In der Türkei wird fast jeden Tag mindestens eine Frau von Männern umgebracht. Frauen werden meistens von Männern aus ihrem näheren Umfeld getötet. Fast 50 Prozent der getöteten Frauen werden durch Schusswaffen ermordet. Dass Männer sich legal bewaffnen dürfen, hält Frauen nicht am Leben. Der Ablauf ist immer gleich: Frauen werden getötet, Frauen sterben.
In letzter Zeit lese ich fast täglich in den türkischen Zeitungen von Morden an Frauen durch Männer. In der Türkei besteht kein Zugang zu offiziellen Zahlen in Zusammenhang mit Femiziden, da es keine zuständige Behörde für diese Art der Datenerfassung gibt. Diese Daten werden normalerweise von NGOs oder Frauenorganisationen erfasst und veröffentlicht. In der Türkei trägt keine einzige Behörde das Wort «Frau» im Namen, stattdessen befasst sich das Ministerium für Arbeit, Soziales und Familie mit dem Thema. Man könnte also sagen, dass die Frau außerhalb der Familie keine gesellschaftliche Relevanz hat. Femizide sind nicht nur ein innerfamiliäres Problem – viele Frauen werden von ihren außerehelichen Partnern, Bekannten und anderen Männern getötet.
Gamze Kafar arbeitete für die kurdische, ausschließlich mit Frauen besetzte Nachrichtenagentur JINHA, welche 2016 durch die türkische Regierung geschlossen wurde. Von 2015 bis 2018 berichtete Gamze Kafar über den Konflikt in Nordsyrien. 2018 zog sie nach Berlin und arbeitet weiter als Journalistin.
In den letzten Monaten wurde in der Türkei viel über Frauenpolitik diskutiert. Eines der Diskussionsthemen war der mögliche Austritt aus der Istanbul-Konvention. Die Begründung für einen Austritt war, dass die Istanbul-Konvention für die türkische Familienstruktur ungeeignet sei. Die Notwendigkeit eines derartigen Abkommens zum Schutz von Frauen kann nur in Ländern abgestritten werden, in denen patriarchalische Denkstrukturen dominieren. Polen ist ein weiteres Beispiel für ein solches Land. Im 21. Jahrhundert ist es inakzeptabel, die Rechte zu untergraben, die sich Frauen bis heute durch organisierten Widerstand erkämpft haben.
Die Diskussion über einen Austritt aus der Istanbul-Konvention bedeutet in einem Land wie der Türkei, in dem fast täglich mindestens eine Frau durch einen Mann zu Tode kommt, diese Morde zu legimitieren und Männern einen Freibrief zu erteilen. Die Frauen in der Türkei haben trotz der COVID-19-Pandemie nicht davor zurückgeschreckt, auf der Straße und in den sozialen Medien gegen die Austrittsdiskussion zu protestieren, und haben so entschieden dazu beigetragen, dass die Entscheidung über einen Austritt ausgesetzt wurde. Es ist offensichtlich, dass die Istanbul-Konvention in der Türkei nie angemessen umgesetzt wurde, wenn nach wie vor beinahe täglich eine Frau durch einen Mann zu Tode kommt. Aus der hohen Zahl der getöteten Frauen geht hervor, dass der Staat sie nicht vor Männern schützt.
Seit 2010 spielt die Plattform «Wir werden Frauenmorde stoppen!» eine wichtige Rolle bei der Verhinderung von Morden und der Veröffentlichung von Todeszahlen in diesem Zusammenhang. Wo der Staat nichts zur Prävention von Frauenmorden unternimmt, sind es wieder einmal Frauen, die sich ganz allein gegen diese Morde auflehnen. Das ist Beleg dafür, dass die Staatsräson auf einer patriarchalischen Mentalität basiert.
Die Plattform «Wir werden Frauenmorde stoppen!» veröffentlichte im August 2020 einen Bericht, demzufolge 27 Frauen von Männern getötet wurden und 23 Frauen eines unnatürlichen Todes starben. Im September ging es so weiter: 16 Femizide und 20 eines unnatürlichen Todes gestorbene Frauen. Es ist gut möglich, dass ein weiterer Frauenmord begangen wird, während ich diese Zeilen verfasse. Diese Männer werden zum Teil von einem Staat ermutigt, der seine Frauen nicht schützt. Die Umsetzung des Amnestiegesetzes und die Reduzierung der Strafen bei Verbrechen gegen Frauen bestärkt Männer in ihren Taten.
