Russland, die USA und Frankreich gemeinsam. Es hat 13 Jahre gedauert, bis 2007 die sogenannten Madrider Basisprinzipien als Eckpunkte für eine Friedenslösung ausgearbeitet werden konnten, denen auch Armenien und Aserbaidschan zugestimmt haben.

Vorgesehen sind: der Rückzug der armenischen Streitkräfte aus den besetzten Gebieten Aserbaidschans außerhalb Berg-Karabachs, die Aufhebung sämtlicher Kommunikations- Verkehrs- und Handelsblockaden, die Schaffung eines Interimsstatus für Berg-Karabach, ein Rückkehrrecht für alle Binnenvertriebenen und Flüchtlinge zu ihren früheren Wohnorten sowie die Bestimmung des endgültigen politischen Status von Berg-Karabach durch ein bindendes Referendum mit Beteiligung beider Bevölkerungsgruppen unter internationaler Aufsicht. Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Rückgabe der armenisch besetzten Gebiete um Bergkarabach an Aserbaidschan nicht daran scheitert, dass Aserbaidschan sie nicht zurückhaben möchte, sondern weil die Besatzungsmacht sie nicht herausgeben will. Umgekehrt hat sich Aserbaidschan immer geweigert, ohne einen Truppenabzug Armeniens aus diesen Gebieten der armenischen Bevölkerung Bergkarabachs verbindliche Sicherheitsgarantien zu geben und einem effektiven Waffenstillstandsregime der OSZE an der militärischen Kontaktlinie zuzustimmen. Obwohl das Verhandlungsformat dem zwischenstaatlichen Konfliktcharakter entspricht und auch die drei Co-Vorsitzenden der OSZE-Minsk-Gruppe in seltener Eintracht zusammenarbeiten, ist daraus eine Dauerblockade erwachsen.

Der Bergkarabachkonflikt galt lange als «frozen conflict», der jedoch immer wieder von Schusswechseln auch mit Todesopfern geprägt war, wie zuletzt im Juli diesen Jahres. Warum eskaliert der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan gerade jetzt?

Die Bezeichnung «frozen conflict» trifft schon lange nicht mehr zu. Es ist besser, von einem ungelösten Konflikt zu sprechen. Der bisherige Konfliktstatus hat sich seit langem verbraucht und ist unhaltbar geworden. Das zeigt sich an den periodisch wiederkehrenden Waffenstillstandsverletzungen an der Kontaktlinie mit steigender Intensität, wozu oft schon nichtige Anlässe bzw. geringfügige Provokationen ausreichen, bei denen der Verursacher kaum zu ermitteln ist. Selbstverständlich ist aber auf aserbaidschanischer Seite das Interesse an einer Änderung des Status quo größer, weshalb es sich auch mehr Flexibilität und Pragmatismus in den Verhandlungen leisten kann, weil jeder Kompromissvorschlag die Situation zu seinem Vorteil verändert. Umgekehrt empfindet die armenische Seite jegliche Verhandlungsfortschritte nahezu zwangsläufig als schleichende Rückabwicklung ihres militärischen Sieges im Krieg, weshalb sie weitgehend an unerfüllbaren Maximalforderungen festhält. Ohne die Bereitschaft zu schmerzhaften Kompromissen auf beiden Seiten wird es aber keine Verhandlungslösung in dem Konflikt geben. Zuletzt wurde eine ganze Kette von Eskalationsschritten in Gang gesetzt, die im Juli zu schweren militärischen Auseinandersetzungen an der international anerkannten Staatsgrenze zwischen beiden Ländern führten. Es kann jederzeit auch zu militärischen Zusammenstößen fernab des eigentlichen Konfliktgebiets kommen, da der Großteil der militärischen Besatzungstruppen in Bergkarabach aus Berufssoldaten und jungen Wehrpflichtigen der regulären Streitkräfte Armeniens besteht.

Agdam, Aserbaidschan, 1. Oktober 2020: Ein Mann steht in einem Hof eines zerstörten Hauses, das während der Kämpfe in Berg-Karabach durch Beschuss beschädigt wurde.
«Beide Bevölkerungsgruppen, Armenier*innen und Aserbaidschaner*innen haben das gleiche Recht, in Freiheit, Würde und Sicherheit in der Region Bergkarabach zu leben.» Agdam, Aserbaidschan, 1. Oktober 2020: Ein Mann steht in einem Hof eines zerstörten Hauses, das während der Kämpfe in Berg-Karabach durch Beschuss beschädigt wurde., picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Aziz Karimov

Aserbaidschan ist ein enger Verbündeter der Türkei, Armenien wiederum Mitglied der Eurasischen Wirtschaftsunion sowie der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit und damit ein enger Verbündeter Russlands. Russland unterhält Militärstützpunkte in Armenien, liefert aber Waffen an beide Konfliktparteien. Wie verhalten sich die Türkei und Russland derzeit zum Konflikt? Haben andere Konflikte zwischen den beiden Staaten deiner Einschätzung nach einen Einfluss auf die aktuelle Eskalation in Bergkarabach?

