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Die Wahl in Venezuela schafft klare Verhältnisse im Parlament, löst aber nicht die politische und wirtschaftliche Krise.

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Rome Arrieche. Caracas. domingo 6 de diciembre de 2020
Rome Arrieche, Caracas, 6. Dezember 2020

Seit Anfang 2016 kontrolliert in Venezuela die Opposition das Parlament. Seither haben mehr als 50 Staaten in der politischen Konfrontation Partei für die Opposition ergriffen und 2019 den Parlamentsvorsitzenden Juan Guaidó als Übergangspräsidenten anerkannt.

Am 6. Dezember 2020 fanden Parlamentswahlen für die Legislaturperiode 2021 bis 2026 statt. Die Opposition beteiligte sich mehrheitlich nicht daran. Sie begründete dies mit unfairen Bedingungen und rief zum Boykott auf. Der regierende Chavismus gewann 69 Prozent der Stimmen und eine Zweidrittelmehrheit. Die Wahlbeteiligung lag jedoch nur bei 31 Prozent. Im Vergleich zu den Präsidentschaftswahlen 2018 erhielt das Regierungsbündnis um Nicolás Maduro zwei Millionen Stimmen weniger und steht weiter unter starkem internationalem Druck seitens der USA und der Europäischen Union (EU), die die Wahlergebnisse nicht anerkennen.

María Eugenia Fréitez ist Comunicadora social und Forscherin der Sozialwissenschaften.

Lorena Fréitez ist Sozialpsychologin an der Zentraluniversität Venezuelas (UCV), politische Beobachterin und Doktorandin der Politikwissenschaften an der Universität Complutense Madrid.

Die Wahlen werfen Fragen auf: Was wird der Chavismus mit seiner Mehrheit in der Nationalversammlung anfangen? Ist die Strategie der „Interimsregierung“ von Juan Guaidó am Ende? Setzt die Regierung auf Autoritarismus oder Verhandlungen?

Im Vorfeld der Parlamentswahlen begnadigte die venezolanische Regierung 110 politische Gefangene. Die Verfassungsgebende Versammlung1 hob Dekrete auf, um die Teilnahme von Kleinstparteien zu erleichtern. Dennoch gab es sowohl innerhalb Venezuelas als auch auf internationaler Ebene eine kontroverse Debatte um die Legitimität dieser Wahlen. Dies lag vor allem an Gerichtsurteilen, die die Zusammensetzung des Nationalen Wahlrates (CNE) änderten und die Führung von neun Oppositionsparteien austauschten.

Auch neue Regeln erzeugten Misstrauen. Die Zahl der Parlamentssitze wurde von 167 auf 277 erhöht und eine neue Kombination aus Mehrheits- und Verhältniswahlrecht eingeführt. Diese Veränderungen begünstigten die großen Parteien und verstießen nach Ansicht des Politikwissenschaftlers Michael Penfold2 gegen die Verfassung.

Fragmentierung vor den Wahlen

Vor den Wahlen setzten sich die politischen Lager neu zusammen, so die Soziologin Maryclen Stelling3. Der Chavismus trat in zwei verschiedenen Bündnissen an: Der «Große Patriotische Pol Simon Bolivar», angeführt von der Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV), und die Revolutionär-Populare Alternative (APR), ein linkes Oppositionsbündnis unter Führung der Kommunistischen Partei Venezuelas (PCV), die sich gegen die Regierung von Nicolás Maduro stellte.

Die rechte Opposition war gespalten zwischen jenen, die sich zur Teilnahme an den Wahlen entschlossen, und jenen, die zum Boykott aufriefen. Der rechte Parteienblock, der sich von der Aufstandsstrategie Juan Guaidós distanziert, bestand aus den Wahlbündnissen Demokratische Allianz (Alianza Democrática) und Vereinigtes Venezuela (Venezuela Unida) sowie einer Reihe unabhängiger Parteien.

Ein zweiter Block der vier größten Oppositionsparteien, die seit 2019 die Führung Guaidós unterstützen, ist als G-4 bekannt. Ihm gehören die Parteien Demokratische Aktion (Acción Democrática), Eine neue Zeit (Un Nuevo Tiempo), Gerechtigkeit Zuerst (Primero Justicia) und Volkswille (Voluntad Popular) an. Vor den Wahlen spaltete sich dieser Block jedoch ebenfalls. Er besteht nunmehr aus drei Strömungen: 27 Parteien stehen hinter Juan Guaidó und [dessen Mentor, Anm. d. Übers.] Leopoldo López – sie riefen zum Wahlboykott auf.

