Nachricht | Kapitalismusanalyse - Westeuropa - Osteuropa - Südosteuropa - 30 Jahre Transformation in Osteuropa «Die Nation kann nicht in der Opposition sein»

Die Neuordnung der Beziehungen von Staat und Klassen in Ungarns geopolitischer Integration seit den 1970er Jahren

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Autor*innen

Tamás Gerőcs, Agnes Gagyi,

Protest gegen die Regierung von Premierminister Viktor Orban am 21. April 2018 in Budapest, Ungarn
Protest gegen die Regierung von Premierminister Viktor Orban am 21. April 2018 in Budapest, Ungarn picture alliance / REUTERS | BERNADETT SZABO

In diesem Artikel sollen das gegenwärtige ungarische Regime und seine internationalen Allianzen aus dem historischen Kontext heraus erklärt werden, indem die Integration Ungarns in die sich seit den 1970er Jahren verändernden weltwirtschaftlichen und geopolitischen Beziehungen nachgezeichnet wird. Neben der Krise des Staatssozialismus markiert diese Zeit auch den Beginn dessen, was marxistische politische Ökonom*innen als den «langen Abschwung» des globalen kapitalistischen Zyklus nach 1945 bezeichnet haben (Brenner 2006). Hierzu fasst dieser Artikel drei Phasen der externen Integration Ungarns seit den 1970er Jahren kurz zusammen und zeigt, wie die sich verändernde weltwirtschaftliche Integration ihrerseits auf einer Neuordnung der internen Beziehungen von Staat und Klassen beruht.

Spätsozialistische Krise in Ungarn: der Sturz des reformsozialistischen «Brückenmodells»

Die Reformperiode, die auf die Revolution von 1956 folgte, förderte die Marktorientierung und priorisierte bei den Bemühungen um politische Legitimität wirtschaftliches Wohlergehen gegenüber der ideologischen Kontrolle. Die Reformen im Rahmen der externen Integration brachten ein Modell hervor, das Gerőcs und Pinkasz (2018) als «Brückenmodell» bezeichnet haben: Ungarn importierte westliche Technologie, die es auf dem Comecon-Markt im Austausch gegen subventioniertes sowjetisches Rohöl weiterverkaufte, welches dann in den Westen re‑exportiert wurde. In Folge der Ölpreisschocks der 1970er Jahre geriet die Handelsbilanz, auf der dieses Modell beruhte, jedoch in Schieflage. Da Ungarns Zahlungsbilanz immer weiter in den roten Bereich rutschte, sah sich das Land zunehmend gezwungen auf günstige Kredite zurückzugreifen, die damals auf den internationalen Märkten verfügbar waren. Die ungarischen Wirtschaftspolitiker*innen hatten gehofft, dass die kreditbasierte industrielle Entwicklung die Produktion von Gütern ermöglichen würde, die sich auf westlichen Märkten hätten verkaufen lassen und damit zum Ausgleich der Importkosten hätten beitragen können. Stattdessen geriet Ungarn, wie viele andere Nicht-Kernländer in dieser Ära, in die Schuldenfalle.

Agnes Gagyi ist Soziologin und arbeitet am Institut für Soziologie und Arbeitswissenschaft der Universität Göteburg und ist Mitglied der Arbeitsgruppe für Öffentliche Soziologie «Helyzet» in Budapest. Ihre Forschungsschwerpunkte sind politische und soziale Bewegungen in Osteuropa in Hinblick auf die langfristige ökonomische und geopolitische Integration der Region.

Tamás Gerőcs ist Politikökonome und promoviert derzeit an der State University of New York, Binghamton. Er ist Research Fellow am Institute of World Economics, Centre of Economic and Regional Studies in Ungarn und Mitglied der Arbeitsgruppe für Öffentliche Soziologie «Helyzet» in Budapest. Seine Forschungsschwerpunkte sind die semiperiphere abhängige Entwicklung in Osteuropa und die Arbeitsverhältnisse in der ungarischen Autoindustrie.

