Nachricht | Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Wirtschafts- / Sozialpolitik - Westeuropa - Gesundheit und Pflege Ein neuer Gesundheitsbegriff, statt Selbstoptimierungs-Apologie

Zehn ergänzende Regeln gesund zu bleiben

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The Struggle of Health
The Struggle of Health, Rosa-Luxemburg-Stiftung Büro Brüssel, 2018

Wie im Namen der Gesundheit profitorientierte und unsoziale Politik gemacht werden kann, hat sich in den vergangenen Jahrzehnten oft gezeigt. Dabei eignet sich dieser Begriff eigentlich auch für das Gegenteil, als gemeinsame Kampfparole verschiedenster emanzipatorischer Bewegungen. Denn in unterschiedlichen Auseinandersetzungen überall auf der Welt, spielen gesundheitliche Aspekte eine wesentliche Rolle, beziehungsweise, der Ausgang dieser Auseinandersetzungen hat direkte Auswirkungen auf die Gesundheit von Menschen. Um ihn auf diese Weise zu nutzen, muss der Begriff allerdings zuerst aus seiner individualistischen Verengung befreit werden. Persönliche, biologische und genetische Faktoren, so eine Untersuchung aus Kanada, beeinflussen den Gesundheitszustand der Bevölkerung nur zu 15 Prozent, der große Rest setzt sich zusammen aus Umwelt-Einflüssen (10 Prozent), dem Zustand des Gesundheitssystems (25 Prozent) sowie den sozialen und ökonomischen Bedingungen (50 Prozent). So gesellschaftlich definiert, muss die Frage »Wie bleibe ich gesund?« grundlegend anders beantwortet werden, als es gängige Selbstoptimierungs-Propheten gewöhnlich nahelegen. Beispielsweise lassen sich dann, angelehnt an die «Zehn Regeln gesund zu bleiben» des ehemaligen britischen Regierungsberaters in Gesundheitsfragen Liam Donaldson, zehn neue Regeln formulieren, wie es der Gesundheitsforscher David Gordon von der Universität Bristol schon 1999 getan hat:

1. Aufhören zu rauchen, oder falls das nicht gelingt, deutlich weniger rauchen!

1. Aufhören arm zu sein, oder, falls das nicht gelingt, nicht über längere Zeit arm sein!

2. Ausgewogene Ernährung mit viel Obst und Gemüse!

2. Keine armen Eltern haben!

3. Viel Bewegung!

3. Ein Auto besitzen!

4. Stressmanagement durch persönliche Entspannung und Auszeiten!

4. Stressige, unterbezahlte manuelle Jobs vermeiden!

5. Alkoholkonsum vermeiden oder mäßigen!

5. Feuchte und unzulängliche Behausungen vermeiden!

6. Nicht zu viel Sonne und Kinder vor Sonnenbrand schützen!

6. Sich einen Auslandsurlaub in der Sonne leisten können!

7. Vor sexuell übertragbaren Krankheiten schützen!

7. Vor Arbeitslosigkeit schützen!

8. Vorsorgeuntersuchungen gegen Krebs in Anspruch nehmen!

8. Als Rentner, Behinderter oder Arbeitsloser alle Sozialleistungen in Anspruch nehmen!

9. Unfälle vermeiden, die Verkehrsregeln einhalten!

9. Nicht an einer Hauptverkehrsstraße wohnen oder an einer Fabrik, die die Luft verpestet!

10. Erste-Hilfe-Grundregeln lernen!

10. Anträge ausfüllen lernen!

Unter dem Banner eines so definierten gesellschaftlichen Gesundheitsbegriffs lassen sich zahlreiche Bewegungen zusammenzubringen: Streiks für bessere Arbeitsbedingungen in den Minen eines Landes mit Protesten gegen Wuchermieten für marode Wohnungen anderswo, Forderungen nach sauberem bezahlbaren Trinkwasser mit denen nach Kündigungsschutz, Löhnen die zum Leben reichen und bezahlbaren guten Lebensmitteln. Konkrete lokale Auseinandersetzungen um Zugang zum Gesundheitssystem, wie der Kampf gegen die Schließung einer Klinik, verbinden sich mit globalen Fragen wie der nach Profitinteressen von Pharmakonzernen.