Die zweite Strömung unter María Corina Machado pocht auf eine ausländische Militärintervention. Die dritte Strömung repräsentiert der zweimalige Präsidentschaftskandidat Henrique Capriles Radonski. Dieser rief zunächst zur Teilnahme an der Wahl auf und handelte mit der Regierung heimlich die Freilassung von 110 politischen Gefangenen aus. Aufgrund angeblichen diplomatischen und wirtschaftlichen Drucks und weil die Regierung einer Verschiebung des Wahltermins zur Verbesserung der Bedingungen nicht zustimmte, zog er sich jedoch zurück.

Politische Landkarte nach der Wahl

Von den knapp 21 Millionen Wahlberechtigten beteiligten sich lediglich 31 Prozent an der Wahl. Etwa fünf Millionen Venezolaner*innen haben allerdings das Land verlassen und konnten nicht an der Wahl teilnehmen.

Dieses Mal blieben den Urnen mehr als 14 Millionen Venezolaner*innen fern, was 69 Prozent der registrierten Wähler*innen ausmacht. Ein Teil folgte damit nach Einschätzung des Ökonomen Víctor Álvarez4 der Linie der G-4 , ein anderer beteiligte sich aus allgemeiner Enttäuschung und Verzweiflung nicht.

Die Nichtbeteiligung kommt für Álvarez allerdings der Regierung zugute. Denn die Opposition beraube sich ihres politischen Kapitals, mit dem sie sich als zukünftige Alternative präsentieren könnte.

Die Regierung hat eine überwältigende Mehrheit in der Nationalversammlung, aber die Mehrheit der Gesellschaft unterstützt diese Regierung nicht mehr.

Für die Regierung lösen die Wahlen im Prinzip den politisch-institutionellen Konflikt, da sie die Opposition besiegt hat. Dies führe «jedoch nicht zu einer Überwindung der Legitimitätskrise, der Krise der Regierbarkeit oder der Wirtschaftskrise», erklärt der Forscher und Aktivist Andrés Antillano5. Für ihn stellen diese Wahlen weder außerhalb noch innerhalb Venezuelas Legitimität her, «weil die Wahlergebnisse nicht die realen Kräfteverhältnisse in der Gesellschaft widerspiegeln. Das heißt, die Regierung hat eine überwältigende Mehrheit in der Nationalversammlung, aber die Mehrheit der Gesellschaft unterstützt diese Regierung nicht mehr.»

Seit den Präsidentschaftswahlen 2018 könnten Abstimmungen «nicht mehr die politischen Krisen in Venezuela lösen», so Antillano. Der Grund sei, dass «es eine Entscheidung gab, dass die Wahlen dazu dienen sollten, die Macht zu verfestigen und nicht dazu, die politische Krise zu lösen. Damit die Wahlen politische Krisen lösen können, müssen sie legitim sein, das heißt Wahlen, bei denen ein Machtwechsel möglich ist und die den Willen der Mehrheit zum Ausdruck bringen.»

Chavismus mit neuen Handlungsspielräumen

Der Große Patriotische Pol mit der Regierungspartei PSUV erhielt gut 69 Prozent der Stimmen. Damit hat das Regierungsbündnis sogar über 90 Prozent der Sitze gewonnen, da das Mehrheitswahlrecht die großen Parteien bevorteilt.

Die Revolutionär-Populare Alternative (APR), angeführt von der Kommunistischen Partei Venezuelas (PCV), erreichte lediglich 2,7 Prozent. Die Strategie, sich von der Regierungspolitik abzugrenzen und damit Stimmen der unzufriedenen Chavist*innen einzusammeln, trug damit kaum Früchte.

Die PSUV gewann die Wahlen, verringerte aber ihre Wähler*innenschaft und offenbarte eine schwache Mobilisierungsfähigkeit. Auf der anderen Seite zeigen die Ergebnisse jedoch, dass der Chavismus sich trotz der tiefen Krise, die das Land durchlebt, als führende politische Kraft des Landes behauptet.

«Mit Blick auf die geopolitische Dimension des venezolanischen Konflikts kann die Regierung einen strategischen Sieg feiern. Da die Opposition in der Hoffnung, die US-Sanktionen würden Maduro stürzen, alles auf die Intervention der internationalen Gemeinschaft gesetzt hat, stehen die Ergebnisse nicht nur dafür, dass die Regierung die G-4-Opposition geschlagen hat, sondern auch die USA», sagt Antillano.