Im vergangenen Monat gab Innenminister Süleyman Soylu bekannt, die Zahl der Frauenmorde sei seit Jahresbeginn um 29 Prozent zurückgegangen. Selbst wenn ich wollte, könnte ich dieser Zahl keinen Glauben schenken, denn ich wache nach wie vor jeden Morgen zu einer neuen Meldung über einen Mord an einer Frau auf. Die gegenwärtige Situation entspricht dem genauen Gegenteil von Soylus Erklärung. Gleichzeitig warnte das Ministerium für Arbeit, Soziales und Familie die Bürger*innen vor inoffiziellen Zahlen, die von ihren Daten abweichen.
Während die Türkei die Notwendigkeit eines Abkommens wie der Istanbul-Konvention mit der unglaublichen Begründung ablehnt, sie würde den traditionellen türkischen Familiensitten widersprechen, sind der Innenminister und das Ministerium für Arbeit, Soziales und Familie damit beschäftigt, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass dieses Land kein Problem mit seiner Femizidrate hätte. Das Problem muss mit ihrer eigenen Mentalität zu tun haben. Wie kann eine Regierung, die die Morde an Frauen nicht als Morde anerkennt, Frauen schützen?
Ich sprach mit der Generalsekretärin und Mitbegründerin der Plattform «Wir werden Frauenmorde stoppen!», Fidan Ataselim, über die Erklärung des Innenministeriums, die die aktuelle Situation ignoriert, und über den Tätigkeitsumfang der Plattform. Seit ihrer Gründung im Jahre 2010 sammelt die Plattform im Rahmen ihrer Möglichkeiten eigene Daten zu Fällen von Gewalt gegen Frauen. In den vergangenen Monaten erklärte das Ministerium für Arbeit, Soziales und Familie, pünktlich zu Beginn der Diskussion über den Austritt aus der Istanbul-Konvention, dass nur den staatlichen Veröffentlichungen vertraut werden solle.
Frauen werden qualvoll umgebracht
Fidan Ataselim hat zu dem Thema Folgendes zu sagen: Das Ministerium veröffentlicht erst seit zwei Jahren Daten zur Femizidrate. Als Plattform «Wir werden Frauenmorde stoppen!» sammeln wir bereits seit zehn Jahren jeden Monat Daten über diese Verbrechen. Wir analysieren die gesammelten Daten und versuchen auf Grundlage dieser Informationen, verschiedene Lösungsansätze und Methoden zu bestimmen. Diese Daten sind für uns von großer Bedeutung, da sie uns helfen, eine bestimmte Realität nachzuzeichnen. Jede Frau hat ein Recht auf ihr Leben. Leider erklärt das Ministerium entgegen unserer Informationen, dass die Femizidrate gesunken sei, und erwähnt nur ganz nebenbei, dass das Leben jeder Frau natürlich wichtig sei. Man versucht, die Bürger*innen auf Grundlage falscher Daten zu manipulieren. Das Wichtigste ist, Frauen zu schützen, solange sie noch am Leben sind. Das ist unser Ziel als Plattform.
Zu Beginn der COVID-19-Pandemie haben wir davor gewarnt, dass die Femizidrate nicht nur in der Türkei, sondern überall auf der Welt signifikant steigen wird. Grund dafür ist, dass die meisten Frauen Zuhause und von ihren Angehörigen getötet werden. Unsere Vorhersage hat sich bestätigt, und der Staat hat es versäumt, nötige Schutzmaßnahmen zu ergreifen.
Das Ministerium arbeitet gegen die Frauenbewegung, indem es behauptet, unsere veröffentlichten Daten seien falsch. Es argumentiert, dass die Zahl der eines unnatürlichen Todes gestorben Frauen von der Frauenmordrate getrennt betrachtet werden soll. Wir kämpfen seit Jahren gegen diese Sichtweise. Der Grund, warum Femizide heute eine größere Aufmerksamkeit bekommen, ist, dass der organisierte und sozialisierte Widerstand der Frauen in der Türkei diese Aufmerksamkeit über Jahre hinweg unermüdlich eingefordert hat.
