Eigentlich hätte in diesen Tagen in Glasgow die 26. UN-Klimakonferenz COP26 stattgefunden. Corona-bedingt wurde sie verschoben. Ist das Ringen um eine der Klimakrise angemessene Politik damit zum Stillstand gekommen? Nein. Aber es ist schwieriger geworden, seitdem jeder Staat für sich darum kämpft, dass sich Gesundheits- und Wirtschaftskrise nicht zuspitzen.
Zunächst einmal – es gibt positive Signale aus 2020. Erstens: Die umfassenden Maßnahmen wie auch die mobilisierten Budgets zeigen, dass die Politik wenn nötig in sehr kurzer Zeit drastisch auf eine Krise reagieren kann. Zweitens: Überall auf der Welt fordern Menschen, die Klimakrise über die Gesundheits- und sich abzeichnende Wirtschaftskrise nicht zu vergessen und diese Krisen als Folgen derselben verheerenden Wachstums-, Wettbewerbs- und Profitlogik unseres Wirtschaftssystem zu begreifen. Und drittens: Zumindest in Ansätzen, wenn auch noch nicht stark genug, gibt es eine Debatte um die Klimaverträglichkeit der jetzt aufgelegten öffentlichen Hilfsprogramme. Rein diskursiv ist die Klimakrise in der Pandemie präsent.
Nadja Charaby ist Referatsleiterin für Internationale Politik und Nordamerika bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung sowie Referentin für Klimapolitik.
Tetet Lauron lebt auf den Philippinen und ist als Beraterin der Rosa-Luxemburg-Stiftung tätig.
Katja Voigt ist Projektmanagerin für Klimapolitik und Nordamerika bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Faktisch aber ist das Feld 2020 komplexer als zuvor. Eigentlich stand für dieses Jahr die große Bestandsaufnahme auf der COP26-Agenda. Fünf Jahre nach Paris sollten die Staaten ihre Klimaziele so nachschärfen, dass die gefährliche Destabilisierung des Weltklimas verhindert wird. Bisher steuert die Welt auf 3,2°C und mehr zu; das Pariser Klimaziel ist nur erreichbar, wenn der Treibhausgasausstoß um jährlich 7,6 Prozent sinkt. Davon sind wir weit entfernt – trotz kurzfristiger Corona-Delle in der globalen Emissionskurve. Eigentlich auch hätten in diesen Tagen die Staaten des Globalen Nordens offenlegen sollen, wie sie ab jetzt jährlich 100 Milliarden Dollar für Klimaschutz und -anpassung im Globalen Süden mobilisieren wollen. Dabei gilt: Das Ziel ist längst überholt. Die Länder des Globalen Südens fordern zu Recht sehr viel umfassendere Finanzmittel für Klimaanpassung, die Kompensation von Schäden und Verlusten sowie Klimaschutzmaßnahmen.
COVID-19 trifft Länder unterschiedlich hart
Die Pandemie nun stellt das ohnehin schon schwerfällige und durch rechtspopulistische Regierungen attackierte System der UN auf die Probe. Das UN-Klimasekretariat sieht sich vor die Aufgabe gestellt, die Verhandlungsdynamik am Laufen zu halten, während die staatlichen Apparate vor allem nationalstaatliche Lösungen auf die Krise suchen. Hierbei zeigt die Corona-Pandemie, wie unterschiedlich gewappnet die Länder für die großen miteinander vernetzten ökologischen und sozialen Krisen unserer Zeit sind. COVID-19 trifft Staaten und Menschen unterschiedlich hart, treibt die Ärmsten in existenzielle Nöte, weil sie ihren Lebensunterhalt nicht mehr verdienen können, ist verknüpft mit der Zunahme von Gewalt, insbesondere gegen Frauen. Und in vielen Staaten trifft sie Menschen zusätzlich, die versuchen, inmitten einer durch Dürren, Fluten oder Heuschreckenplagen aus den Fugen geratenen Natur irgendwie ihr Überleben zu sichern. Während reiche Staaten große Konjunkturprogramme aus dem Boden stampfen, macht COVID-19 ärmere Staaten und deren Bevölkerung noch verwundbarer und verschärft den Cocktail aus Armut, Ungleichheit, Not und Klimakrise.