Das ist die gängige Darstellung in der deutschen Öffentlichkeit. Das ist zwar nicht falsch, wird aber den komplexen und widersprüchlichen Realitäten in den politischen Interaktionsmustern der staatlichen Akteure im Südkaukasus nicht gerecht. Der Konflikt entzieht sich einer binären Betrachtungsweise. So nimmt Russland als führende Hegemonialmacht im Südkaukasus bereits seit geraumer Zeit trotz seines militärischen Bündnisses mit Armenien faktisch eine äquidistante Position zu beiden Konfliktparteien ein. In dieser Rolle ist Russland gleichzeitig der wichtigste Friedensvermittler innerhalb der zuständigen OSZE-Minsk-Gruppe wie auch der Hauptwaffenlieferant beider Konfliktparteien. Genau dadurch entstehen aber auch Schwierigkeiten, es beiden Seiten irgendwie Recht zu machen. Bislang sehen weder Armenien noch Aserbaidschan ihre jeweiligen Interessen hinreichend verwirklicht. Weder konnte Armenien seine militärische Besatzung der aserbaidschanischen Staatsgebiete legalisieren und dem armenischen Sezessionsregime in Bergkarabach zur internationalen Anerkennung verhelfen, noch konnte Aserbaidschan bislang auch nur eines seiner verlorenen Territorien zurückgewinnen. Aktuell ist mit dem Faktor «Erdogan» für Russland ein Riesenproblem entstanden. Eine dauerhafte türkische Militärpräsenz in Aserbaidschan an Russlands empfindlicher Südflanke wäre das denkbar schlechteste Szenario für Wladimir Putin. Er hat aber nicht die Macht, es zu verhindern, wenn Aserbaidschan türkische Militärbasen zuließe, weil die Südkaukasusrepublik in der Praxis weitaus souveräner als ihre Nachbarn in der Region ist. Das Verhältnis zwischen der Türkei und Aserbaidschan ist ebenso kein einseitiges Abhängigkeitsverhältnis, im Unterschied zum Verhältnis zwischen Russland und Armenien. Erdoğan ist in dem aktuellen Krieg in und um Bergkarabach nur ein Mittel zum Zweck und nicht der unangefochtene Seniorpartner Aserbaidschans. Das entspräche weder dem Souveränitätsanspruch des aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Alijew noch dem ausgezeichneten Zustand, in dem sich die aserbaidschanisch-russischen Beziehungen befinden. Eine verbliebene machtpolitische Option bestünde darin, dass der Kreml Aserbaidschan in Bergkarabach bis zu einer bestimmten Grenze gewähren ließe, um eine türkische Militärpräsenz in Aserbaidschan abzuwenden. Erst wenige Tage vor dem Krieg hat Moskau nochmals seine Unterstützung für die Madrider Basisprinzipien bekräftigt und dahingehend präzisiert, dass fünf der sieben umliegenden Bezirke um Bergkarabach an Aserbaidschan zurückgegeben werden sollten. In den russischen Staatsmedien findet sich bis heute kaum Kritik an Aserbaidschan. Ohnehin ist Russland vertraglich nur zu militärischem Beistand für Armenien verpflichtet, nicht für Bergkarabach. Es kommt hinzu, dass durch die pro-westliche Politik der neuen armenischen Regierung seit der «samtenen Revolution» 2018 eine wachsende Entfremdung im russisch-armenischen Verhältnis eingetreten ist. Eine weitere Möglichkeit bestünde darin, die Karabach-Frage zum Bestandteil eines größeren geopolitischen Verhandlungspakets zu machen, wie etwa die Rückgabe Bergkarabachs an Aserbaidschan gegen einen Rückzug der Türkei aus der Region Idlib in Syrien, um diese wieder unter die Kontrolle von Russlands Günstling Baschar al-Assad zu bringen. Die Kehrseite dieser imperialen Geopolitik mit kriegerischen Mitteln wird eine menschliche Tragödie und humanitäre Katastrophe großen Ausmaßes sein. Schon in den ersten Kriegstagen dürften in und um Bergkarabach die meisten Menschen seit dem Waffenstillstand 1994 getötet worden sein, weil die Kriegsparteien von Anfang an unerbittlich mit hohem Waffeneinsatz gegeneinander vorgingen. Die Zahl der zivilen Opfer wird rasant steigen, wenn der Krieg nicht bald gestoppt wird.