Eine Tatsache, mit der wir immer wieder konfrontiert werden, ist, dass Frauen unter Qualen und Folter getötet werden. In den letzten Jahren ist die Zahl der unnatürlichen Todesfälle bei Frauen erheblich gestiegen. Männer planen ihre Morde im Voraus; sie foltern ihre Opfer und bringen sie sogar absichtlich in Anwesenheit ihrer Kinder um. In den letzten Monaten wurden Frauen vermehrt zusammen mit ihren Kindern ermordet, und das meistens während laufender Scheidungsprozesse.
Männer versuchen, die Morde an Frauen so zu verüben, dass die genauen Todesumstände unklar oder irreführend sind. Daher kommt die steigende Zahl der unnatürlichen Todesfälle bei Frauen. Die gezielten Morde werden vertuscht, indem man sie wie Selbstmorde, Unfälle oder Versehen aussehen lässt. Wir versuchen seit Jahren die genauen Umstände unnatürlicher Todesfälle wie die von Efsun Işık, Şule Çet, Aysun Yıldırım, Aleyna Çakır und Duygu Delen aufzudecken.
Das Patriarchat spiegelt sich im Justizsystem wider
Männer, die in der Türkei wegen des Mordes an Frauen angeklagt werden, profitieren allzu oft von Strafminderung oder werden von vornherein nur mild bestraft. Ich fragte Fidan Ataselim, wie sich dieser Umstand auf die Vorbeugung von Morddelikten an Frauen auswirke und erhielt eine sehr interessante Antwort. Sie äußerte sich wie folgt zu der Frage:
Es bedarf einer ganzheitlichen Politik, um die Gewalt gegen Frauen und die Morde an ihnen zu beenden. Die Istanbul-Konvention steht für diese Ganzheitlichkeit, da sie von Prävention, Opferschutz, Strafverfolgung, Politikgestaltung und institutioneller Koordinierung spricht. Zudem hebt sie hervor, dass bei all diesen Faktoren die Gleichstellung der Geschlechter eine Schlüsselrolle spielt. In anderen Worten besagt sie, dass die Gewalt gegen Frauen eine Folge der Geschlechterungleichheit ist. Diese Ganzheitlichkeit umfasst faire Untersuchungs- und Strafverfolgungsprozesse als Teil der Problemlösung, bezieht sich also auf die Umsetzung des Grundsatzes der Gerechtigkeit.
Was wir hier in der Türkei erleben, steht im Gegensatz zu diesem Aspekt der Istanbul-Konvention, denn das Justizsystem ist von Geschlechterungleichheit und Sexismus geprägt. Mit dem, was Frauen im Berufsleben, im öffentlichen Leben und privat an Geschlechterungleichheit erfahren, werden sie auch vor Gericht konfrontiert, wenn sie versuchen, ihre Rechte einzuklagen.
Zum Beispiel sehen wir, dass bei Strafprozessen in Fällen von Gewalt gegen Frauen oftmals Strafminderung gewährt wird. Unsere Forderung ist nicht die Abschaffung von Strafminderungen, jedoch beobachten wir, wie diese in diskriminierender Weise angewandt werden, wenn das Opfer eine Frau und der Täter ein Mann ist. Mehr noch, wir erleben, wie diese Strafminderungen durch verschiedene soziale Kodierungen gerechtfertigt und rechtswidrige Entscheidungen legitimiert werden. In Gerichtsverhandlungen über Frauenmorde kommt es sehr oft zu Strafminderungen auf Grundlage von Reue- oder Liebesbezeugungen des Täters gegenüber seinem Opfer. Wenn der Täter beispielsweise ein Medizinstudent ist, profitiert er von Strafminderung, damit seine Zukunft nicht beeinträchtigt wird. Ein Täter, der einen «ehrenwerten» Beruf ausübt, wird nur mild bestraft, weil dies angeblich seinem «ehrenwerten» Charakter entspricht. Es gibt Männer, die ungerechterweise Strafminderungen erhalten, weil sie vorgeblich von ihren Opfern provoziert wurden, indem sie zum Beispiel behaupten, die Frauen hätten ihre Männlichkeit angezweifelt oder ihr gemeinsames Kind sei ein Kuckuckskind. Für eine Strafminderung reicht auch schon aus, dass Täter in Anzügen und Krawatten vor Gericht auftauchen. All diese Gerichtsentscheidungen führen uns durch ihre Urteilsbegründung vor Augen, wie Morde an Frauen durch Bezug auf eine Reihe haarsträubender Kriterien gerechtfertigt werden.
