Nachricht | «Ich habe dort das Denken gelernt»

Buch über trotzkistische Partei in der Schweiz

Information

Die Revolutionäre Marxistische Liga (RML), ab 1980 Sozialistische Arbeiterpartei (SAP), hatte zu Beginn der 1980er Jahre 5-600 Mitglieder und 1000, wenn nicht 1500 organisierte SympathisantInnen. Gegründet wurde sie 1969 im französischsprachigen Teil der Schweiz, breitete sich aber schnell in der ganzen Schweiz aus. Die lokalen Gruppen orientierten sich in ihrer jeweiligen Sprachregion an den linken Politiken und Diskursen des benachbarten Auslandes (Frankreich, Italien, Deutschland). Ab 1972 war die RML die schweizerische Sektion der trotzkistischen Vierten Internationale. Ende der 1980er Jahre löste sich die SAP in einem unübersichtlichen Prozess auf, ihre überregionale Zeitschrift Bresche bestand allerdings noch bis 1994.

Die Publikation ist spannenderweise das Produkt einer umfangreichen Befragung. 600 Fragebögen wurden an ehemalige Mitglieder versendet, von denen 110 Personen diese beantworteten und die in Form der ausgefüllten Fragebögen auch verschlagwortet und online vorliegen(1). Die Antworten stammen zu einem Drittel von Frauen und insgesamt dreiviertel sind namentlich gekennzeichnet, in dem Wissen, dass die Fragebögen öffentlich zugänglich sind. Zweidrittel der Antwortenden waren um 1968 SchülerInnen, die Alterskohorte umfasst insgesamt allerdings die Jahrgänge von 1923 bis circa 1960. 17 Personen waren Hauptamtliche der Partei und mehr als ein Drittel der Antworten stammen von (ehemaligen) Mitgliedern des Zentralkomitees.

Was sind nun die Ergebnisse der Untersuchung? Rein empirisch lässt sich feststellen, dass auffallend viele der AktivistInnen das sind, was heute BildungsaufsteigerInnen genannt wird. Etliche unternahmen ihre ersten politischen Schritte im kirchlichen Bereich. Darüber hinaus sind die Lebensläufe und Berufe aber sehr divers. Die meisten weiblichen RML/SAP Mitglieder waren auch in feministischen und Frauengruppen engagiert. Arbeitskämpfe und Gewerkschaften spielten selbstverständlich auch eine Rolle: Ein Drittel derer, die antworteten, arbeitete selbst zumindest zeitweise in der Fabrik und vollzog so die von der Partei ausgerufene «Proletarisierung».

Bekannt war die RML auch für ihre Debatten zum Stalinismus, ihre grundlegende internationalistische Perspektive, die sich auch in ihrer politischen Themensetzung niederschlug (Algerien, Vietnam, …) und in ihrer Positionierung und Debatte um die Ablehnung der Atomkraft, die sich schnell zu einer allgemeinen Kritik der Produktivkraftentwicklung ausweitete. Die Mehrheit der Antwortenden war in der Anti-AKW-Bewegung engagiert, viele AktivistInnen schlossen sich dann auch der entstehenden grünen Wahlbewegung an. Charakteristisch war, wie es auch viele ZeitzeugInnen aus spontaneistischen oder maoistischen Gruppen berichten, das Nebeneinander von erschöpfender Arbeit nach innen, sowie intellektueller Vitalität und antiautoritärem Impuls nach außen. Eine Erfahrung, die für viele bis heute nachwirkt. Viele berichten positiv von den geteilten Ideen, und dass sie in der RML/SAP das «Denken» und das «Teilen von Ideen und Aufgaben gelernt» hätten und von dieser ermächtigenden Erfahrung noch heute geprägt seien und zehren würden.

Mit dieser Publikation liegt eine, jenseits aller «Quellenkritik», auf eine breite Basis gestützte Arbeit vor, die qualifizierte Einblicke in das (politische und private) Leben vieler AktivistInnen wie ebenso in dessen nachträgliche Interpretation bietet: Sozusagen eine Kollektivbiographie des Schweizer Trotzkismus als Teil der Neuen Linken nach 1968. Zum Schweizer Trotzkismus (und seinen schriftlichen Hinterlassenschaften) vor 1968 liegt auch die Ausgabe 2 der neuen und bemerkenswerten historischen Zeitschrift Aether vor. Diese ist Open Access zugänglich(2).

Jacqueline Heinen…und 110 andere: 1968… Jahre der Hoffnung. Rückblick auf die Revolutionäre Marxistische Liga / Sozialistische Arbeiterpartei, Edition 8, Zürich 2019, 344 Seiten

1 Vgl. http://archives.aehmo.org

2 Archive des Trotzkismus. Schweizer Trotzkist*innen im kalten Krieg (Aether 2), Zürich 2018, URL: www.aether.ethz.ch/ausgabe2