Mit dem Machtwechsel 2018 in Armenien setze eine Entspannungsphase von beiden Seiten ein, die aber 2019 wieder endete. Warum war diese Entspannung nicht dauerhaft und welche Schlüsse lassen sich daraus ziehen, für eine Befriedung des Konfliktes?

Mit dem Machtwechsel in Armenien 2018 waren auf aserbaidschanischer Seite zunächst große Erwartungen für Verhandlungsfortschritte verbunden, weil mit Nikol Paschinjan erstmals nach 20 Jahren ein Armenier wieder den Regierungschef stellte, der nicht aus Bergkarabach stammte und von dem man sich größere Kompromissbereitschaft erhoffte. Unbestreitbar kam es in der Folgezeit in Armenien innenpolitisch zu wichtigen Demokratisierungsfortschritten, wie zum Beispiel bei der Presse- und Versammlungsfreiheit. Ebenso gab es erstmals freie Wahlen, die diese Bezeichnung wirklich verdienten. Die prekäre soziale Lage der Bevölkerung, die schon lange unter Massenarmut leidet, verbesserte sich allerdings nicht. Außenpolitisch ging die neue armenische Regierung unter formaler Wahrung des Bündnisses mit Russland verstärkt auf Tuchfühlung mit dem Westen, was Moskau sofort mit großem Missfallen registrierte. Nach der anfänglichen Entspannung radikalisierte sich die Konfliktpolitik gegenüber Aserbaidschan, weil die armenische Führung beweisen musste, dass sie den nationalen Konsens in der Karabach-Frage nicht durch eine Verzichtspolitik preiszugeben beabsichtigte. Es folgte eine Vielzahl provokativer politischer Schritte: die offizielle Ankündigung, die inoffiziell bereits seit einigen Jahren in geringem Umfang praktizierte illegale Ansiedlung von ethnischen Armeniern aus dem Libanon und Syrien in Bergkarabach und in den besetzten aserbaidschanischen Gebieten nunmehr auszuweiten, was zweifellos einen eklatanten Bruch des Völkerrechts darstellt, sowie die Absicht, den Sitz des international nicht anerkannten «Parlaments» von der Regionalhauptstadt Stepanakert in die frühere aserbaidschanische Hochburg in Bergkarabach, nach Schuscha zu verlegen. Der Verteidigungsminister Armeniens verstieg sich sogar zu der Aussage, dass die bisherige Konfliktformel «Frieden für Land» durch «neuen Krieg für neue Territorien» ersetzt werden müsse. Die militärischen Zusammenstöße häuften sich und Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew geriet unter den massiven Druck nationalistischer Kräfte, die bei den Julikämpfen spontane Massenproteste in der Hauptstadt Baku mobilisierten und am Ende erfolglos versuchten, das aserbaidschanische Nationalparlament zu stürmen. Diese Eskalationskette hat letztlich zum aktuellen Kriegszustand geführt.

Welche Schritte müssen nun schnellstmöglich erfolgen, um die Kampfhandlungen zu stoppen und die Sicherheit der vor Ort lebenden Bevölkerung sicherzustellen?

Ein dringend erforderlicher sofortiger Waffenstillstand setzt die entsprechende Bereitschaft bei den Kriegsparteien voraus, die derzeit nicht vorhanden ist. Leider hat Armeniens Ministerpräsident Nikol Paschinjan bereits einen entsprechenden Vorschlag des russischen Co-Vorsitzes der OSZE-Minsk-Gruppe offiziell abgelehnt und damit Russland in seiner Rolle als Friedensvermittler öffentlich düpiert. Aserbaidschan hat aktuell freilich auch kein echtes Interesse an einem Waffenstillstand, da es bereits wichtige militärstrategische Anfangserfolge errungen hat, die Appetit auf mehr wecken. Der Krieg hat Fahrt aufgenommen, sodass es internationalen Drucks auf die Kriegsparteien bedarf. Die Aufforderung der 15 Mitglieder des UN-Sicherheitsrats, die Kämpfe sofort einzustellen, ist ein erster wichtiger Schritt, dem schnell weitere Schritte folgen müssen. Die Konfliktdiplomatie muss auf Hochtouren gebracht werden, um einen Waffenstillstand zu erreichen und die humanitäre Versorgung der Zivilbevölkerung zu ermöglichen.

