Nachricht | Parteien / Wahlanalysen - Westasien - Palästina / Jordanien - Westasien im Fokus Die Parlamentswahlen in Jordanien:

Formal fair, aber wenig Substanz – Eine Wahlanalyse

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Wahlen in Jordanien 2020
Wahlen in Jordanien 2020 Foto: REUTERS/Muhammad Hamed

Zwischen der offiziellen Bekanntgabe des Termins für die Abhaltung der Wahlen zur 19. Abgeordnetenversammlung in Jordanien und dem tatsächlichen Urnengang am 10. November 2020 lagen dreieinhalb Monate. Ein solcher Zeitraum hätte normalerweise die Zeit für eine umfassende nationale Debatte sein sollen, in der Fragen diskutiert werden, mit denen Jordanien innen- und außenpolitisch konfrontiert ist. Jordanien steht, wie die anderen Länder in der Region auch, vor einer endlosen Fülle von Herausforderungen. Es beginnt mit der sich zunehmend verschlechternden Situation im Gesundheitsbereich als Folge der Corona-Epidemie – ein Problem, das in einer ohnehin schwierigen wirtschaftlichen Situation zu einem weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit und Armut führte – bis hin zu den Fragen der ohnehin dauerhaft angespannten internationalen und regionalen politischen Lage.

Ahmad Abu Khalil ist ein jordanischer Schriftsteller und Anthropologe, der sich mit Fragen von Armut und Entwicklung sowie mit jordanischer Sozialgeschichte befasst. Er gründete die Zeitschrift «Al-Mastour», die sich auf das Thema Armut spezialisiert (2005-2012). Er ist Chefredakteur der Website «Your Time… Yesterday's Story», deren Schwerpunkt die moderne Geschichte Jordaniens ist.

Es fällt jedoch auf, dass all diese Fragen in der öffentlichen Debatte während der Wahlvorbereitungen nicht vorkamen. Weder auf individueller Ebene noch bei sozialen oder regionalen Gruppen oder bei den ca. 50 zugelassenen politischen Parteien in Jordanien, die den verschiedenen Strömungen und politischen Spektren von rechts bis links zuzurechnen sind, spielten sie eine Rolle.

Trotz der offiziellen Betonung der hohen Bedeutung dieser Wahlen, die als verfassungsrechtliche Notwendigkeit dargestellt und trotz aller Hindernisse durch Corona pünktlich durchgeführt wurden, und trotz der Medienkampagnen, die wiederholt auf die Wichtigkeit dieses Ereignisses hinwiesen, beschränkte sich die öffentliche Debatte auf Randthemen. Diese bezogen sich mit wenigen Ausnahmen auf individuelle, familiäre oder regionale Fragen. Selbst Parteikandidat*innen sahen sich in ihren Wahlkämpfen gezwungen, sich diesen Rahmenbedingungen anzupassen.

Wer im Monat vor den Wahlen durch die Straßen der Hauptstadt Amman und der großen Städte ging, konnte zwei Arten von Wahlwerbung bemerken: zunächst die offiziellen Bekanntmachungen der Unabhängigen Wahlkommission. Im Vordergrund dieser Bekanntmachungen standen ernsthafte Slogans im Zusammenhang mit Demokratie, dem nationalen Interesse und Fragen der Gesetzgebung. Auf der anderen Seite gab es die Wahlankündigungen der Kandidat*innen. Diese wurden aufwendig und großformatig mit dem Bild und dem Vor- und Nachnamen der Kandidat*innen bedruckt. Manchmal enthielten sie noch einen Slogan, dem es aber selten gelang, die Aufmerksamkeit von irgendjemandem auf sich zu ziehen.

Die Szenerie war in gewisser Weise amüsant: die Unabhängige Wahlkommission eroberte frühzeitig wichtige Plätze auf den Straßen, insbesondere an den großen Kreuzungen. Als einen Monat vor der Wahl die Zeit für den offiziell zulässigen Beginn der Wahlkampagnen der Kandidat*innen begann, konnten die Kandidat*innen für ihre Wahlplakate daher keine anderen Plätze mehr finden als genau gegenüber den Plakaten der Wahlkommission. Das heißt, man konnte beide Arten von Werbung klar erkennen und ohne große Mühe den inhaltlichen Unterschied feststellen.