Die regierenden Chavist*innen verfügen in der neuen Nationalversammlung über eine qualifizierte Mehrheit, die je nach Art der Abstimmung bei drei Fünfteln (166 Sitze) oder zwei Dritteln der Mandate (185 Sitze) liegt. Damit können sie beispielsweise den Staatshaushalt oder eine Verfassungsreform verabschieden, sowie die Mitglieder der anderen Staatsgewalten6 wählen.

Opposition in Repräsentationskrise

Die Ergebnisse der Oppositionsparteien, die bei den Wahlen antraten, blieben weit unter ihren Erwartungen. Sie wollten die qualifizierte Mehrheit des Chavismus verhindern. Mit den 29,7 Prozent, die beide oppositionelle Bündnisse und einige unabhängige Parteien zusammen erreichten, ist dies nicht möglich. Im neuen Parlament verliert die Opposition jegliche Verhandlungsmacht, denn die Regierung ist nicht auf ihre Stimmen angewiesen.

Sowohl für Víctor Álvarez als auch die Historikerin Margarita López Maya7 liegt der Grund für die Krise der Repräsentation darin, dass sich die wichtigsten Führungspersönlichkeiten der G-4-Opposition von der Bevölkerung entfernt haben. Laut López Maya war es «die Strategie des Exils», die dazu führte, dass die unzufriedene Bevölkerungsmehrheit die Oppositionspolitiker*innen, die noch 2015 die Parlamentswahl gewonnen hatten, als weit entfernt wahrnahm. Álvarez weist darauf hin, dass der Wahlboykott die Opposition von der Stimmung im Land abkoppelte und sie ohne territoriale Struktur zurücklässt.

Mit einem Chavismus ohne Opposition wird jede Entscheidung ohne politische Debatte getroffen werden und dies wird die Regierungsarbeit, den Chavismus und das Land entpolitisieren.

Perspektiven: Zwischen Repräsentationskrise, Autoritarismus und einem großen nationalen Pakt

Mit einem Chavismus ohne Opposition «wird jede Entscheidung ohne politische Debatte getroffen werden. Und dies wird die Regierungsarbeit, den Chavismus und das Land entpolitisieren», erklärt Antillano. Die Wahlen hinterlassen eine in «politischer Depression» versunkene Gesellschaft, eine zersplitterte Opposition und einen auf sich selbst bezogenen Chavismus.

Laut Antillano werden innerhalb des Chavismus die demokratischen und autoritären Strömungen miteinander ringen. «Er könnte mit Teilen der Opposition verhandeln und so eine Öffnung herbeiführen. Er könnte aber auch an seiner Hegemonie, an der unangefochtenen Herrschaft ohne Opposition Geschmack finden.»

Venezuela könnte das russische Modell der 1990er Jahre annehmen: «Autoritarismus in der Politik, Liberalismus in der Wirtschaft, mit starken mafiösen und korrupten Tendenzen», so Antillano. Laut Álvarez würde dieses Modell mit einem Prozess der Öffnung, Liberalisierung und Privatisierung beginnen: «Durch die Öffnung der Staatsunternehmen für privates Kapital und den Schutz ihrer Investitionen hofft die Regierung, dass sich die transnationalen Ölkonzerne und ausländischen Investoren der internationalen Lobby gegenüber der US-Regierung anschließen werden, um die Aufhebung der Sanktionen zu fordern».

Der demokratische Impuls des Chavismus, der offen für den Dialog ist, könne nur durch die demokratischen Sektoren auf oberster Regierungsebene verwirklicht werden, so Antillano. Dieser Wille zum Dialog könnte dem politischen Kalkül entspringen, dass er angesichts seiner Legitimationskrise verhandeln muss und jetzt in der besten Position ist, dies zu tun. Das «größte Imperium der Welt» politisch besiegt zu haben, könnte ihm erlauben, die Verhandlungen weit weniger erpresserisch als bisher wahrzunehmen, als «alle Optionen, auch die militärischen, auf dem Tisch» lagen.

Die internationale Gemeinschaft

Im Januar 2021, wenn der Chavismus das venezolanische Parlament kontrollieren wird, Guaidó ohne institutionellen Rückhalt dasteht und Joe Biden das Weiße Haus übernimmt, ist es wahrscheinlich, dass die internationale Gemeinschaft ihre Strategie ändern wird.