Die Welt nähert sich den gefährlichen Kipppunkten. Das sind kritische Punkte im Klimasystem, ab denen sich selbst verstärkende Entwicklungen losgetreten werden, die sich nicht mehr bremsen lassen. Hier sind nur einige der neuesten Nachrichten, die deutlich machen, wie sehr die Klimakrise 2020 vorangeschritten ist:
Neue Erkenntnisse deuten darauf hin, dass das grönländische Inlandeis, seinen Kipppunkt bereits überschritten haben könnte.
Erstmals wurden in diesem März in der Arktis mehr als 20°C gemessen. Und nun friert das arktische Meereis in diesem Jahr sehr viel später zu als üblich. Das hat folgen über die Arktis hinaus.
Die Hälfte der Korallen des weltgrößten Korallenriffs, des Great Barrier Reefs, ist bereits abgestorben.
Die Abholzungen am Amazonas schreiten so dramatisch voran, so dass der Amazonaswald bald kollabieren könnte.
Die Waldbrände in Kalifornien waren in diesem Jahr so verheerend wie nie zuvor.
Die Weigerung Europas, in diesen Zeiten Geflüchtete aus den Camps am Rande Europas aufzunehmen, ist nur das jüngste, entsetzlich traurige Beispiel für die Abschottung des Globalen Nordens. Der Not angemessen wären schnelle unkomplizierte Mechanismen, die Bewegungsfreiheit und ein Leben in Würde ermöglichen. Die aktuelle europäische Migrationspolitik zeigt überdeutlich, wie langwierig der Kampf um geregelte und humane Verfahren zur Aufnahme der vielen Menschen werden wird, die bereits jetzt und weitaus mehr noch in der Zukunft klimabedingt migrieren müssen. Gleiches gilt für eine weitere Kernforderung im Vorfeld von COP26: einem eigenständigen und niedrigschwellig zugänglichen Fonds zur Kompensation von klimabedingten Schäden und Verlusten.
Das macht deutlich: Ein Jahr Verzögerung in der internationalen Klimadiplomatie ist viel angesichts von Millionen Menschen, auf die sich die Klimakrise bereits auswirkt. Das verbleibende Treibhausgasbudget schmilzt rasant dahin und die Wucht der Klimakrise wurde auch 2020 mit gewaltigen Feuersbrünsten, einer so spät wie nie zufrierenden Arktis, neuen Dürren, Überschwemmungen und Taifunen immer deutlicher spürbar.
Digitale Ersatzformate statt Treffen in Glasgow
Das UN-Klimasekretariat versucht in diesem Jahr mit Hilfe von Ersatzformaten das internationale Momentum für mehr Klimaschutzanstrengungen zu beschwören. Das ist alles andere als einfach angesichts der Tatsache, dass COVID-19 den Blick vieler Staaten auf kurzfristige rein nationale und regionale Notprogramme verengt. Anknüpfend an das im Sommer erprobte digitale Format des «June Momentum» finden in der ersten Novemberhälfte im Rahmen der Race to Zero-Kampagne die virtuellen «Race to Zero November Dialogues» statt. Hier sollen nichtstaatliche Akteure wie Städte und Regionen, aber auch Unternehmen und Investoren zusammenkommen, um strategische Bereiche zur Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft zu identifizieren und Netzwerke für grüne Investments und den Aufbau nachhaltiger Infrastrukturen zu knüpfen. Die Gespräche sollen, so die diffuse Hoffnung, am Ende irgendwie auch die Staaten ermutigen, ihre Klimaziele hochzuschrauben.