1981 trat Ungarn dem Internationalen Währungsfonds (IWF) bei und implementierte unter der Aufsicht internationaler Organisationen ein Spar- und Liberalisierungsprogramm, das dem allgemeinen neoliberalisierenden Trend der damaligen Zeit entsprach. Unterstützt wurde diese Linie in Ungarn durch eine sich festigende Allianz zwischen dem Reformflügel der sozialistischen Partei, der an Privatisierungen interessierten Direktor*innen von Staatsunternehmen, die über langjährige informelle Beziehungen zum Apparat des Staates verfügten, marktorientierte, monetaristische Technokrat*innen (die oft simultan in staatlichen Positionen an Reformprogrammen und als private Berater*innen von Manager*innen tätig waren, die nach Wegen zur Privatisierung suchten), und politische Dissident*innen, die sich von der Kritik am sozialistischen System zunehmend zur Unterstützung eines Übergangs zu einem System wandten, das auf westlichem Liberalismus und freien Märkten basierte.

In der späten Phase des Staatssozialismus übte das marktfreundliche Bündnis ausdrückliche Kritik an sozialen Schieflagen, von der sie sich Unterstützung für ihre politischen Ziele und ihre Kritik am Staatssozialismus erhofften. Beispielsweise verwiesen sie auf die sichtbare Armut sowie auf die umfassende Sphäre der informellen Ökonomie, die nach 1982 legalisiert worden war, als Argument gegen das System. Diese «Parallelwirtschaft» beschäftigte Massen von Industrie- und Landarbeiter*innen, die in Privat- oder Haushaltsbetrieben zusätzliche Schichten leisteten. Während diese Beschäftigungsverhältnisse für viele Haushalte objektiv größeren Wohlstand bedeuteten (bspw. wurden während der 1980er Jahre aus dem Einkommen der Parallelwirtschaft mehr Eigenheime auf dem Land gebaut als je zuvor während der sozialistischen Zeit), diente die Legalisierung der zweiten Ökonomie aus einer weiter gefassten Perspektive der Kompensation  des fallenden Lebensstandards durch die Formalisierung der informellen ökonomischen Aktivitäten, durch die die Menschen sich ein zusätzliches Einkommen in Zweitjobs erarbeiteten. Trotz dieser von unten nach oben stabilisierend wirkenden Funktion der nicht-regulären Arbeit waren die Eliten das Gesicht dieser zweiten Wirtschaft, die die Marktorientierung als Keim eines marktwirtschaftlichen Unternehmertums propagierten: Es war das Versprechen vom freien Markt, dem sich die gesamte Bevölkerung erfolgreich würde widmen können, sobald einmal die Beschränkungen der Staatswirtschaft aufgehoben waren. Allerdings berücksichtigten diese Narrative nicht, dass die Arbeitsplätze in den Staatsbetrieben, Subventionen für den Lebensunterhalt und die von den staatlichen Unternehmen bereitgestellte Infrastruktur, die die Arbeiter*innen bei ihrer Tätigkeit in der zweiten Wirtschaft nutzten, eine notwendige Bedingung darstellten, ohne die diese Art der Mischwirtschaft aufgrund ihrer Abhängigkeit von staatlicher Produktion und Umverteilung zum Scheitern verurteilt war.

Die 1990er und 2000er Jahre: Privatisierung, ausländische Direktinvestitionen und eine auf Schulden basierte Entwicklung

