Nachricht | Erinnerungspolitik / Antifaschismus - Deutsche / Europäische Geschichte - Osteuropa Vor dem Kniefall in Warschau

Versuch einer kurzen Chronik

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Holger Politt,

Dem Andenken Friedrich Wolfs, dem ersten Botschafter, der nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs aus dem besiegten Deutschland nach Warschau kam.
 

Frankreichs Staatspräsident Charles de Gaulle spricht während eines mehrtägigen Staatsbesuchs im September 1967 im Sejm, dem polnischen Parlament. Er hebt ausdrücklich den hohen Wert der klar abgesteckten Grenzen Polens hervor, für die sein Land seit Ende des Zweiten Weltkriegs immer verlässlich eingetreten sei. Damit bezeichnet Frankreichs höchster Vertreter auch die polnische Westgrenze an Oder und Neiße als unverrückbar, deren Anerkennung sich Bonn bis zu diesem Zeitpunkt strikt verweigert, einem Schritt also, den die DDR mit dem Vertrag von Zgorzelec bereits 1950 getan hat – im Namen des deutschen Volkes.

Holger Politt leitet das Regionalbüro Ostmitteleuropa der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Warschau.

Im März 1969 besucht Władysław Gomułka, Erster Sekretär des Zentralkomitees der PVAP, Moskau. Nach der Rückkehr nach Warschau schildert er auf einem Plenum der Partei die Situation in der deutschen Frage: Die Sowjetunion werde künftig stärker auf eine Normalisierung der Beziehungen in Europa drängen, wodurch die Aufnahme von diplomatischen Beziehungen zwischen weiteren sozialistischen Ländern und der Bundesrepublik Deutschland näher rücke. Polen müsse darauf vorbereitet sein, dürfe sich nicht isolieren, sobald die Karte der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze herausfordernder gespielt werde. Insofern sollte Polen durchaus prüfen und gegebenenfalls darauf eingehen, wenn Bonn die Oder-Neiße-Grenze bis zum Moment einer eventuellen Vereinigung beider deutscher Staaten anzuerkennen bereit wäre.

Im Mai 1969 konzentriert sich Gomułka bei einem öffentlichen Auftritt in Warschau auf die Frage der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch Bonn. Polen werde kein Abkommen mit der Bundesrepublik schließen, wenn in der Frage der Oder-Neiße-Grenze abgewichen werde von den Regelungen, die 1950 die DDR im Vertrag von Zgorzelec unterzeichnet habe. Ausdrücklich hebt Gomułka aber die Änderungen in der Ostpolitik Bonns hervor, wie sie in der letzten Zeit insbesondere im Auftreten von Bundesaußenminister Willy Brandt festzustellen seien. Außerdem betont er, dass aus Warschauer Sicht keine Hindernisse erkennbar seien, die Bonn von einer Anerkennung der Grenze abhalten könnten. Brandt selbst reagiert überaus positiv auf Gomułkas Auftreten, erneuert das Angebot Bonns, mit Warschau einen Verzicht auf Gewaltanwendung auszuhandeln. In Warschau wird aufmerksam registriert, dass Brandt der Aussöhnung mit Polen eine ähnliche herausgehobene Dimension zuschreibt wie der mit Frankreich.

Allgemeiner Tenor in Warschau im Oktober 1969: Brandts Wahlsieg schaffe eine neue Situation in Europa, auch für die polnisch-deutschen Beziehungen. In einem Fernsehinterview, das Hansjacob Stehle, ARD-Korrespondent in Wien, mit dem polnischen Außenminister Stefan Jędrychowski führt, betont Polens hochrangiger Regierungsvertreter, dass die beiderseitigen Beziehungen zwischen Polen und der Bundesrepublik Deutschland für die europäische Sicherheit eine herausragende Bedeutung hätten, weshalb Warschau das Angebot vom Mai 1969 erneuere, in Verhandlungen mit Bonn über die Anerkennung der polnischen Westgrenze einzutreten. Polens Außenminister verweist als gutes Beispiel auf die Grenzverträge mit den Niederlanden und Belgien, die die Bundesrepublik Deutschland auch ohne einen Friedensvertrag abgeschlossen habe.

Mieczysław F. Rakowski, Chefredakteur der in Warschau erscheinenden Wochenzeitung «Polityka», reist im Dezember 1969 nach Bonn und in weitere Städte der Bundesrepublik, um nach Rücksprache mit Gomułka Gespräche mit führenden Politikern aus Regierung und Opposition zu führen. Egon Bahr, Staatssekretär im Kanzleramt, gebraucht ihm gegenüber bezüglich der Anerkennung der polnischen Westgrenze durch Bonn die Formulierung «wir wollen die Frage aus der Welt schaffen», also lösen. Dabei beruft er sich ausdrücklich auf Bundeskanzler Brandt. In Moskau kommt es im gleichen Monat zu einem von der DDR initiierten Spitzentreffen der Warschauer Vertragsstaaten, auf dem Walter Ulbricht den Standpunkt der DDR noch einmal bekräftigt: Die beste Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze und damit der polnischen Westgrenze sei die völkerrechtliche Anerkennung der DDR durch Bonn. Gomułka hingegen verteidigt entschieden das Bestreben Warschaus hin zu einem bilateralen Vertrag mit Bonn.

