Nachricht | Rassismus / Neonazismus - Migration / Flucht - Türkei Rassismus? Frag mich mal! Teil 2 der Interviewreihe

In Deutschland geborene und/oder dort lebende Menschen berichten von ihren Erfahrungen mit Rassismus

Information

Autorin

Gamze Kafar,

Ich kann weder meine Hautfarbe, meinen Geburtsort oder gar die mir zugewiesene Religionszugehörigkeit im Voraus bestimmen. Auch für euch, die Leser*innen dieser Zeilen, gilt das. Rassismus ist eine faule Frucht, die auf rechtem Gedankengut gedeiht. Er ist eine Gesinnung, die wie faules Obst nichts und niemandem von Nutzen ist. Zu behaupten, dass irgendetwas außer den denkfähigen Tieren rassistisch sein könne, ist auch einfach nur absurd.

Gamze Kafar arbeitete für die kurdische, ausschließlich mit Frauen besetzte Nachrichtenagentur JINHA, welche 2016 durch die türkische Regierung geschlossen wurde. Von 2015 bis 2018 berichtete Gamze Kafar über den Konflikt in Nordsyrien. 2018 zog sie nach Berlin und arbeitet weiter als Journalistin.

Rassismus ist eine Tragödie bar jeder Komik. Zu viele Menschen sterben an den physischen und psychischen Auswirkungen rassistischer Angriffe. Durch den rassistischen Anschlag in Hanau im Februar 2020 kamen neun Menschen ums Leben. In der deutschen Presse nannte man diesen Anschlag «Shisha-Bar-Morde». Die Betonung auf «Shisha-Bar» sollte den Anschlag in gewisser Weise rechtfertigen. Der versteckte Rassismus darin ist überaus gefährlich. Einige Schlagzeilen vermieden sogar bewusst die Bezeichnung rechtsterroristischer Anschlag, indem sie auf die psychische Störung des Attentäters hinwiesen. Ein nationaler Trauertag nach den Anschlägen blieb aus. Es sind Menschen gestorben. Es war nicht der erste rassistische Anschlag und wird auch nicht der letzte sein, wenn keine erforderlichen Maßnahmen getroffen werden.

Ein fester Bestandteil des Alltagslebens

Sibel Schick wurde 1985 in Antalya geboren und lebt seit 2009 in Deutschland. Seit 2016 arbeitet sie als freiberufliche Autorin, Journalistin und Social-Media-Redakteurin.

Sibel antwortete auf meine Frage, wie sie, im privaten als auch im öffentlichen Raum mit Rassismus konfrontiert ist, wie folgt:

In Deutschland ist Rassismus ein fester Bestandteil des alltäglichen Lebens, daher ist man im privaten als auch im beruflichen Rahmen sehr häufig mit ihm konfrontiert. Als Frau, die als Autorin im Medienbereich arbeitet und in ihrer Zweitsprache schreibt, begegne ich einigen besonderen Schwierigkeiten. Diese Schwierigkeiten haben Weiße oder Menschen, die in Deutschland geboren sind, nicht.

Das Bildungssystem ist auf die Weißen ausgelegt

Zum Beispiel ist der Bewerbungsprozess, den du auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz durchlaufen musst, für weiße Deutsche konzipiert und stellt denjenigen, die nicht in Deutschland geboren sind, verschiedene Hürden in den Weg. Auch wenn du ein anderes Bildungssystem durchlaufen hast, ist das von vornherein ein Ausschlusskriterium und versagt oder erschwert dir in Deutschland automatisch das Recht auf Fortbildung. Im Rahmen der Bewerbung für eine journalistische Ausbildung zum Beispiel musst du eine Prüfung in allgemeinem Kulturwissen ablegen. Die Prüfung beinhaltet Fragen zur Literatur, die auf das hiesige Schulsystem ausgelegt sind. Diese Lektüren sind nicht Teil des Curriculums türkischer Schulen. Du bist also von vornherein im Nachteil.

