Nachricht | Parteien / Wahlanalysen - Partizipation / Bürgerrechte - Zentralasien Neuaufstellen – Kirgistan nach den Wahlen

Blick auf die turbulente erste Woche nach den Parlamentswahlen mit anschließendem Staatsstreich

Information

Vor einem Wahllokal in Bischkek (Kirgistan) am 4.10.2020 Foto: Yulia Kalinichenko

Am 4. Oktober 2020 fanden in Kirgistan Parlamentswahlen statt. Noch während der Vorbereitung auf die Wahlen wurde deutlich, dass sie zu einem einmaligen politischen Ereignis für das Land werden würden. Viele der Parteien, besonders Oppositionsparteien, stellten eine bisher beispiellose Anzahl junger Kandidat*innen auf. Erstmals in der Geschichte Kirgistans gelang es einer Partei, die Wahlkaution in Höhe von 5 Millionen KGS (entspricht ca. 53.500 EUR) durch Crowdfunding zu erbringen. Diese Wahlen waren auch durch skandalöse diskreditierende Falschmeldungen geprägt, ebenso dadurch, dass einige Parteien in großem Umfang Wählerstimmen kauften, was sich positiv auf ihr Wahlergebnis auswirkte. Mit wirklichen Erschütterungen sahen sich die Wähler des Landes allerdings erst nach den Wahlen konfrontiert. In der Nacht vom 5. zum 6. Oktober kam es in Kirgistan erneut zu einem Staatsstreich.

Yulia Kalinichenko ist als Projektmanagerin des Regionalbüros Zentralasien der Rosa Luxemburg Stiftung in Almaty (Kasachstan) tätig. Sie stammt aus Bischkek, Kirgisistan, und studierte Internationale Beziehungen und Europastudien.

Am Abend des 4. Oktober wurden die vorläufigen Ergebnisse der Parlamentswahlen verkündet: Mit erheblichem Vorsprung führten zwei Parteien, die mit dem gegenwärtigen Machtregime aufs Engste verbunden sind – Birimdik (Einheit; die neu gegründete Partei des Präsidenten Kirgistans) und Mekenim Kirgistan (Meine Heimat Kirgistan; die Partei Raimbek Matraimows, eines der reichsten Männer Kirgistans und graue Machteminenz, verstrickt in die größten Korruptionsfälle des Landes). Die notwendige 7-Prozent-Hürde hatten auch die systemischen Parteien Kirgistan und Butun Kirgistan (Ganzheitliches Kirgistan) genommen. Nach den vorläufigen Ergebnissen konnte keine Oppositionspartei ausreichend Stimmen auf sich vereinigen, um ins Parlament zu gelangen. Faktisch zeitgleich mit der Verkündung der Wahlergebnisse erklärten einige Oppositionsparteien, diese nicht anzuerkennen.

Zu einem der Stolpersteine in Bezug auf die Wahlergebnisse wurde die regionale Frage.  Nach den vorläufigen Ergebnissen der Wahlen hatten es jene Parteien ins Parlament geschafft, die in hohem Maße die Wählerschaft der südlichen Regionen repräsentieren. Parteien, die traditionell mit den nördlichen Regionen in Verbindung gebracht werden, wurden dabei an den Rand gedrängt. Weiterhin verschärft wurde die Situation aus Sicht der Unterlegenen aufgrund des Umstandes, dass der Präsident selbst aus dem Süden kommt und in der Regel Schlüsselpositionen in seiner Mannschaft ebenfalls mit Vertretern aus den südlichen Regionen besetzt. Dieser sich in den Machtstrukturen niederschlagende Regionalismus ist eine der schwierigsten sozialpolitischen Fragen des Landes, da der „Landsmannschaftsfaktor“ und das Wirken von Verwandschaftsbeziehungen traditionell eine gewichtige Rolle bei der Entscheidungsfindung spielen. Die dominante regionale Repräsentanz im Parlament kann so zu einer Zuspitzung der innenpolitischen Situation führen.

Parallel dazu zirkulierten in kirgisischen Messenger-Diensten und sozialen Netzwerken Video- und Fotobeweise für vielfältige Verstöße, die im Laufe der Wahlen festgehalten wurden: WählerInnen fotografierten ihre Wahlzettel in den Kabinen, es kam zu regelwidrigen Masseneinwürfen von Wahlzetteln, Unbekannte karrten ganze Gruppen von WählerInnen zu Wahllokalen und verteilten nach der Wahl Geldgeschenke.