Für Michael Penfold «werden wir eine internationale Gemeinschaft – insbesondere Europa und die USA – sehen, die enger zusammenarbeitet, um eine institutionelle Lösung anzustreben – und die Abkehr von Akteuren, die einen Regime Change fordern».

Víctor Álvarez skizziert, dass sich die Regierung Biden darauf konzentrieren wird, einen neuen Gesprächspartner zu finden. Dieser müsste von den Streitkräften anerkannt werden und glaubwürdige Wahlen für eine neue Regierung aushandeln können, ohne den Rücktritt Maduros erzwingen oder eine Übergangsregierung installieren zu müssen.

Andrés Antillano meint, dass «Biden, wenn er sich des Themas annimmt, dies entweder durch die Beziehung zu Kuba oder multilateral tun wird.» Dies könne in einer Allianz mit Europa und mit progressiven Regierungen in Lateinamerika wie Mexiko und Argentinien geschehen.

Ein progressives Szenario: schrittweise Verhandlungen und ein Pakt der Regierbarkeit

Für López Maya «müssen wir das Nullsummenspiel hinter uns lassen, aus der Strategie der Polarisierung aussteigen und eher zu kurz-, mittel- und langfristigen Strategien übergehen. Diese bedeuten kleine Vereinbarungen zur Lösung einiger Probleme, um die Institutionen der venezolanischen Demokratie zu retten und schließlich zu einem Wahlprozess unter guten Bedingungen überzugehen.»

Für Andrés Antillano wäre es am effektivsten, auf ein großes Abkommen oder einen Pakt der Regierbarkeit hinzuarbeiten. «Unabhängig davon, wer an der Macht ist, gibt es hier Dinge, die unantastbar sind: eine gemischte Wirtschaft, soziale und kollektive Rechte, Menschenrechte, die repräsentative Demokratie, aber auch Formen der partizipativen Demokratie, Souveränität über die natürlichen Ressourcen, Respekt und Anerkennung der politischen Kräfte».

Laut Antillano könnte dies ein interessantes Angebot für den Chavismus sein, denn «die Macht zu verlieren, würde nicht die Vernichtung der politischen Kraft bedeuten und auch nicht die Demontage all dessen, was diese Jahre bedeutet haben».

 
Es handelt sich um eine leicht gekürzte und bearbeitete Version des spanischen Artikels, der am 10.12. auf der Website des Andenbüros erschienen ist: www.rosalux.org.ec/el-nuevo-parlamento-venezolano/. Übersetzung: Tobias Lambert


1 Die 2017 ohne Beteiligung der Opposition gewählte Versammlung fungierte als regierungsnahes Gegenparlament. Eine neue Verfassung arbeitete sie nicht aus. Sie soll mit dem Zusammentreten des neuen Parlaments aufgelöst werden.

2 Politikprofessor an Universitäten in Kolumbien, Paris und den USA. Wirtschaftlicher Berater von multilateralen Organisationen und Nichtregierungsorganisationen. Dient der venezolanischen Opposition als Referenz.

3 Soziologin, Medienanalystin und Professorin an der Katholischen Universität Andrés Bello. Innerhalb des Chavismus anerkannte Beobachterin, die sich für einen sozialen Dialog zwischen chavistischen und oppositionellen Sektoren einsetzt.

4 Ökonom. Ex-Minister für Grundstoffindustrien und Bergbau unter Hugo Chávez (2005-2006). Nationaler Wissenschaftspreis 2013. Ist heute ein Kritiker der Regierung.

5 Sozialpsychologe, Kriminologe, Dozent an der Zentraluniversität Venezuelas (UCV). Linker Basisaktivist in Venezuela.

6 Venezuela besitzt laut Verfassung insgesamt fünf Staatsgewalten. Neben Exekutive, Legislative und Judikative sind dies die Bürgergewalt, zu deren Hauptaufgaben die Vorbeugung, Untersuchung und Bestrafung von Verwaltungsdelikten gehört, sowie die Wahlgewalt in Form des Nationalen Wahlrates (Anm. d. Übers.).

7 Historikerin und Doktorin der Sozialwissenschaften an der Zentraluniversität Venezuelas (UCV). Professorin i.R. Des Zentrums für Entwicklungsstudien (CENDES) der UCV. Anerkannte Forscherin zu Demokratie und Partizipation in Venezuela, der Regierung gegenüber kritisch.