Damit bietet ein prominentes UN-Format den Rahmen dafür, das gefährliche Narrativ von Netto-Null-Emissionen weiterzustricken. Denn nicht zu Null-Emissionen verpflichten sich die teilnehmenden Akteure der Race to Zero-Kampagne, sondern zu «Netto Null». Diese Mogelpackung macht es Regierungen und Wirtschaft leicht, effektive Maßnahmen weit in die Zukunft zu schieben. Denn wenn die Illusion genährt wird, dass es in Zukunft etwa mit der BECCS-Technologie möglich ist, riesige Mengen CO2 aus der Atmosphäre zu holen, erscheint radikaler Wandel weniger drängend. Zudem schreibt «Netto Null» koloniales Denken fort, weil es zumeist meint, dass der Globale Süden riesige Landflächen für die hierfür benötigten Agroforstplantagen bereitstellt. Zusätzlich nährt die geplante Dialogreihe das Narrativ und naive Versprechen auf «inklusives nachhaltiges Wachstum». Das, worum es angesichts multipler Krisen gehen müsste, steht nicht auf der Agenda: die Umverteilung von globalem Reichtum als wirksamste Antwort auf zahlreiche Krisen, die legitimen Forderungen der am stärksten von der Klimakrise Betroffenen, ein Ende der Wachstumslogik und ein Ende schmutziger und ausbeuterischer Geschäftsmodelle.
Auch das nachfolgende Event des UN-Klimasekretariats von Ende November bis Anfang Dezember zielt der Ankündigung zufolge vor allem darauf ab, Positivbeispiele und Erfolge aus dem Jahr 2020 sichtbar zu machen und ein positives Momentum aufrechtzuerhalten. Die «UNFCCC Climate Change Dialogues» sollen Themen identifizieren, «die geeignet sind, den zwischenstaatlichen Verhandlungsprozess im kommenden Jahr vorzubereiten». Noch ist offen, wie die Staaten das Format nutzen werden. Explosive Themen gibt es nach wie vor, aber der digitale Rahmen dürfte ernsthafte Gespräche hierzu schwierig machen.
Unter anderem wartet noch der umstrittene Artikel 6 des Pariser Abkommens, der den internationalen Handel mit eingesparten Treibhausgasen regeln soll und schon mehrfach drohte, die Verhandlungen zu sprengen. Kritiker*innen sehen in Artikel 6 nicht nur ein gefährliches Einfallstor für die doppelte Anrechnung von Klimaschutzmaßnahmen sowie einen Ablasshandel, der es reichen Staaten ermöglichen würde, sich weiterhin um eine echte Transformation zu drücken. Mit der Etablierung des CO2-Handels unter dem Pariser Vertrag und den in diesem Rahmen vorangetriebenen «falschen Lösungen» wären die Rechte indigener Gemeinschaften, allen voran das Recht auf Selbstbestimmung, sowie Umweltschutzstandards und der Schutz der Biodiversität in Gefahr. Die großen Player, die in diesem Zusammenhang versuchen, sich mit ihren sogenannten «nature-based solutions» als Strategie gegen die Klimakrise zu etablieren, bringen sich derweil weiter in Stellung. Hinter dem doppeldeutigen Begriff verbergen sich zwar einerseits viele ernsthafte Ansätze, die im Erhalt von Biodiversität, im Schutz von Wäldern, in einer naturnahen Bewirtschaftung von Ackerland und agrarökologischen Methoden ein echtes Umdenken bewirken wollen. Gleichzeitig aber missbrauchen Großkonzerne den Begriff als Einfallstor um «klimasmarte Landwirtschaft» oder Offset-Mechanismen als neue Geschäftsfelder voranzubringen.
Klimafreundlicher Weg aus der Krise?