Seit dem Morgen des 5. Oktober begannen sich auf dem zentralen Platz Bischkeks die Anhänger jener Parteien zu versammeln, dies es nicht ins Parlament geschafft hatten. Immer deutlicher wurden die Zersplitterung und der Unwille zur Einigung der Opposition – weder konnten sich die Anwesenden auf einen gemeinsamen Protestort, noch auf eine gemeinsame Erklärung einigen. Was davon unberührt blieb, war die grundsätzliche Forderung an den Präsidenten nach Annullierung der Ergebnisse der Parlamentswahlen und Neuwahlen. Der Präsident beschränkte sich zu diesem Zeitpunkt lediglich auf kurze, wenig gehaltvolle Kommentare, wonach unabhängige BeobachterInnen keine schwerwiegenden Verstöße feststellen konnten, und das kirgisische Volk seine Wahl getroffen hätte. 

Am Abend des 5. Oktober kamen auf dem zentralen Platz mehrere Tausend Protestierende zusammen. Den Anführern von 11 oppositioneller Parteien war es doch noch gelungen, die eigene Anhängerschaft an einem Ort zu versammeln und ein Memorandum zu unterzeichnen, in dem sie ihr Nichteinverständnis mit den Ergebnissen der Wahlen ausdrückten. Wie bekannt wurde, hatten sich Autokolonnen aus den Regionen auf den Weg nach Bischkek gemacht. Die politischen Präferenzen (derer, die sich auf den Weg nach Bishkek gemacht hatten- d.Ü.) blieben jedoch unklar. Zur gleichen Zeit aktualisierte die Zentrale Wahlkommission die Ergebnisse der Wahlen nach der manuellen Stimmenauszählung. Auch wenn nach der neuen Datenlage die Zahl der Parteien stieg, die sich der 7-Prozent-Hürde annäherten, verändert sich das politische Kräfteverhältnis im künftigen Parlament nur unbedeutend.

Gegen 18 Uhr bereiteten sich auf dem angrenzenden Platz staatliche Sicherheitsstrukturen darauf vor, die Proteste aufzulösen. Die Situation auf dem zentralen Platz begann sich aufzuheizen. Ungeachtet der Tatsache, dass die Oppositionsparteien lediglich die Annullierung der Wahlergebnisse und eine Wiederholung der Wahlen forderten, taten sich in der Menge jene hervor, die ins Weiße Haus (das staatliche Präsidial- und Parlamentsgebäude) vordringen wollten. Erste Versuche, über die Umzäunung des Gebäudes zu klettern, trafen auf Gegenmaßnahmen staatlicher Sicherheitsorgane. Die Protestierenden wurden mit Blendgranaten, Tränengas und Gummigeschossen auseinandergetrieben. Darüber hinaus unterdrückten bis zum Morgen des 6. Oktober zentrale Netzbetreiber des Landes Telefonverbindungen und das mobile Internet. Laut Gesundheitsministerium wurden im Zuge der Auflösung der Demonstration 590 Menschen verletzt. Ein Mensch verlor sein Leben.

Gegen Mitternacht erklärte der Präsident Kirgistans, er sei bereit, sich am nächsten Morgen mit den Führern der Oppositionsparteien zu treffen. Allerdings hatte dies keinerlei Bedeutung mehr. Den staatlichen Sicherheitsorganen gelang es nicht (oder sie wollten es nicht), die Protestierenden auseinanderzutreiben: gegen 4 Uhr früh drangen Letztere in das Gebäude ein und nahmen es unter ihre Kontrolle. Seine Leibwache musste den Präsidenten in Sicherheit bringen. Sein Aufenthaltsort ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt (9. Oktober2020) unbekannt, das Land verlassen hat er allerdings nicht.

Die Ereignisse in der Nacht vom 5. auf den 6. Oktober führten zu einer politischen und einer Führungskrise. Seit dem frühen Morgen des 6. Oktober versuchten einige Oppositionsparteien verschiedene staatliche und kommunale Organe sowie staatliche Schlüsseleinrichtungen, darunter die Generalstaatsanwaltschaft, das Gesundheitsministerium, die Stadtverwaltungen von Bischkek und Osch, den internationalen Flughafen «Manas», sowie den nationalen Netzbetreiber «Megakom», unter ihre Kontrolle zu bekommen. Keiner dieser Versuche kann als legitim gelten.

Außerdem wurde am Morgen des 6. Oktober bekannt, dass der ehemalige Präsident Almasbek Atambajew sowie der frühere Abgeordnete Sadyr Schaparow, die beide eine Haftstrafe verbüßten bzw. aufgrund politisch motivierter Anschuldigungen in Untersuchungshaft saßen, wieder auf freiem Fuß sind. Über die Umstände ihrer Haftentlassung ist nichts bekannt. Es wird jedoch angenommen, dass diese auf Grundlage einer Gerichtsentscheidung erfolgte.

Des Weiteren gab es am 6. Oktober Berichte, dass mindestens 6 von ausländischen Investoren in verschiedenen Landesteilen betriebene Goldgruben von lokalen Bewohnern besetzt und geplündert wurden, wobei es zur Vertreibung ausländischer Arbeiter kam.

