Nachricht | Rassismus / Neonazismus - NSU-Komplex Peinliche Befragung

Ein Tag im Lübcke-Prozess vor dem Oberlandesgericht Frankfurt/Main

Information

Solidaritätskundgebung vor dem Oberlandesgericht Frankfurt am 29.10.2020
Wurde im Januar 2016 von dem mutmaßlichen Mörder von Walter Lübcke in mit einem Messerstich in den Rücken attackiert: Der damals 23-jährige irakische Asylsuchende Ahmed I. wird im Prozess am OLG Frankfurt als Zeuge geladen und als Beschuldigter behandelt. Solidaritätskundgebung vor dem Oberlandesgericht Frankfurt am 29.10.2020, Foto: Friedrich Burschel

Herr Sagebiel will Schluss machen. Thomas Sagebiel ist der Vorsitzende Richter des Staatsschutzsenats des Oberlandesgerichts Frankfurt und leitet seit Mitte Juni das Verfahren gegen den mutmaßlichen Mörder von Walter Lübcke. Der Hauptangeklagte soll den Kasseler Regierungspräsidenten in der Nacht zum 2. Juni 2019 mit einem mitangeklagten Komplizen auf Lübckes heimischer Terrasse erschossen haben.

Irgendwann am Nachmittag des Verhandlungstages am 29. Oktober platzt es aus Sagebiel heraus: «Wenn hier jetzt alles x-mal gefragt wird, dauert der Prozess noch drei Monate, und dazu habe ich überhaupt keine Lust». Er drückt aufs Tempo und will Anfang Dezember das Urteil sprechen. Das Tatgeschehen scheint dem Senat weitgehend aufgeklärt und für die zahlreichen offenen Fragen keine Zeit. So ist der Mitangeklagte, dem Beihilfe und Mittäterschaft vorgeworfen worden war, unterdessen aus nicht wirklich nachvollziehbaren Gründen auf freien Fuß gesetzt worden. Ihm droht nun wohl nur noch eine Strafe wegen Verstoßes gegen das Waffengesetz. Fragwürdiger Erfolg seiner Verteidigung durch die einschlägigen Szene-Anwält*innen Nicole Schneiders und Björn Clemens, die schon im NSU-Verfahren an der Seite angeklagter Nazis unangenehm aufgefallen waren. Für die Familie des ermordeten CDU-Politikers Lübcke sei dieser Vorgang «kaum zu ertragen», hieß es. Auch für Beobachter*innen und andere Prozessbeteiligte ist die Freilassung des mutmaßlichen Einpeitschers und Waffenlieferanten des Täters angesichts seiner Vorgeschichte als gefährlicher Nazi geradezu grotesk lebensfremd. Die Linke im Lübcke-Untersuchungsausschuss des Hessischen Landtags moniert, dass das Nazi-Umfeld der beiden Männer in den Ermittlungen – nach dem NSU-Komplex ein weiterer Fall von vielen – sträflich unterbelichtet geblieben sei.

Friedrich Burschel ist Referent für Neonazismus und Strukturen/Ideologien der Ungleichwertigkeit in der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Er hat den fünf Jahre lang dauernden NSU-Prozess in München begleitet und fortlaufend darüber berichtet.

Es genügt jedenfalls ein Tag im Frankfurter Gerichtssaal, um den im Vorfeld – ähnlich wie seinerzeit der Münchener Vorsitzende im NSU-Prozess, Manfred Götzl – als väterlich-streng, aber menschlich über den grünen Klee gelobten Sagebiel gründlich entzaubert zu sehen. Schon ab 6:30 Uhr stehen Journalist*innen und Publikum um die Corona-bedingt reduzierten Sitzplätze an und vor dem Gericht gibt es Solidaritätskundgebungen, denn heute soll ein weiteres, überlebendes Opfer des Haupttäters gehört werden. Der damals 23-jährige irakische Asylsuchende Ahmed I. war Anfang Januar 2016 gerade mal drei Wochen im Lande, als der Attentäter sich eines Abends mit dem Fahrrad von hinten näherte und ihm wortlos und in mörderischer Absicht ein Messer in den Rücken stieß. Obwohl der damals an der Wirbelsäule schwer verletzte Ahmed I. selbst mehrfach in einem halben Dutzend polizeilicher Befragungen direkt nach der Notoperation die Vermutung äußerte, der Täter müsse ein Nazi sein, beargwöhnten die Ermittler*innen vor allem das Opfer selbst und sein Umfeld in der Unterkunft. Ein Täter wurde nicht ermittelt und es war wohl auch erst der Hinweis der hessischen Opferberatungsstelle Response, die gegenüber den Behörden diese Verbindung zum Mord an Walter Lübcke herstellte.