Akteure mit sehr diversen Interessenlagen ringen also in diesen Tagen darum, was sich ein klimafreundlicher Weg heraus aus Gesundheits- und Wirtschaftskrise nennen darf. Die Chance ist gewaltig: Ohnehin werden jetzt riesige Geldsummen bewegt; die Welt könnte hierdurch in kürzester Zeit nachhaltige Infrastrukturen schaffen und Wirtschaftssektoren umbauen. Die Gefahr ist jedoch groß, dass Staaten zur Wiederbelebung ihrer Wirtschaften weiter der alten vermeintlich günstigeren fossilen Logik folgen.
Auch vor einer weiteren vermeintlichen Lösung warnen Aktivist*innen aus dem Globalen Süden in diesen Tagen verstärkt: den sogenannten «debt-for-climate swaps». Der Hintergrund: Durch die zusätzlichen Belastungen der Corona-Pandemie braucht der Globale Süden mehr finanzielle Mittel, damit Grundbedürfnisse gedeckt und wesentliche Ausgaben getätigt werden können. Allerdings zahlen diese Staaten bereits jetzt hohe Summen, um ihre Schulden zu begleichen – mit strikten Bedingungen der Gläubiger, die den Teufelskreislauf aus Strukturanpassungsprogrammen und Austeritätspolitiken weiter befeuern. Zwar wurden diese Schulden im Rahmen der Debt Service Suspension Initiative ausgesetzt, aber eben nicht gestrichen. Die Idee der «debt-for-climate swaps»: Ein Land finanziert vor Ort Klimaschutzmaßnahmen und bekommt dafür einen Teil seiner externen Schulden erlassen. Die Logik dahinter ist schwierig. Denn wie verrechnet man den Erhalt eines Waldes mit Schulden? Zudem besteht wie so oft die Gefahr, dass Rechte indigener Gemeinschaften verletzt werden, weil sie etwa für Klimaschutzprojekte von ihrem angestammten Land vertrieben werden.
Soziale Bewegungen: die Krise als Chance ergreifen
Die Pandemie macht deutlicher als zuvor, wie sehr wir Antworten auf die multiplen Krisen und Ungerechtigkeiten unserer Zeit brauchen. Notgedrungen haben die sozialen Bewegungen ihren Protest zu großen Teilen in den digitalen Raum verlagert. Aktivist*innen, Gruppen, Communities und NGOs arbeiten daran, die Debatten um die richtigen Antworten auf die Corona-Krise mit ihren konkreten Forderungen nach einer sozialeren, gerechteren, nachhaltigeren Welt zu verbinden. Online-Formate, von Webinaren, Workshops und Meetings bis hin zu ganzen Konferenzen und Klima-Camps sowie Social-Media-Kampagnen auf allen Kanälen organisieren Protest, Einmischung und politische Arbeit. Dabei sind viele Formate durch die Digitalisierung einem sehr viel breiteren Publikum zugänglich – eine neue Normalität, die internationale Vernetzung bereichert.
Von Mitte Oktober bis Mitte Dezember organisiert das Climate Action Network z.B. die #WorldWeWant-Kampagne, die Erzählungen über die Auswirkungen der Klimakrise bündelt und sichtbar macht und zeigt, wie Menschen ihre nationalen Regierungen zur Verantwortung ziehen. Und vom 12. bis 16. November kommt die Klimagerechtigkeitsbewegung beim «From the Ground Up: Global Gathering for Climate Justice» zusammen. Ziel sind die strategische Vernetzung sowie der Austausch zu verschiedensten Themen. Die Aktivist*innen aus dem Vereinigten Königreich sind in der COP26 Coalition organisiert.
Die Botschaft vieler Klimaaktivist*innen in diesen Tagen bringt u.a. dieses Video wunderschön, ermutigend und zugleich kämpferisch auf den Punkt: Lasst uns diese Krise nutzen, um Solidarität zu üben und die ja längst bekannten Lösungen für die multiplen Krisen unserer Zeit umzusetzen.