Im Januar 1970 erhält Polens Ministerpräsident Józef Cyrankiewicz einen Brief von Bundeskanzler Brandt, den der Industrielle Berthold Beitz in Warschau übergibt. Brandt zeigt sich offen für bilaterale Verhandlungen, die nun bald beginnen könnten. Der Bundeskanzler versichert, dass er von den unbeschreiblichen Verbrechen wisse, welche das Deutsche Reich Polen und seinem Volk zugefügt habe, zeigt sich andererseits fest überzeugt, dass eine Aussöhnung zwischen den beiden Völkern historische Bedeutung haben werde. In seiner Antwort bekräftigt Cyrankiewicz die Bereitschaft Warschaus zu Verhandlungen, würdigt ausdrücklich die Rolle der DDR bei der Anerkennung der polnischen Westgrenze und verweist auf die Tatsache, dass nur noch ein einziges Land in Europa Gebietsansprüche gegenüber einem anderen Land erhebe, nämlich die Bundesrepublik Deutschland gegenüber Polen.

Zwischen Bundeskanzler Brandt und DDR-Ministerpräsident Willi Stoph kommt es im März und im Mai 1970 in Erfurt und Kassel zu bilateralen Treffen, auf denen neben Fragen der Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten auch Fragen der europäischen Friedens- und Sicherheitspolitik eine zentrale Rolle spielen. In Kassel fragt Stoph Brandt, ob der bereit sei, alle in Europa bestehenden Grenzen ohne Vorbehalte anzuerkennen.

Leonid Breshnew, Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU, informiert im April 1970 die polnische Seite über den Stand der Verhandlungen zwischen Moskau und Bonn, auch darüber, dass die Gespräche kurz vor dem Abschluss stünden und in dem zu unterzeichnenden Abkommen Bonn die bestehenden Grenzen in Europa anerkenne, darunter auch die Oder-Neiße-Grenze. In Polen werden die Parteistrukturen der PVAP ausführlich über den Stand der eigenen Verhandlungen mit Bonn informiert, wobei Gomułka in Führungskreisen darauf verweist, im Mai 1969 die richtige Initiative getroffen zu haben.

Im August 1970 unterzeichnen der sowjetische Ministerpräsident Alexei Kossygin und Bundeskanzler Willy Brandt in Moskau ein Abkommen, in dem u. a. erklärt wird, dass der Frieden in Europa nur erhalten werden könne, wenn die bestehenden Grenzen nicht verletzt würden. In Polen wird verhalten auf den Vertrag reagiert, auch wenn er offiziell entsprechend begrüßt wird. Bei einem Spitzentreffen der Warschauer Vertragsstaaten in Moskau kurze Zeit nach Vertragsunterzeichnung erklärt Gomułka, dass zwar einige Fragen noch offenblieben, dass er aber mit Breshnew völlig übereinstimme, wenn die besondere Rolle von Bundeskanzler Brandt in dem jetzigen Verständigungsprozess herausgehoben werde.

Im September 1970 kommt der westdeutsche Kommunist Max Reimann als Vertreter Walter Ulbrichts nach Warschau, um mit Gomułka über strittige Fragen im Zusammenhang mit der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch Bonn zu sprechen. Reimann verweist darauf, dass die polnische Westgrenze seit zwei Jahrzehnten gesichert sei durch den Vertrag von Zgorzelec sowie im entscheidenden Maße durch die Anwesenheit hunderttausender Sowjetsoldaten auf dem Territorium der DDR. Gomułkas legendäre Antwort: Die Sowjettruppen werden nicht bis in alle Ewigkeit dort stationiert bleiben können.

Am 7. Dezember 1970 unterzeichnen Brandt und Cyrankiewicz in Warschau den Vertrag zwischen Polen und der Bundesrepublik Deutschland, der die faktische Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch Bonn bedeutet. Cyrankiewicz hatte übrigens bereits 1950 den Vertrag von Zgorzelec mit der DDR unterzeichnet. Gomułka spricht anschließend von einem Vertrag, wie ihn die tausendjährige Geschichte Polens bislang nicht gekannt habe, denn der deutsche Drang nach Osten sei nun endgültig gestoppt. In die Geschichtsbücher der Welt geht künftig Brandts Kniefall am Denkmal der Helden des Warschauer Ghettos ein, das im April 1948 aus Anlass des 5. Jahrestags des Aufstands im Warschauer Ghetto eingeweiht worden war und den bei der Vernichtung des jüdischen Warschaus ermordeten Menschen gewidmet ist.

Kurzer Nachtrag

Władysław Gomułka war wenige Zeit nach der außenpolitischen Sternstunde bereits ein gestürzter Mann. Hunderttausende Werft- und Hafenarbeiter hatten noch im Dezember 1970 in den großen Küstenstädten Polens in heftiger Weise gegen die innenpolitische Situation protestiert, die Staatsmacht reagierte mit Militär und Panzern, ließ die Proteste niederschießen, um Ruhe und Ordnung herzustellen. Gomułka ging nach seinem Sturz noch lange von einer von oben gesteuerten Provokation aus, um ihn ins politische Abseits drängen zu können.

Zwanzig Jahre später wurde der große Wert des Vertrages von 1970, der dem Vertrag von 1950 folgte, noch einmal eindrucksvoll unterstrichen. Vor dem sich abzeichnenden Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland versuchte Bundeskanzler Helmut Kohl, die Frage der Anerkennung der polnischen Westgrenze durch die erweiterte Bundesrepublik wieder an einen kommenden Friedensvertrag zu binden. Er scheiterte schnell und gründlich, musste akzeptieren, was die DDR-Regierung bereits 1950 tat – die Oder-Neiße-Grenze als unverrückbare deutsch-polnische Grenze.

Willy Brandts Kniefall im Gedenken an das durch deutsches Verbrechen untergegangene jüdische Warschau verwies unweigerlich zurück auf den September 1939, auf den Überfall auf Polen, auf das Niederreißen der bestehenden Grenze, auf den Krieg.