Die Unabhängige Wahlkommission wurde 2012 im Rahmen der politischen Reformen gegründet, die den damaligen Massenprotesten folgten. Die Bildung der Wahlkommission diente dazu, die Regierung (die Exekutivbehörde) von der Aufgabe freizustellen, die Wahlen zu überwachen, um damit deren Unabhängigkeit sicherzustellen. Die Kommission organisierte 2013 zum ersten Mal Parlamentswahlen und darauf folgend die Wahlen von 2016. Zudem organisierte sie seitdem eine Reihe verschiedener Gemeindewahlen.

Der Kommission, die in diesen Jahren ihre Arbeitsweise weiterentwickelt und neue Erfahrungen gemacht hat, ist es gelungen, ein Image wirklicher Unabhängigkeit zu vermitteln. Berichte über Fälle von Einmischung in die Wahlen beschränkten sich auf inoffizielle Vorwürfe, die schwer zu beweisen sind und sich auf der Ebene allgemeiner Gerüchte bewegten. Allerdings sind Gerüchte in Jordanien nicht wirkungslos, wenn es um die öffentliche Meinung und die Schaffung von Vertrauen geht.

Während der Vorbereitungen für die Wahlen 2020 war die Kommission äußerst bemüht und ergriff Maßnahmen, um ihre Reputation zu sichern. Sie wurde auch allgemein für die faire Abhaltung der Wahlen anerkannt. Selbstverständlich ist der Kommissionsauftrag durch verschiedene Gesetze geregelt, die es ihr nicht ermöglichen, sich in den Inhalt der Wahlen einzumischen. D.h., dass die Kommission weder für den in der Einleitung dieses Artikels geschilderten Inhalt der Wahldebatten noch für den Widerspruch zwischen dem Inhalt der Werbekampagnen der Kommission als offizielles Gremium und der Wahlwerbung der Kandidat*innen offiziell verantwortlich zu machen ist.

Zum Hintergrund der Wahlen in Jordanien

Das parlamentarische Leben wurde nach einer Unterbrechung infolge des Krieges von 1967, in der das Parlament suspendiert worden war, im Jahr 1989 wiederbelebt. Die Rückkehr war das Ergebnis eines großen jordanischen Volksaufstandes, der als «April-Aufstand» oder «Aufstand von Ma'an und des Südens» (weil er in dieser Region begonnen hatte) bezeichnet wird. Die damaligen Wahlen fanden in einer Atmosphäre der politischen Öffnung und einer Rückkehr des Parteilebens statt. Daher war die 1989 gewählte Abgeordnetenversammlung von klaren politischen Profilen der Loyalisten wie auch der Opposition gekennzeichnet.

Als der Termin für die Wahlen 1993 näher rückte, wurde die Gesellschaft von einer radikalen Änderung des Wahlgesetzes überrascht. Expert*innen wurden beauftragt, ein Gesetz auszuarbeiten, das die Bildung eines einflussreichen Parlamentsblocks verhindern sollte. Dies wurde durch die «Eine Stimme»-Formel erreicht, die die Kandidat*innen dazu zwang, ihre Wahlkampagnen alleine durchzuführen, d.h. als Individuen. In den darauffolgenden Urnengängen wurden Änderungen an Gesetzen und Verordnungen vorgenommen, die dieses Individualitätselement bestätigten und stärkten. Parallel dazu wurden die Wahlkreise sukzessiv verkleinert. Damit fand der Wahlkampf nur noch in den engen Kreisen des eigenen Clans, im eigenen Dorf oder in der Herkunftsregion statt - dies galt insbesondere für Bürger*innen palästinensischer Herkunft, die sich anschickten, Clan-ähnliche Strukturen zu bilden, indem sie ihre Herkunftsregion in eine «Verwandtschaftsbeziehung» umdeuteten.

In der Zwischenzeit wurden Kampagnen gegen das Konzept des «politischen Abgeordneten» oder des «Abgeordneten der Parolen» zugunsten des «Abgeordneten der Dienstleistungen» geführt. Die Abkehr von der allgemeinen Politik wurde zu einem erklärten Slogan, der Stimmen «anzog». Die Kandidat*innen interessierten sich bei jedem neuen Wahlzyklus zunehmend mehr für das eigene Umfeld. Einfluss und Geld gewannen bei der Nominierung der Kandidat*innen zunehmend an Bedeutung.

Zwischen den Wahlzyklen spürte die Gesellschaft die negativen Auswirkungen des Gesetzes auf den verschiedenen Ebenen des gesamten politischen Lebens. Große Clans wurden auseinandergerissen, benachbarte Dörfer wurden zerstreut und mussten eine Formel für eine Allianz oder die Rollenverteilung zwischen Bevölkerungsgruppen finden, und es gab die Ausbreitung des Phänomens der Stammes- oder regionalen «Gruppen». Darüber hinaus wurden «negative» Nominierungsformen eingeführt, um die Stimmen der Gegner*innen «abzuziehen» oder ihre Erfolgsaussichten zu verringern.