Während des Regimewechsels befand sich Ungarn in einer Situation wachsender Auslandsverschuldung und dringenden Kapitalbedarfs. In dieser Lage spielten internationale Organisationen und das westliche Kapital eine zentrale Rolle im abschließenden Privatisierungsprozess. Während das ausländische Kapital von unerschlossenen Binnenmärkten, einer relativ gut erhaltenen Infrastruktur und hochqualifizierten Arbeitskräften profitierte, die durch den Zusammenbruch der Staatsbeschäftigung extrem billig geworden waren, kämpften die Fraktionen der einheimischen kapitalistischen Klassen, die sich im Verlauf der schrittweisen Privatisierung gebildet hatten, darum, ihre Positionen in der Privatwirtschaft zu halten. Während dieses Integrationsmodell in den 1990er Jahren eine beträchtliche Summe ausländischer Direktinvestitionen ins Land brachte (im Tausch gegen eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und strenge Sparauflagen), verlangsamte sich mit dem Abschluss des Privatisierungsprozesses in den 2000er Jahren der Kapitalzufluss, und es folgte eine zweite schuldengetriebene Welle der wirtschaftlichen Entwicklung, bei der grundlegende Staatsausgaben von einer Aufsicht durch den IWF und EU-Transferleistungen abhängig gemacht wurden.

In der Politik bildeten sich während des Regimewechsels zwei in verschiedene Allianzen eingebundene Blöcke (Gagyi 2016). Die konservative Partei MDF propagierte ein protektionistisches und national orientiertes kapitalistisches Modell. Trotz ihres Wahlsiegs bei den ersten demokratischen Wahlen konnte sie ihr Programm angesichts der realen Macht internationaler Geber, des westlichen Kapitals und seiner lokalen Verbündeten nie offensiv umsetzen. Letztere wurden politisch vertreten durch liberale Parteien (SZDSZ und Fidesz), liberale Technokrat*innen, den dominierenden liberalen Flügel der Sozialistischen Partei und Fraktionen der mit der Sozialistischen Partei verbündeten einheimischen kapitalistischen Gruppen.

Die Konflikte auf politischer Ebene zwischen diesen beiden Blöcken bestimmten den Rahmen des politischen Diskurses der postsozialistischen Periode: Während die Konservativen davon sprachen, den «nationalen» Reichtum vor dem westlichen Kapital und seinen internen Verbündeten zu verteidigen, propagierte der liberal-sozialistische Block Märkte und Demokratie westlicher Prägung als objektiven Entwicklungspfad und wies jede soziale oder wirtschaftliche Kritik als nationalistisch zurück. Während die Politik des liberal-sozialistischen Blocks bis in die späten 2000er Jahre das global wirtschaftliche Integrationsmodell Ungarns dominierte, wurde die nationalistisch fundierte Kritik neoliberaler Globalisierung des konservativen Blocks zum wichtigsten Sprachrohr für eine Bevölkerung, die unter anhaltenden Sparmaßnahmen, einer zunehmenden Monetarisierung auch reproduktiver Aufgaben und dem Zusammenstreichen staatlicher Wohlfahrtsprogramme litt. Die nationalistische Kritik bot damit auch den zentralen ideologischen Rahmen, mit dem die aufstrebenden Mittelschichten ihre wachsende Desillusionierung über die gebrochenen Mobilitätsversprechen des Regimewechsels zum Ausdruck bringen konnten. In diesem Duett konservativer und liberaler Botschaften ging jede linke Kritik zwangsläufig unter. In den 2000er Jahren entwickelte sich schließlich eine nationalistisch begründete Antiglobalisierungsstimmung, die von konservativen Kräften gefördert, auf bestehenden rechten Subkulturen aufbaute und zu einer breiten populären Gegenkultur wurde.