Für uns legitimieren diese Gerichtsurteile die Morde an Frauen; es sind Bemühungen, langfristig eine legitime Grundlage für derartige Verbrechen zu schaffen. Daran wird deutlich, in welchem Maß das Patriarchat über die Justiz herrscht. Männer wissen, dass sie im Falle einer Gewalttat an Frauen ganz einfach mit Strafminderungen davonkommen können. Außerdem kennen sie auch die Mittel und Wege, um eine Mordtat ganz einfach zu vertuschen. In letzter Zeit erleben wir viel häufiger Prozesse, bei denen Angeklagte wegen sexueller Belästigung, Vergewaltigung und unaufgeklärten Morddelikten vor Gericht stehen, ohne vorläufig verhaftet worden zu sein. Gerichtsverhandlungen ohne vorläufige Haft geben der türkischen Gesellschaft zu verstehen, dass diese Delikte harmlos sind und folgenlos bleiben.
Wäre die Istanbul-Konvention umgesetzt worden, hätte man eine Vielzahl von Morden verhindern können
Meine Freundin Nalin Öztekin, die Nachrichten über Gewaltvorfälle gegen Frauen herausbringt, beschreibt die hohe Zahl der Femizide als ein an Frauen verübtes Massaker. Da es in der Türkei keine protektiven und präventiven Mechanismen gegen derartige Delikte gibt, sei die Gewalt gegen Frauen ein grundlegendes Problem, das auf die patriarchalische Mentalität zurückzuführen ist, die heute in der Türkei vorherrscht.
Ich fragte Nalin Öztekin, die unzählige Artikel über diese Gewaltfälle verfasst hat, was weibliche Opfer durchmachen, und bekam folgende Antwort:
Das grundlegende gesellschaftliche Problem ist, dass Männer die Frauen, mit denen sie entweder verheiratet oder zusammen sind, aber auch die Frauen, von denen sie abgelehnt werden, nicht als Menschen und Individuen anerkennen. Außerdem erleben wir immer wieder, dass gewisse Mechanismen nicht funktionieren. Nehmen wir einmal an, dass ich eine Frau bin, der Gewalt angetan wurde: Wenn ich eine Beschwerde einreiche, ergreifen die Behörden keine Maßnahmen, stattdessen vertrösten sie mich damit, dass sich das schon wieder einrenken werde. Beschwerden über Gewalt gegen Frauen außerhalb der Ehe werden niemals ernst genommen. Denn in der heutigen Türkei sind außereheliche Beziehungen inakzeptabel.
In der letzten Zeit ist die feministische Bewegung in der türkischen Öffentlichkeit sehr aktiv gewesen. Aber ganz gleich, wie oft die Frauen auf die Barrikaden gehen, wir durchleben eine Zeit, in der frauendiskriminierende Sichtweisen und patriarchale, feudale Strukturen von Tag zu Tag erstarken. Es reicht nicht aus, wenn auch du aktiv wirst und dich den Protesten anschließt, denn die Mentalität des Mannes, der dich der Gewalt aussetzt, regiert dieses Land.
Die Diskussionen über den Austritt aus der Istanbul-Konvention zeigte in der Gesellschaft nicht die erwartete Wirkung. Vor der Istanbul-Konvention stand ein anderes Thema auf der Tagesordnung: Die Regierung berichtete davon, dass eine hohe Zahl minderjähriger Mädchen eine Ehe eingeht. Die Kinder von minderjährigen Müttern müssen ohne ihre Väter aufwachsen, da der Mann verhaftet wird, wenn seine Frau unter 18 Jahre alt ist. Seitens der Regierung wurde behauptet, dass diese Situation die Familieneinheit gefährden würde und die Menschen darunter litten. Verschiedene Studien zu diesem Thema wurden durchgeführt, während regierungsnahe Medien dieses Problem rund um die Uhr aufgriffen. Im Anschluss daran lenkte die Regierung die Aufmerksamkeit auf die Istanbul-Konvention und kritisierte Paragrafen, die im Abkommen so nicht enthalten sind. Wir mussten hier sogar mitansehen, wie Kampagnen eigens zu dem Zweck gestartet wurden, den Vertragsaustritt herbeizuführen.