Gezwungen, wachsam zu sein

Deine Freund*innen und Arbeitskolleg*innen können dir sehr seltsame Fragen stellen und seltsame Dinge zu dir sagen. Kommt Rassismus sowohl im Privat- als auch Berufsleben zusammen, kann das tiefe Wunden verursachen. Du bist ständigem Stress ausgesetzt, der dich dazu zwingt, unentwegt wachsam zu sein. Neben der Energie, die du aufbringen musst, um wie jeder Mensch im Alltag zu überleben, laugt dich der tägliche Kampf gegen Rassismus völlig aus. Toni Morrison sagte einst: «Die wichtigste Funktion des Rassismus ist Ablenkung: Er hält dich davon ab, deine Arbeit zu tun.» Du setzt deine ganze Energie dazu ein, dich vor Rassismus zu schützen, und hast dann Schwierigkeiten, Energie in anderen Bereichen deines Lebens aufzubringen. Deine Energie wird buchstäblich ausgesaugt.

Struktureller Rassismus in Deutschland

Die deutsche Gesellschaft ist von strukturellem Rassismus geprägt. Dies bedeutet nicht, dass alle Deutschen von Geburt an rassistisch sind, sondern hat damit zu tun, dass das Gesellschaftssystem in Deutschland rassistisch ist. Rassismus in Deutschland ist daher kein individuelles, sondern ein strukturelles Problem, das mit dem System zusammenhängt.

Gesellschaftliche Gewalt

Laut Studien sind deine Chancen auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt gering, wenn dein Name nicht deutsch klingt. Statistiken zeigen deutlich, dass ein Mensch wie ich in der deutschen Gesellschaft weniger wertgeschätzt wird als jemand, dessen Name zum Beispiel Jonas Schmidt ist. Das ist natürlich etwas, das sich auf all deine Lebensbereiche auswirkt. Und die Gewalt, der du ausgesetzt wirst, hat gesellschaftlichen Charakter.

Natürlich ist der Kampf gegen Rassismus in Deutschland unzureichend, denn das strukturelle Wesen des Rassismus hier wird geleugnet. So behauptete Bundesinnenminister Horst Seehofer vor laufenden Kameras zum Beispiel, bei der Polizei gäbe es keinen strukturellen Rassismus. Wenn ein Problem auf höchster Ebene geleugnet wird, kannst du es in den unteren Rängen nicht bekämpfen. Das Problem muss zuerst auf höchster Ebene anerkannt werden, und auch die Lösung dieses Problems muss dort ansetzen.

Rassismus schließt dich aus

Der strukturelle Rassismus schließt dich aus sämtlichen Entscheidungspositionen aus. Aufgrund seines systematischen Wesens wird dir diese Macht von vornherein nicht zuteil. Es ist ein Teufelskreis. Rassismus versagt dir jegliche Teilhabe, daher ist es völlig irrelevant, wie laut du «Rassismus!» schreist, deine Stimme wird nicht gehört. Du bist draußen, lebst in einer anderen Welt, existierst in einer anderen Dimension. Du lebst nicht mit ihnen in derselben Gesellschaft, du wirst an den Rand gedrängt und ausgegrenzt. Aus diesem Grund muss die Lösung des Problems zunächst im Inneren ansetzen.

 
Eine weitere Person, die über Rassismus berichten kann, ist Yiğit Yılmaz. Yiğit wurde in Istanbul geboren und zog nach dem Abitur im Alter von 19 Jahren nach Deutschland, um zu studieren. Er lebt nun seit sieben Jahren in Deutschland.

Als Türkeistämmige*r bist du automatisch Erdogan-Anhänger*in

Welche Erfahrungen hast du mit Rassismus in Deutschland – sowohl beruflich als auch privat – gemacht?