Ein bedeutendes frühes Moment für diese Art von Bündnis lässt sich an den Beziehungen dieser beiden politischen Blöcke zu den Arbeiter*innenkämpfen während des Privatisierungsprozesses ablesen. Während der Bund Freier Demokraten (SZDSZ) und das Ungarische Demokratische Forum (MDF), die wichtigsten liberalen und konservativen Parteien zu jener Zeit, vor den ersten Wahlen einen Pakt schlossen, der politische Streiks und die Übernahme von Unternehmen durch ihre Belegschaften als mögliche Umsetzung der Privatisierung ausschloss, trat die MDF Anfang der 1990er Jahre dennoch an die Arbeiter*innenräte heran und versprach im Rahmen eines Bündnisses politische Unterstützung. Mit diesem Bündnis schuf die MDF ein Druckmittel gegen die mit den Sozialist*innen verbündete Leitungsebene der Großunternehmen. Während ihre politische Unterstützung nur minimale Ergebnisse zeitigte, erklärte sich die Arbeiter*innenräte-Bewegung 1993 zu einer christlichen Gewerkschaft, gab das Ziel der Übernahme der Betriebe durch die Belegschaft auf und arbeitet seither als Gewerkschaft im Bündnis mit konservativen Parteien weiter. Ein weiterer bedeutender Moment, der die Allianz zwischen konservativer Politik und den Kämpfen aus der Bevölkerung verdeutlichte, war die Protestwelle von 2006 mitsamt ihrer Folgen. Ausgelöst durch eine geleakte Rede des sozialistischen Premierministers Ferenc Gyurcsány, in der er zugab, im Wahlkampf über den Staatshaushalt gelogen zu haben, brachten die Proteste von 2006 Massen von Menschen auf die Straße, die vom neoliberalen Kurs postsozialistischer Politik desillusioniert waren. Zwar hatte die rechtsextreme Partei Jobbik die engsten Beziehungen zu den in den Protesten aktiven politischen Gruppen, dennoch war es im Nachgang die Partei Fidesz, die es schaffte, das Erbe der Proteste zum Anker ihrer Kampagne der «nationalen Befreiung» von der Herrschaft des westlichen Kapitals zu nutzen. Einer Kampagne, die ihr 2010 den Sieg mit einer Supermehrheit einbrachte.

Im Rahmen der Neuordnung des Verhältnisses von Staat und Klassen ist die Übernahme einer national-konservativ kapitalistischen Position durch Fidesz das dritte wichtige Moment, das hier hervorgehoben werden sollte. In den späten 1990er Jahren vollführte Fidesz eine ideologische Wende und übernahm explizit die Rolle, die zuvor das MDF innehatte. Diese Position, die sich ideologisch in gemäßigtem Nationalismus und dem Versprechen einer Verbürgerlichung Ungarns ausdrückte, brachte ihr 1998 den Wahlsieg ein. Ihr Programm blieb jedoch innerhalb eines Rahmens externer und interner kapitalistischer Bündnisse eingehegt, die mit dem liberal-sozialistischen Block verbündet blieben. Fidesz reagierte auf diese Beschränkung ihrer Gestaltungskraft und legte den Fokus auf die Schärfung ihres eigenen kapitalistischen Profils – sowohl durch staatlich geförderte Maßnahmen während ihrer Regierungszeit als auch durch den Aufbau neuer Allianzen mit dem einheimischen Kapital in Folge der Wahlniederlage 2002 (Scheiring 2020). Dieser Prozess wurde durch das Auseinanderbrechen der Allianz zwischen ungarischem Kapital und liberal-sozialistisch politischem Block begünstigt, da die Auflagen aus Schuldentilgung und neoliberalen Sparprogrammen, an deren Erfüllung EU-Transferleistungen hingen, es den liberal-sozialistischen Regierungen unmöglich machten, in dieser Richtung sinnvolle Ergebnisse zu erzielen. Ein weiterer wichtiger Schritt bei der Entwicklung neuer Bündnisse war die Entscheidung von Fidesz, nach der Wahlniederlage 2002 eine landesweite politische Bewegung mit dem Namen «Bürgerkreise» aufzubauen. Während Fidesz frühere Losung der Verbürgerlichung für desillusionierte Teile der Mittelklasse unter dem Motto «Die Nation kann nicht in der Opposition sein» sehr ansprechend gewesen war, nahm die Bewegung der «Bürgerkreise» nun auch Facharbeiter*innen für sich ein, die von der postsozialistischen Entwicklung desillusioniert waren. Damit gelang es ihr, diese als Teil einer landesweiten Struktur für politische Debatte und Aktion einzubinden, die zwar eine direkte demokratische Beteiligung an der nationalen Politik versprach, für den Wahlkampf jedoch als zentralisiertes und von oben dirigiertes System fungierte (Halmai 2011).