Selbst politische Parteien sahen sich nicht mehr in der Lage, ihre Kandidat*innen unter ihrem Parteinamen zu präsentieren. Manchmal erlebte man im Parlament eine spätere Offenlegung der Parteizugehörigkeit einiger gewählter Kandidat*innen, da die den Kandidat*innen nahestehenden Kreise während des Wahlkampfes daran interessiert waren, die Kampagne auf Grundlage der Person und nicht der Parteizugehörigkeit zu führen. Der*die Parteikandidat*in musste dann seinen*ihren Wahlkampf gemäß den Rahmenbedingungen seines*ihres Wahlkreises durchführen. Oft mussten sie ihre Prioritäten öffentlich festlegen, d.h. sich gegebenenfalls zwischen der Partei und dem Clan entscheiden.

Dies hatte schwerwiegende Auswirkungen auf die Leistung des Parlaments sowie auf das Verhältnis seiner Mitglieder untereinander und auf die Beziehung zur Regierung. In der Folge führte dies zu einem Rückgang des Vertrauens der Öffentlichkeit in das Parlament als Institution. Ein Paradox, denn während die Gesellschaft im Allgemeinen ihrem Misstrauen gegenüber dem Parlament als Institution Ausdruck gibt, stehen die einzelnen Wähler*innen und Wählergruppen weiterhin hinter «ihrem*r Abgeordneten», da er*sie einer der ihren ist. Der «Wahlprozess» wurde vom «parlamentarischen Wirken» getrennt, und die Prozesse finden unabhängig voneinander statt. Die Kandidatur basiert auf völlig anderen Zielsetzungen als der, den Anforderungen der parlamentarischen Tätigkeit zu genügen, bei der es sich ja in erster Linie um gesetzgebende und politische Aufgaben handelt.

Es gab ein breites Bewusstsein für die negative Rolle, die die «Eine Stimme»-Regel bei der Entstehung dieser Problematik spielte. Daher wurde diese vor den Wahlen der 18. Abgeordnetenversammlung im Jahr 2016 im Konsens der meisten Parteien geändert. Das Königreich wurde in 23 Bezirke unterteilt, deren Anzahl von Sitzen in der Abgeordnetenversammlung sich nach der Einwohnerzahl richtet. Die Nominierung erfolgt nun über Listen. Die Wähler*innen üben ihr Wahlrecht in zwei Schritten aus: Es wird eine Liste gewählt, und innerhalb dieser wird dann die Stimme für den*die gewünschte*n Kandidat*in aus der Liste abgegeben.

Es dauerte nicht lange, bis die Wähler*innen dieses neue Gesetz ihren eigenen Interessen entsprechend angepasst hatten. Es wurden Listen mit einem*r starken Kandidat*in aufgestellt, die sich zwecks Listenbildung mit anderen Kandidierenden zusammenfindet. Nach der Registrierung der Liste werden die ehemals Verbündeten auf den Listen jedoch zu Konkurrent*innen, und man kehrt somit de facto zur «Ein-Stimmen»-Formel zurück. Bald entstand im allgemeinen Sprachgebrauch der Begriff der «Füllung». Dieser bezieht sich auf die zweitgelisteten Kandidat*innen auf der Liste. Es wurde auch üblich, dass der*die Hauptkandidat*in den Wahlkampf finanzierte und in bestimmten Fällen für die Nominierung von Verbündeten auf seiner*ihrer Liste zahlte.