Zurzeit arbeite ich in einem Architekturbüro und wurde in diesem Metier bisher glücklicherweise nicht mit Rassismus konfrontiert. Ich kann auch nicht sagen, dass ich an der Universität rassistisch angefeindet worden wäre. Denn die Sphäre, in der ich mich bewege und beruflich tätig bin, ist international geprägt. Es sind Orte, wo Rassismus nicht so einfach an die Oberfläche treten kann. Was ich in Deutschland aber häufiger erlebe, ist, dass ich über Erdoğan ausgefragt werde, sobald von meiner Herkunft die Rede ist. Diese nervtötenden Leute gehen ganz automatisch davon aus, dass ich Erdoğan-Anhänger wäre, nur weil ich aus der Türkei stamme. Ich bin es allmählich leid, dieses Vorurteil ständig widerlegen zu müssen. Das ist in meinen Augen rassistisch, denn es ist ein systematisches Vorurteil.

Rassismus hat nicht nur etwas mit Nazis zu tun

Rassismus zeigt sich in Deutschland ganz anders als in anderen Ländern. In Deutschland wird Rassismus mit bestimmten Randgruppen in Verbindung gebracht, die die gesellschaftlichen Verhältnisse ablehnen. In den 90er Jahren waren das rechte Motorradgangs und Skinheads, heute sind es Corona-Leugner*innen, Wissenschaftsgegner*innen, Nazis und Verschwörungstheoretiker*innen. Jedoch ist die Behauptung, Rassismus wäre nur auf diese Gruppen beschränkt, völlig realitätsfern. Denn der deutsche Rassismus ist meiner Meinung nach passiv aggressiv. Deutschland glaubt, mit seiner Nazivergangenheit abgeschlossen und sich ausreichend mit ihr auseinandergesetzt zu haben. Aus diesem Grund fällt Rassismus für die deutsche Öffentlichkeit nur in diese Kategorien, und alles, was nicht in die Kategorie «Nazi» fällt, kann unmöglich rassistisch sein. Das ist ein großes Problem in Deutschland, denn Rassismus hat nicht nur etwas mit Nazis zu tun, sondern ist ein universelles Problem.

Rassistische Morde bleiben unaufgeklärt

Reichen die Maßnahmen oder der Kampf gegen Rassismus in Deutschland aus?

Sie reichen ganz und gar nicht aus. Deutschland hat vielleicht viel mehr geschafft als andere Länder, aber ob die Umsetzung gelungen ist, wage ich zu bezweifeln. Systematischer Rassismus grassiert immer noch und bringt Menschen um. Der Nationalsozialistische Untergrund hat zahlreiche rassistische Morde zu verantworten und dennoch wurden diese Morde bisher nicht vollständig aufgeklärt. Die Vorgehensweise der Polizei im Anschluss an diese Anschläge ist ein Paradebeispiel für Rassismus. Dass es sich hierbei um rassistisch motivierte Taten handelte, wurde nie öffentlich bekanntgegeben. Stattdessen wollte man diese Verbrechen mit Ehrenmorden, Sitten- und Drogenkriminalität in Verbindung bringen, und genau das führt uns deutlich vor Augen, wie die deutsche Öffentlichkeit mit Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund umgeht.

Nazistrukturen innerhalb des Staates

Zum Beispiel wurde beschlossen, dass die NSU-Akte 120 Jahre unter Verschluss bleibt. Nachdem jedoch der Regierungspräsident von Kassel, Walter Lübcke, von einem Rechtsextremisten ermordet wurde, verkürzte man die Geheimhaltungsfrist der Akte auf 30 Jahre. Diese Zahl sagt alles: Warum wird eine Akte so lange geheim gehalten, wenn es nichts zu verbergen gibt? Hier sehen wir auch, wie der Staat mit rassistischen Organisationen verfährt. Was gibt es denn zu verbergen? An der Gründung des deutschen Staates waren auch Nazis beteiligt. Nicht alle Nazis wurden vor Gericht verurteilt, denn damals waren beinahe alle Deutschen Nazis und genau das spiegelt sich in der heutigen Politik wider. Es gibt eine systematische und tief verwurzelte rassistische Struktur innerhalb des Staates.

 
[Übersetzung von Çiğdem Ücüncü und Utku Mogultay für Gegensatz Translation Collective]