Das gegenwärtige Regime Orbáns: Neugestaltung der Beziehungen zwischen Staat und Klassen bei der Außenintegration nach 2010

Bereits in der zweiten Hälfte der 2000er Jahre schien sich das liberale Modell der weltwirtschaftlichen Integration Ungarns sowohl in wirtschaftlicher als auch in politischer Hinsicht zunehmend erschöpft zu haben. Die sozialistisch-liberalen Regierungen versuchten durch eine Erhöhung der Staatsausgaben und der Förderung der privaten Verschuldung in Fremdwährung dem Verlust an politischer Legitimität entgegenzuwirken und luden hierzu bereits 2006 internationale Organisationen zu einer Prüfung ein. Die Krise von 2008 versetzte diesem destabilisierenden Modell den Todesstoß. 2010 kehrte Fidesz mit einer Supermehrheit ins Parlament zurück, die der Partei ermöglichte, eine bedeutende Neuordnung der internen Beziehungen zwischen Staat und Klassen und der externen Allianzen vorzunehmen. Hierbei vermochte sie es, den durch die globale Krise eröffneten Spielraum zu einer Neuverhandlung der Beziehungen zum internationalen Kapital zu nutzen und Möglichkeiten für den Aufbau einer vom Staat protegierten nationalen Bourgeoisie auszuloten. Zur Durchsetzung und Verstetigung dieser Neuordnung schlug Fidesz den Weg einer zunehmenden Zentralisierung der administrativen und politischen Macht ein, einschließlich der Monopolisierung der Medien unter Parteikontrolle.

Anders als einige Botschaften der Partei vermuten lassen könnten, war das neue Regime dem internationalen Kapital nicht gänzlich feindlich gesinnt. Dies lag in der anhaltenden Abhängigkeit des Landes von externer Finanzierung begründet, die hauptsächlich in Form von Geldern aus dem Struktur- und Kohäsionsfonds der Europäischen Union sowie als ausländische Direktinvestitionen in den von westlichen Herstellern dominierten exportorientierten Sektoren der Wirtschaft erfolgte. Gerade hier spielte die deutsche Autoindustrie bedingt durch die Auslagerung von Kapazitäten nach Mitteleuropa nach 2008 die größte Rolle (Gerőcs und Pinkasz 2019). Bei den inländischen Dienstleistungen (insbesondere in den Bereichen Versorgung, Energie, Bau und Einzelhandel) initiierte die Regierung eine Reihe relativ feindlicher Übernahmen und beeinflusste den Wettbewerb zugunsten staatlich unterstützter nationaler Unternehmen. Im Bankwesen wurden Umstrukturierungen als Reaktion auf die Finanzkrise, wie etwa die erneute Stabilisierung des von Schuldnerinsolvenzen schwer getroffenen Sektors (an denen Hunderttausende von Haushalten beteiligt waren, die von den explodierenden Raten ihrer Schulden in Fremdwährung getroffen wurden), dazu genutzt, Platz für das ungarische Finanzkapital zu machen und gleichzeitig ausländischen Banken großzügig aus der Klemme zu helfen. Die Behandlung des Problems der Schulden in Fremdwährungen durch Fidesz ist ein Beispiel für die Phasen der Bündnisbildung: Obgleich die Rettung ungarischer Familien, die von ausländischen Banken in den Bankrott getrieben wurden, der Wahlslogan von Fidesz war und während des ersten Zyklus weithin als erfolgreiche Anstrengungen kommuniziert wurde, liefen die eigentlichen Maßnahmen nach 2014 darauf hinaus, das Bankensystem zugunsten des nationalen Kapitals zu stabilisieren und zu sanieren. Dies geschah derart, dass reiche Schuldner*innen und Schuldner*innen der oberen Mittelschicht durch staatliche Subventionen gerettet wurden, ohne den Interessen des ausländischen Kapitals zu schaden. Schuldner*innen hingegen, denen durch diese Maßnahmen nicht geholfen wurde, wurde der Weg zu einer Interessenvertretung versperrt.