Dieses Jahr wurden nun zum ersten Mal zwei aufeinanderfolgende Wahlen auf der Grundlage derselben Gesetze durchgeführt. Das 2016 verabschiedete Gesetze wurde bis zu dieser Wahl 2020 nicht geändert. Dies erklärt, basierend auf den Erfahrungen, die in der vorhergehenden Wahl mit den Listen gemacht wurden, den Anstieg der Zahl der Listen und die Zunahme der Kandidat*innen bei der aktuellen Wahl. Eine Anzahl von Kandidat*innen hat erkannt, dass sie «Listenführer*in» sein und nach ihren eigenen «Füllungen» suchen können, anstatt «Füllungen» bei anderen zu sein. In der Zwischenzeit sind männliche Hauptkandidaten vorsichtig geworden, nicht in die «Falle» eines Bündnisses mit einer weiblichen Hauptkandidatin zu geraten. In der vergangenen Wahl hatten sechs von ihnen einen Sieg errungen, manche in Konkurrenz mit einem starken männlichen Hauptkandidaten, der die Liste ursprünglich gebildet hat und davon ausging, dass sich eine starke weibliche Kandidatin an seiner Seite nicht negativ auf seinen Sieg auswirken würde. Bei dieser Wahl wurden auch reine Frauenlisten gebildet, in denen eine weibliche Hauptkandidatin ausgewählt wurde. Das Ergebnis war jedoch enttäuschend. Insgesamt haben Frauen nur die gesetzlich garantierten 15 Quotensitze bekommen und auch die darüberhinausgehenden sechs Sitze der vorherigen Wahlperiode verloren.

Die besonderen Bedingungen eines Wahlkampfes zu Corona-Zeiten trugen natürlich zur Senkung der Wahlkampfkosten bei und führten dadurch ebenfalls zu einem Anstieg der Kandidat*innenzahlen.

Die Unabhängige Wahlkommission führte einen in der Tat unabhängigen Wahlprozess durch, und es gab keine wesentlichen Versuche der Einmischung von anderer Stelle. Die Praktiken innerhalb der Gesellschaft führten jedoch zu einem Korruptionsprozess. Handelt es sich hierbei um eine «Privatisierung» der Kontrollprozesse von Wahlinhalten?

Die Paradoxien haben den Punkt erreicht, dass die Regierung diesmal auf der Teilnahme von Parteien an den Wahlen bestand und sogar ein System zur Finanzierung von Wahlkämpfen einführte. Voraussetzung für die Finanzierung ist, dass die Mitglieder von Parteien ihre Zugehörigkeit offenlegen. Ferner darf die Anzahl der Parteikandidat*innen nicht weniger als sechs, verteilt auf mindestens drei Wahlkreise betragen. Infolgedessen stellten mehr als 40 Parteien insgesamt über 400 Kandidat*innen in den verschiedenen Wahlbezirken auf. Darüber hinaus unterstützte das Ministerium für Politische Angelegenheiten sie mit kostenlosen Anzeigen in Form von professionell vorbereiteten Videos!

Heißt das aber, dass die Regierung, die verschiedenen staatlichen Sicherheitsdienste und andere Akteure tatsächlich zurückhaltend und neutral waren? Dies führt uns zu den verbreiteten «Gerüchten», die oft mit Vehemenz vorgetragen werden, für die ein Beweis jedoch nicht einfach erbracht werden kann. Es gab einige Geschichten über Interventionen, um die Nominierung bestimmter Personen zu verhindern, sowie Interventionen, um die Nominierung anderer Personen zu fordern. Ebenso wurden einige Persönlichkeiten, die ihre Absicht an der Wahl teilzunehmen angekündigt bzw. sich tatsächlich aufgestellt haben, in hohe Positionen berufen – beispielsweise innerhalb eines Ministeriums oder des Senats.

Nachdem die endgültigen Wahlergebnisse bekannt wurden, bestätigten mehrere Auswertungen, dass die Abgeordnetenversammlung mit 130 Sitzen hauptsächlich aus unabhängigen Personen besteht, von denen 100 zum ersten Mal in die parlamentarische Vertretung gewählt wurden. Der Anteil der Parteien war im Vergleich zur vorherigen Abgeordnetenversammlung bescheiden. Die Islamische Aktionsfront (ein Zweig der Muslimbruderschaft) gewann sechs von insgesamt 16 Sitzen für alle Parteien. Im Allgemeinen erhielt jede Liste einen Sitz, mit Ausnahme der festgelegten Quoten für Frauen sowie der christlichen und tscherkessischen Sitze, deren Erfolg den*die Hauptkandidat*in auf der Liste nicht beeinflusst.

Zu Beginn des Artikels wurde eine Bandbreite wichtiger Themen hervorgehoben, mit denen die Gesellschaft und der Staat konfrontiert sind. Welche Rolle wird die neue Abgeordnetenversammlung bei diesen Diskussionen einnehmen? Was auch immer die Antwort sein mag, es ist klar, dass Wahlen, an denen dieses Mal nur knapp 30 Prozent der Wahlberechtigten teilnahmen, generell nur ein einziges von vielen Feldern sozialer Konflikte in allen Gesellschaften sind, und dies gilt natürlich auch für Jordanien.