Wie der bis heute schwer gezeichnete Ahmed I. im Gerichtssaal nun befragt wird, spottet jeder Beschreibung: Er wird nicht nur von Sagebiel angeherrscht, hier gefälligst zur Wahrheitsfindung beizutragen, sondern vor allem von einem der Verteidiger des Hauptangeklagten gnadenlos auf die Hörner genommen – mit dem Ziel, seine Glaubwürdigkeit zu erschüttern. Dabei müsste sich Mustafa Kaplan eigentlich ganz gut in die Rolle eines Opferzeugen einfühlen können, hat er doch im NSU-Verfahren als Nebenklageanwalt einen Geschädigten des Nagelbombenanschlags in der Kölner Keupstraße vertreten. In seiner quälend langen Befragung jedoch reproduziert Kaplan mit empathieloser Kälte das gesamte rassistische Vorurteilsprogramm, das die Propaganda gegen Geflüchtete im Netz und seitens etwa der AfD bestimmt: Ob sein Name im Asylantrag überhaupt stimme? Warum es Unstimmigkeiten bei seinem Geburtsdatum gebe? Ob er sich sicher sei, dass er in Mossul geboren wurde? Warum er zwei Handys gehabt habe? Wie er denn mit Kopfhörern und Kapuze überhaupt etwas über den von hinten kommenden Täter sagen könne? Und so weiter.

Selbst als deutlich wird, dass es bei den unterschiedlichen Vernehmungen mit einer Dolmetscherin, mit der sich Ahmed I. nur mühsam verständigen konnte, zu erheblichen Missverständnissen gekommen war und auch der heute präsente Übersetzer offensichtlich Mühe hat, das Gesprochene adäquat wiederzugeben, lässt Kaplan von Sagebiels zunehmender Ungeduld ungerührt nicht locker. Anders als im Halle-Prozess kann der Betroffene hier seine schreckliche Leidensgeschichte nicht frei und zusammenhängend vortragen. Mit ständigen scharfen Unterbrechungen wird ihm hier eine tribunalartige Situation bereitet, und er wie ein Beschuldigter behandelt. Seine Ausführungen zu den traumatischen Auswirkungen des Messerangriffs, zu Schlafstörungen, Angstzuständen, den ständigen Schmerzen, der Gefühllosigkeit in den Beinen und weiteren erheblichen Einschränkungen durch die Rückenmarksverletzung gehen in der einschüchternden Atmosphäre unter. Ebenso bewegende Aussagen wie: «Ich habe mein Land verlassen, um Schutz zu suchen. Aber hier ist mein Leben zerstört worden».  Es ist zum Schluss ausgerechnet die Bundesanwaltschaft, die Kaplans destruktive Fragestrategie entschieden als völlig fehlgeleitet zurückweist. Das Tatgeschehen stehe ja fest und der Tatvorwurf beziehe sich die eigenen Aussagen des Angeklagten und den Fund der Tatwaffe mit DNA-Anhaftungen des Opfers in seinem Keller, so Oberstaatsanwalt Dieter Kilmer. Was dem Gericht ein weiterer lästiger Verhandlungsschritt zu sein schien und der Verteidigung eine willkommene Gelegenheit, dem Opferzeugen die Aussage zu einer peinlichen Befragung werden zu lassen, muss für Ahmed I. eine weitere Erfahrung äußerster Missachtung gewesen sein.   

Szenenwechsel nach Magdeburg Anfang November: Erst wenn man die derart entwürdigende Befragung eines Opferzeugen wie im OLG Frankfurt erlebt hat, weiß man – bei aller Kritik an mancher zweifelhaften Äußerung zur desaströsen Polizeiarbeit oder der notorischen Einzeltäterthese – das menschliche und zugewandte Agieren von Ursula Mertens, der Vorsitzenden im Halle-Verfahren, erst richtig zu schätzen. Zumindest scheint sie an Aufklärung interessiert und verteilt höchstselbst und ohne Dünkel vor fast jedem Prozesstag kopierte Unterlagen auf die Tische der Prozessbeteiligten. Sie hegt den Angeklagten in seinem fanatischen Mitteilungsdrang ebenso ein, wie sie den Betroffenen des Anschlags geduldig zuhört und empathisch nachfragt. Bei Götzl und Sagebiel völlig undenkbar.