Während gewisse Aspekte der zunehmenden Machtkonzentration, wie etwa die zunehmende Einflussnahme der Regierung auf Medien und Justiz oder Angriffe auf zivilgesellschaftliche Organisationen, international breit diskutiert wurden, tauchte eine weitere Säule der autoritären Politik in Ungarn in den von einer liberalen Agenda dominierten Debatten kaum auf. Die Rede ist von der Kontrolle der Arbeit, ein Punkt, an dem sich die Interessen des einheimischen Kapitals mit denen des internationalen Kapitals deckten. Mehrere aufeinanderfolgende kapitalfreundliche Reformen der Arbeitsgesetzgebung standen in direktem Zusammenhang mit den Bedürfnissen ausländischer Investoren. Deutsche Exportunternehmer*innen halfen 2012 bei der Ausarbeitung des neuen Arbeitsgesetzes, das den Gewerkschaften zentrale Rechte entzog. Ebenfalls auf ihren Druck hin wurden 2018 Änderungen in das Arbeitsgesetz aufgenommen, die von den Gewerkschaften als «Sklavengesetz» betitelt wurden, aufgrund des Grades, in dem sie die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer*innen gegenüber den Unternehmen einschränkten (Gagyi und Gerőcs 2019). 2020 begann die Regierung unter dem Vorwand der Covid-19-Pandemie per Dekret zu regieren. Der Notstand wurde zwar nach der ersten Infektionswelle wieder aufgehoben, aber die in dieser Zeit per Dekret eingeführten Maßnahmen zur Förderung ausländischer Investitionen und der weiteren Knebelung der Arbeiter*innen (das zweite «Sklavengesetz») wurden beibehalten (Solidarity Action Group, 2020). Als starkes Instrument zur Kontrolle der Arbeitslosen erwies sich die Einführung eines Modells, bei dem die Zahlung von Arbeitslosengeld an die Erbringung von Arbeitsleistungen im Rahmen öffentlicher Dienste geknüpft wurde, die «Einladung» zu diesen Programmen unterlag allerdings allein der Entscheidung der Beamt*innen aus der Kommunalverwaltung. Armut geriet so in eine direkte Abhängigkeit von den von der Fidesz dominierten Kommunalverwaltungen und die für Sozialleistungen geforderte Gegenleistung in Form von Arbeit erwies sich als äußerst effizientes Mittel der politischen Kontrolle, wobei die Fidesz in den ärmsten Kommunen bei Wahlen die besten Ergebnisse erzielte.

Neben einer Politik, die ausländischen Direktinvestitionen und inländischem Kapital diente und ungarische Arbeiter*innen beiden unterordnete, war eine dritte Säule von Fidesz‘ Neugestaltung der externen Integration Ungarns das Bemühen um eine Diversifizierung der Finanzierung weg von einer einseitigen Abhängigkeit von transatlantischen Kreditgebern. Die globale Neuordnung hegemonialer Beziehungen in der Weltwirtschaft und die Regionalisierung des internationalen Systems machten diese Bemühungen zur Einbeziehung von chinesischem und russischem Finanzkapital zu einer gangbaren Strategie. Ungarn wurde somit zu einem der aktivsten Partner für die regionalen Infrastrukturinvestitionen Chinas im Rahmen seines multilateralen Projekts Neue Seidenstraße. Für das ungarische Regime besteht der Hauptvorteil dieser Partnerschaft darin, dass ein großer Investitionsfonds entsteht, der von der Beobachtung der europäischen Finanzvorschriften unabhängig ist und daher für regierungsnahe oligarchische Gruppen mobilisiert werden kann. Ein eindrückliches Beispiel ist der Ausbau der Hochgeschwindigkeitsbahnverbindung für Fracht zwischen Belgrad und Budapest im Rahmen der Neuen Seidenstraße, die die chinesische Hafenlogistik mit dem europäischen Festland verbinden wird. Der wichtigste ungarische Partner bei der Umsetzung des Projekts ist ein Unternehmen von Lőrinc Mészáros, Ungarns staatlich gestütztem Oligarch Nummer eins, der weithin als Platzhalter für Viktor Orbán gilt. Mit Russland hat die ungarische Regierung mehrere bilaterale Abkommen unterzeichnet, darunter Verträge für den Gastransport und zum Ausbau der Atomkraftkapazitäten des Landes mithilfe Russlands Rosatom. Sowohl für China als auch für Russland hat Ungarn eine geostrategische Funktion als Einfallstor in die Europäische Union. So hat Russland etwa die neue regionale Zentrale seiner Internationalen Investitionsbank (IBB) in Budapest angesiedelt, was wegen der Immunität der IBB-Mitarbeiter in der EU zu Streitigkeiten mit der Europäischen Union führte. Parallel zum Umzug der Zentraleuropäischen Universität (CEU) von Budapest nach Wien lud die Regierung die chinesische Fudan-Universität ein, ihren ersten Übersee-Campus in Budapest zu etablieren. Über diese geopolitischen Gesten hinaus umfassen sowohl russische als auch chinesische Projekte eine schuldenbasierte Finanzierung, die auch die kommende Generation von Bürger*innen in eine Schuldenbeziehung mit neuen internationalen Gebern sperrt.

