Nachricht | International / Transnational - Westeuropa - Osteuropa «Alles geht vorüber, auch die Jahre hinter Gittern»

Aleksej «Sokrat» Sutuga, 1986 – 2020. Ein Nachruf

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«Der Stein, der ein Felsen war» prangt als letzte Botschaft auf seinem Grabstein.

Am 1. September 2020 ist in Moskau unter äußerst tragischen Umständen Aleksej Sutuga, einer der bekanntesten Antifaschisten Russlands, verstorben. Er hinterlässt einen zehnjährigen Sohn und die Leerstelle eines vielseitig politisch interessierten und engagierten Menschen, der dafür gleich mehrfach einen hohen Preis bezahlen musste. Die Erinnerung wird bleiben, an einen humorvollen und aufrichtigen Typen, der weit über die Grenzen Russlands mit vielen Menschen in regem Kontakt und Austausch stand und trotz seiner streitbaren Vita vielfach als Vermittler wirkte und geschätzt war. Diese Wertschätzung seiner Person und seines Handels äußert sich seit Ende August in zahlreichen Beileidsbekundungen und Solidaritätsveranstaltungen in Russland sowie darüber hinaus, wie etwa in Israel, Polen, der Ukraine, Belarus und Deutschland.

Foto: memohrc.org

Bereits in jungen Jahren positionierte sich der aus Irkutsk in Sibirien stammende Aleksej offen als Antifaschist und engagierte sich in der «Autonomen Aktion» – einer anarcho-kommunistischen Vereinigung und war später einer der ersten RASH-Skinheads (Red and Anarchist Skinheads) in Russland. Seinen Spitznamen Sokrat erhielt er von seinen Freunden, da er häufig den griechischen Philosophen Sokrates aus Platons Werken zitierte. Frühzeitig musste er schmerzvoll erleben, dass politisches Engagement in Russland einen hohen Preis haben kann. 2007 beteiligte er sich unweit von Irkutsk an einem Zeltlager als Protest gegen den Bau einer Urananreicherungsanlage, das in der Nacht von Faschisten überfallen wurde. Bei dem Angriff wurde der 26-jährige Ilja Borodajenko getötet. Sieben weitere Menschen wurden zum Teil schwer verletzt, darunter auch Aleksej.

Philipp Gliesche ist Projektmanager für Russland und die Ukraine im Referat Europa.

Auch in Moskau, wohin er wenig später zog, war die Situation in den 2000er Jahren von extremer Gewalt mit zahlreichen Todesopfern im Zuge politischer Auseinandersetzungen geprägt. Opfer rassistischer Gewalt waren insbesondere Migrant*innen aus dem Kaukasus und Zentralasien sowie Studierende aus Afrika. Ebenso häufig waren Treffen und Konzerte, nicht ausschließlich von Antifaschisten und Punks besucht, den Überfällen und der Vereinnahmung durch Faschisten schutzlos ausgeliefert. Geprägt von diesen Erfahrungen begannen Ivan Khutorskoj und Fjedor Filatov mit der Selbstorganisation von Veranstaltungsschutz und Selbstverteidigung. Durch seine Bekanntschaft zu beiden war auch Aleksej zunehmend und bis in die Gegenwart darin eingebunden. Der Schutz von Veranstaltungen wurde in der Folge nicht nur professioneller, sondern sorgte dafür, dass die Anzahl der Überfälle auf Veranstaltungen in Moskau abnahm. Sowohl Khutorskoj als auch Filatov bezahlten ihr politisches Engagement und ihre öffentliche Bekanntheit mit ihrem Leben. 2008 wurde Fjedor Filatov vor seinem Wohnblock erstochen, Ivan Khutorskoj ein Jahr später in seinem Treppenhaus erschossen. Beide wurden von Mitgliedern der Kampforganisation russischer Nationalisten (BORN) ermordet.

Aleksej wurde auf Grund von politischen Auseinandersetzungen, die vor Gericht nicht zweifelsfrei aufgeklärt wurden, 2011 und 2014 zu Haftstrafen wegen Körperverletzung verurteilt. Im zweiten Prozess erhielt er eine Strafe von drei Jahren und einem Monat Arbeitslager im Gebiet Irkutsk. Das dortige Lager ist für seine schlechten Haftbedingungen bekannt, zudem musste er wiederholt in Isolationshaft. Die russische Menschenrechtsorganisation Memoriallistete ihn als politischen Gefangenen. Nach seiner Entlassung trat er, trotz des Wissens um das damit einhergehende Risiko, öffentlich in Talkshows und Veranstaltungen auf. Zudem brach er mit seinem bisherigen Straight Edge-Lebensstil (dem kompletten Verzicht auf jegliche Art von Drogen) und war auf Grund seiner abgesessenen Haftstrafe beruflichen Schwierigkeiten ausgesetzt. Trotz allem blieb er vielfach politisch engagiert, half weiter als Ordner auf Konzerten und feministischen Veranstaltungen, unterstützte politische Angeklagte und Gefangene, sowie Opfer von Folter durch staatliche Stellen in Russland. Mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung war er durch ein Projekt verbunden, dass zu Netzwerken extrem rechter Akteure auf (außer-)parlamentarischer Ebene in Europa recherchiert.

Seine Erlebnisse während der Zeit in Haft verarbeitete er in seinem im Mai dieses Jahres erschienenen Buch «Gefängnisdialoge» und äußert sich darin wie folgt: «In Russland landet ein Mensch früher oder später hinter Gittern, besonders bei einem bestimmten Lebensstil und für die Dinge, die er tut. Wofür ich mich engagiert habe, musste früher oder später zu solchen Konsequenzen führen.»

Den Abend des 23. August verbrachte Aleksej zusammen mit Bekannten im Zentrum Moskaus. Nachdem einer seiner Begleiter in einem Einkaufsladen mit einer Verkäuferin in einen verbalen Streit geriet, wurde die Gruppe von vier Männern verfolgt. In der anschließenden Auseinandersetzung erlitt er durch einen Sturz auf den Kopf schwere Verletzungen und fiel ins Koma. Noch in derselben Nacht wurden vier Männer verhaftet, die seitdem in Untersuchungshaft sitzen. Ein politisches Motiv scheint ausgeschlossen. Nur wenige Tage später, am 1. September, ist Aleksej im Alter von nur 34 Jahren aus dem Koma nicht mehr erwacht. Im Sacharow-Zentrum in Moskau fand am 19. September eine öffentliche Trauerfeier statt, die anschließende Beerdigung erfolgte im engsten Kreis. Gegenwärtig sammelt die Familie Spenden zur Deckung der Kosten für die Anwältin sowie der Beerdigung.