Wie könnte deiner Meinung nach eine langfristige linke friedenspolitische Perspektive für den Konflikt aussehen?

Wer selbst keine Konfliktpartei ist, sollte sich auch nicht wie eine Konfliktpartei verhalten oder einer Konfliktpartei nach dem Mund reden. Linke Friedenspolitik muss konsequent die Menschen in den Mittelpunkt stellen sowie die Menschenrechte und die völkerrechtlich begründeten Interessen BEIDER Bevölkerungsgruppen berücksichtigen. Die geopolitischen Interessen von Staaten bzw. nationalen Regierungen haben in linker Friedenspolitik nichts zu suchen. Das heißt: ausschließlich gewaltfreie Lösungen, humanitäre Hilfe für konfliktbetroffene Zivilbevölkerungen, Wiederaufnahme von Friedensgesprächen und Einhaltung bzw. Wiederherstellung des Völkerrechts. Beide Bevölkerungsgruppen, Armenier*innen und Aserbaidschaner*innen haben das gleiche Recht, in Freiheit, Würde und Sicherheit in der Region Bergkarabach zu leben. Konkurrierende Völkerrechtsnormen wie das Selbstbestimmungsrecht und die territoriale Integrität von Staaten sind überhaupt keine prinzipiell unauflösbaren Gegensätze, wenn sich alle Beteiligten auf gemeinsame Kompromisse verständigen. Linke Politik muss zudem das Geschäft des Krieges erschweren und die Waffenlieferungen aller Staaten an beide Kriegsparteien verurteilen, und nicht nur einseitig die Waffenlieferungen der Türkei an Aserbaidschan, die ohnehin nicht einmal der größte Waffenlieferant ist. Linker Friedenspolitik sollte zudem immer eine realistische Konfliktanalyse zugrunde liegen. Ideologische Selbstbespiegelung führt zwangsläufig zu Fehleinschätzungen. Statt sich aus der Ferne schlaue Lösungen für die Konfliktparteien auszudenken, sollte die Linke dialogische Räume eröffnen und die basisdemokratischen Selbstermächtigungsprozesse konfliktbetroffener Zivilbevölkerungen solidarisch unterstützen, um deren Beteiligungschancen an neuen Friedensverhandlungen zu verbessern. Armenien und Aserbaidschan müssen zu den Madrider Basisprinzipien zurückkehren, denen sie selbst als Eckpunkten einer möglichen Friedensvereinbarung zugestimmt haben und die darin vorgesehenen Schritte endlich umsetzen. Der Großteil des gegenwärtigen Konfliktstaus ließe sich auflösen, wenn mehrere Schritte gleichzeitig umgesetzt würden. Das hieße, den von den Co-Vorsitzenden der OSZE-Minsk-Gruppe immer wieder angemahnten Truppenrückzug Armeniens aus den fünf besetzten Gebieten um Bergkarabach durchzuführen, während Aserbaidschan einer OSZE-Friedensmission an der neu festzulegenden Kontaktlinie zustimmen und der armenischen Bevölkerung Bergkarabachs vertragliche Sicherheitsgarantien einräumen muss. Denn auch nur so könnten die über 750.000 aserbaidschanischen Binnenvertriebenen sicher in ihre früheren Wohnorte zurückkehren, die komplett wiederaufgebaut werden müssen. Wer Milliarden in den Wiederaufbau investieren muss, wird sich neue kriegerische Abenteuer sicher überlegen. Die noch verbleibenden Punkte wie die Bestimmung des finalen politischen Status von Bergkarabach könnten dann später umgesetzt werden. So könnte eine friedliche Alternative zum Krieg aussehen. Krieg schafft keine Lösungen, sondern nur neues Leid.

Welche Rückschlüsse lassen sich mit Blick auf Bergkarabach auf andere bewaffnete Konflikte im postsowjetischen Raum ziehen?

Der Bergkarabach-Konflikt stellt einen historischen Sonderfall dar, worauf schon die lange Vorgeschichte hinweist. Insofern lassen sich keine verallgemeinerungsfähigen Rückschlüsse für andere ungelöste Langzeitkonflikte im postsowjetischen Raum ziehen. Es wäre aber grundsätzlich dringend geboten, die Konfliktlösungskapazitäten der OSZE auszubauen. Solange der OSZE deutlich weniger als ein Zehntel des NATO-Haushalts zur Verfügung steht ‒ wohlgemerkt die staatlichen Verteidigungsausgaben der NATO Mitglieder sind noch um ein Vielfaches höher ‒ kann es kaum überraschen, dass die gewaltfreie Befriedung der vorhandenen Konflikte immer schlechter gelingt.