Zur Legitimierung seiner Politik hat sich das Fidesz-Regime vom Fokus auf soziale Missstände vor 2010 und den «Geschenken» zur Kooptierung der Bevölkerung nach 2010 (wie die staatliche Subventionierung der Versorgungsleistungen oder die Verteilung von Lizenzen für Tabakläden an politisch loyale Kleinunternehmer*innen) mittlerweile auf eine offen pro-kapitalistische Begründung seiner Macht verlegt (zum Beispiel mit der Aussage des Außenministers in einem Interview, wonach alle, die innerhalb des Apparats mit dem «Gewerkschaftsspiel» experimentierten, gefeuert würden), die sich mit rechtsextremen ideologischen Botschaften (wie den Anti-Migrations- oder Anti-Gender-Kampagnen) vermischt. Während Jobbik anfänglich erfolgreich vom nationalistisch gefärbten Unmut über Missstände in der Politik von Fidesz profitieren konnte, führte die Übernahme ideologischer Positionen der extremen Rechten durch Fidesz und der faktische Niedergang von Jobbik zu einer Situation, in der die parlamentarische Opposition, die hauptsächlich aus pro-westlichen, pro-liberalen Elementen besteht, sich einer politisch weder artikulierten noch organisierten Unzufriedenheit gegenüber sieht, die sich meist in die Sprache des Nationalismus kleidet.
 

Übersetzung: Tim Jack/ Sebastian Landsberger

Literatur

Gagyi, Á. (2016). Coloniality of Power in East Central Europe: External Penetration as Internal Force in Post-Socialist Hungarian Politics. In: Journal of World-Systems Research 22 (2), S. 349–372.

Gagyi, Á. und Gerőcs, T. (2019). The Political Economy of Hungary’s New ’Slave Law’. In: criticatac.ro, 2019. 1. Januar 2019. Abrufbar unter http://www.criticatac.ro.

Gerőcs, T. und Pinkasz, A. (2019). Relocation, standardization and vertical specialization: Core-periphery relations in the European automotive value chain. Society and Economy 41(2), S. 1–22.

Halmai, G. (2011). (Dis)possessed by the spectre of socialism: Nationalist mobilization in „transitional“ Hungary. In: Halmai, G. und Kalb, Don (Hrsg.). Headlines of nation, subtexts of class: Working-class populism and the return of the repressed in neoliberal Europe. Berghahn.

Scheiring, G. (2020). The retreat of liberal democracy: Authoritarian capitalism and the accumulative state in Hungary. Palgrave.

Solidarity Action Group (2020). Deepening authoritarianism and uneven struggles of global capitalist reorganization: politics of the COVID-19 crisis in Hungary. LeftEast, 6. Mai 2020.