Parallel zur Kritik an den Unzulänglichkeiten von Gesundheitssystemen, die in unterschiedlichen Ländern in unterschiedlichem Maße privatisiert und an Profitinteressen ausgerichtet werden, entstehen vielerorts konkrete Alternativen, beispielsweise die solidarischen Kliniken die nach der Bankenkrise in Griechenland, Spanien und Italien gewachsen sind. Auch die Wiederentdeckung traditionellen medizinischen Wissens indigener Völker in Lateinamerika ist Teil des Kampfes um Gesundheit. Im Netzwerk «People‘s Health Movement» (PHM) haben sich Aktivist*innen, Forscher*innen und zivilgesellschaftliche Organisationen aus bisher 70 Ländern zusammengeschlossen, um eine global agierende progressive Gesundheitsbewegung zu unterstützen. Deren zentrales Anliegen beschreibt ein Text in der Broschüre The Struggle for Health. An emancipatory approach in the era of neoliberal globalization (RLS Brüssel 2018) so: «Dem Recht auf Privateigentum wollen wir Gemeingüter, soziale Gerechtigkeit und Ökologie entgegensetzen; statt Kundenzufriedenheit zählen für uns Würde und Respekt; der individuellen Verantwortung für Krankheit halten wir deren soziale Bedingungen entgegen. Gegen das mainstream-Paradigma eines individualistischen, anthroprozentrischen und biomedizinischen Gesundheitsansatzes entwickeln wir ein neues Paradigma: ein kollektives Bewusstsein für die sozialen wie biologischen Bedingungen für Gesundheit, welche Menschen mit ihren Ökosystemen verbinden.»

Daraus leiten die Autore*innen fünf konkrete politische Forderungen ab, die im Namen der Gesundheit erhoben werden müssen: ein ambitionierter ökologischer Umbau der Wirtschaft, ein klares Bekenntnis zum Frieden, entschiedene Bekämpfung der Armut mit der dafür notwendigen Lohn, Bildungs- und Wohnungspolitik, Demokratisierung aller gesellschaftlichen Institutionen sowie niedrigschwellige und umfassende Gesundheitssysteme, die an den tatsächlichen Bedürfnissen der Menschen ausgerichtet sind.

Um derart weitreichende Forderungen in der gegenwärtigen Welt umzusetzen, sind breite, länderübergreifende Bündnisse unverzichtbar. Weil die Bedeutung von Gesundheit überall unmittelbar verstanden wird, lassen sich, so die Hoffnung des PHM, auch Konflikte überwinden, die emanzipatorische Bewegungen sonst häufig auseinanderbringen. So betonen die Autor*innen konkret die Notwendigkeit, dass sich Patient*innen mit Beschäftigten im Gesundheitssektor solidarisieren. Gleichzeitig plädieren sie für Offenheit in der alten Streitfrage nach der Rolle des Staates: Zwischen denen, die für eine Kontrolle durch die öffentliche Hand plädieren, und jenen, die auf Selbstorganisation und Autonomie setzten, sei das letzte Wort noch nicht gesprochen. In der aktuellen Situation gelte es vor allem, nicht den Profiteuren einer weiteren Kommerzialisierung des Gesundheitswesens in die Hände zu spielen, die mit dem positiv besetzten Begriff «Bürgerbeteiligung» gegen die öffentliche Gesundheitsfürsorge Front machen. «Trotz seiner Schwächen ist der Staat noch immer ein Garant öffentlicher Interessen. Direkte Bürger*innen-Beteiligung und öffentliche Einrichtungen ergänzen sich gegenseitig und jede Gesundheitspolitik sollte sich an Beidem orientieren.»