Wäre die Istanbul-Konvention umgesetzt worden, hätte man in der Türkei eine Vielzahl von Morden verhindern können. Aus diesem Grund hat die von der Regierung ausgelöste Diskussion über einen Austritt nicht die erwartete Reaktion in der Gesellschaft gezeigt. Denn die erlebte Gewalt und das Wissen um die Frauenmorde sind aus dem Alltag der Frauen nicht auszulöschen. Die Debatte über den Vertrag, die selbst innerhalb der Regierung nicht die erwartete Reaktion fand, löste in der Gesellschaft ebenfalls keine aus.
Dieses Abkommen war bis dato sowieso nur Feminist*innen und Intellektuellen bekannt. Für eine Frau, die zum Beispiel mitten in Istanbuls Kurtköy lebt, war der Vertrag wahrscheinlich völlig neu. Die Debatte um die Istanbul-Konvention löste nicht nur nicht die erwartete Reaktion aus, sondern bewirkte eher, dass die Bürger*innen, die vorher nichts vom Abkommen wussten, es lasen und für notwendig befanden. Die Tatsache, dass diese Debatte in der Gesellschaft keine Resonanz fand, bedeutet nicht, dass die AKP-Regierung dieses Abkommen nun umsetzen wird. Die türkische Regierung ist zwar weiterhin als Unterzeichner im Vertrag geführt, doch bei der Umsetzung kann sie seine Rechtsnormen so verbiegen, dass sie ihre eigentlichen Funktion verfehlen.
Erdoğans Lieblingsargument ist, dass viele Dinge nach unseren eigenen Regeln und Gepflogenheiten aktualisiert werden müssten. Die Istanbul-Konvention stellt da keine Ausnahme dar. Hier soll eine feudalere und patriarchalere Ordnung eingeführt werden, die Frauen nur innerhalb familiärer Strukturen Relevanz zuspricht und sie außerhalb dieser ignoriert. Dies ist hierzulande eine der negativsten Entwicklungen der letzten 30 Jahre. Kleidung, die sie vor 15 bis 20 Jahren noch guten Gewissens in der Öffentlichkeit getragen haben, ist heute nicht mehr gesellschaftlich akzeptabel. Das politische Regime in der Türkei hat sich nicht über Nacht verändert. Der Wandel geschieht langsam, aber mit klaren und deutlichen Maßnahmen. Nalin berichtete mir, dass ein Freund aus der Gerichtsmedizin seit anderthalb Monaten ausschließlich Fälle von Tätern begutachtet, die erst vor kurzem aus dem Gefängnis entlassen wurden. Das verdeutlicht, dass ein Großteil der Männer, die wegen Gewalt gegen Frauen einsitzen mussten, nach ihrer Entlassung wieder straffällig werden. Frauen werden von Männern getötet, die sie kennen.
Trotz all dieser Widrigkeiten ist die Frauenbewegung in der Türkei von großer Bedeutung, was den Schutz von Frauen und den Kampf gegen die Geschlechterungleichheit betrifft. Die Frauen in der Türkei kämpfen weiter, trotz der fast täglichen Femizide, denen das aktuelle politische Klima Vorschub leistet. Dass die Debatte über den Austritt aus der Istanbul-Konvention, die Frauen schützt und versucht, eine Lösung in Bezug auf die Geschlechterungleichheit zu bieten, beendet wurde, ist der geschlossenen Haltung der Frauen und der organisierten Frauenbewegung zu verdanken. Der Widerstand der Frauen in der Türkei inspiriert viele Länder, die ebenfalls unter sozialer Ungleichheit leiden.
[Übersetzung von Çigdem Ücüncü und Utku Mogultay für Gegensatz Translation Collective]