Im Laufe des Tages wurde deutlich, dass mehrere über das Land verstreute politische Gruppen versuchten, die Situation unter Kontrolle zu bekommen. Nicht eine dieser Gruppen bewegte sich dabei auf legalem Grund. Eine dieser Gruppen nennt sich Koordinationsrat, ihm gehören erfahrene Politiker an, die in ihrer Mehrzahl nicht an den Parlamentswahlen teilnahmen, dabei jedoch mit jenen Parteien verbandelt sind, die es ins Parlament geschafft haben. Organisiert ist diese Gruppe nach dem Prinzip einer Provisorischen Regierung, wie sie in Kirgistan 2010 nach dem Staatsstreich existierte. Ein derartiger Koordinationsrat stellt jedoch keine Form von Administration dar, wie sie von der Verfassung vorgesehen ist, und ist daher illegitim.

Eine andere Gruppe von Vertretern der Opposition erkennt weder die Legitimität des Koordinationsrats noch die der provisorisch von anderen Gruppen gewählten Anführer und meint, dass die Macht in die Hände der Jugend gehöre. Politiker, die in der Vergangenheit bereits von sich reden gemacht haben, sollten durchleuchtet werden.

Das derzeit einzig legitime Organ bleibt das Parlament, da die Abgeordneten der letzten Legislaturperiode offiziell noch nicht entlassen sind. Den Entscheidungen der gerade gewählten Abgeordneten fehlt es ebenfalls an Legitimität. Am 6. Oktober führten die Abgeordneten zwei separate Sitzungen durch. Das notwendige Quorum wurde auf beiden Veranstaltungen verfehlt. Dessen ungeachtet, wählte eine der Gruppen einen neuen Parlamentssprecher und ernannte danach Sadyr Schaparow, der kurz zuvor aus der Haft befreit worden war zum Interimspremier. Diese Entscheidung wurde von der anderen Gruppe nicht anerkannt.

Nach Meinung vieler Experten gibt es gegenwärtig nur einen Ausweg aus der entstandenen politischen Krise. Das aktuelle Parlament muss eine Sitzung durchführen, dabei Beschlussfähigkeit sicherstellen und einen Sprecher bestimmen. Danach muss die Frage nach der Zukunft des amtierenden Präsidenten in Angriff genommen werden. Ist er nicht bereit, freiwillig zurückzutreten, sollte das Parlament ein Amtsenthebungsverfahren einleiten. Außerdem muss ein Datum für neue Parlamentswahlen festgelegt werden, da die Ergebnisse der Wahlen vom 4. Oktober von der Zentralen Wahlkommission annulliert wurden.

Am Morgen des 7. Oktober blieb die Situation im Land unübersichtlich. Noch immer war nicht klar, ob es legitimierte Kräfte gibt, die bereit sind, Führungsfunktionen zu übernehmen. Die Opposition war bisher uneins. Gleichzeitig erklärt der amtierende Präsident Sooronbaj Scheenbekow, dass er immer noch der legitime Präsident sei, obwohl er faktisch nicht länger über Instrumente verfügt, die es ihm erlauben würden, die Verwaltung des Landes wieder in die eigenen Hände nehmen zu können. Einfache Bürger versuchen, Sicherheit für das kleine und mittlere Unternehmertum Bischkeks zu gewährleisten und organisieren sich in Selbsthilfegruppen, um Progrome und Plünderungen zu verhindern. Die Strafverfolgungsorgane unternehmen allem Anschein nach wenig zur Aufrechterhaltung der Rechtsordnung und halten sich aus den laufenden Ereignissen heraus.

In den letzten Tagen wurden in den kirgisischen Massenmedien und sozialen Netzen immer wieder Parallelen zwischen den Ereignissen in Belarus und Kirgistan gezogen. Bis zu den jüngsten Ereignissen begeisterten sich die KirgistanerInnen für den friedlichen Protest der BelarussInnen. Allerdings unterschieden sich Art und Weise, in der Protestierende und Strafverfolgungsorgane in beiden Ländern aneinandergerieten, fundamental voneinander. Im Unterscheid zu Belarus konnten oder wollten die kirgistanischen Strafverfolgungsorgane aus irgendeinem Grund dem Ansturm der Menge keinen anhaltenden Widerstand entgegensetzen, trotz offensichtlichem Befehl von oben, die auf dem Platz versammelten Massen auseinanderzujagen. Eine Ursache dafür könnte sein, dass der Umfang der Proteste schwer prognostizierbar war und sie sich deshalb nur ungenügend vorbereiten konnten. Anderseits verfügt Kirgistan über ausreichend traurige und blutige Erfahrungen mit Staatsstreichen. Die Tatsache, dass in der Vergangenheit die Strafverfolger hart gegen die eigenen BürgerInnen vorgingen, hat in der Gesellschaft tiefe Empörung ausgelöst. Nicht ausgeschlossen, dass die traurigen Erfahrungen der Vergangenheit diesmal als Lehre dienten.

Yulia Kalinichenko – 9. Oktober 2020, Bischkek